Nachdem die Aufträge im Frühling eine Rekordhöhe erreicht haben, stehen Industrieunternehmen nun vor der Herausforderung, ausreichend Material für die Produktion zur Verfügung zu stellen. Das Problem: Es gibt Lieferengpässe bei Vorprodukten. Besonders die Automobil- und die Elektrobranche sind betroffen.
Im Mai 2021 verzeichneten vor allem Industrie, Bau und Energielieferanten einen Rückgang in der Produktion. Insgesamt wurden 0,3 Prozent weniger hergestellt als im Vormonat, erklärte das Bundeswirtschaftsministerium. Im April war die Produktion der Deutschen sogar um ein Prozent zurückgegangen und somit weitaus mehr, als Experten zunächst vorausgesagt hatten. Der Grund für den Rückgang ist ein Mangel an Produktionsteilen wie Halbleitern und Bauholz, der die Produktionskette in den Unternehmen unterbricht. Laut einer Umfrage des Ifo-Instituts klagen rund zwei Drittel der deutschen Industrieunternehmen über Materialengpässe und Probleme bei der Lieferung von Vorprodukten. Von April bis Juli 2021 stieg der Anteil der betroffenen Betriebe von 45 auf knapp 64 Prozent. „Bereits im Vorquartal meldeten die Unternehmen einen Rekordwert, dieser wurde nochmals deutlich übertroffen“, teilte der Leiter des Ifo-Instituts, Klaus Wohlrabe, mit und fügte hinzu: „Das könnte zu einer Gefahr für den Aufschwung werden.“
Aufgrund des Materialmangels stiegen die Preise für den Einkauf stark an. „Derzeit bedienen die Hersteller die Nachfrage noch aus ihren Lagern an Fertigwaren. Aber die leeren sich nun auch zusehends, wie sie uns mitgeteilt haben“, so Wohlrabe. Die Auswirkungen auf die verschiedenen Sektoren variieren stark. Während der Ausstoß der Industrie nur um 0,7 Prozent sank, erlitt das Baugewerbe einen Rückgang von 4,3 Prozent. „Das ist angesichts des hohen Auftragsbestandes schon eine leichte Enttäuschung“, sagte LBBW-Ökonom Jens-Oliver Niklasch zu den aktuellen Konjunkturdaten. Auch sein Kollege Alexander Krüger vom Bankhaus Lampe ist verwundert: „Es ist schon paradox: Trotz prächtiger Auftragslage kommt die Produktion nicht in Fahrt. Einmal mehr zeigt sich, dass die Industrie noch von indirektem Pandemiedruck betroffen ist. Längere Lieferzeiten und Materialengpässe sind eigentlich Zeichen einer Hochkonjunktur, die derzeit aber gar nicht besteht.“
Der Grund für die vollen Auftragsbücher ist nicht zwangsläufig ein Anstieg der Nachfrage. Tatsächlich waren die neu eingegangenen Industrieaufträge im Mai gegenüber April 2021 sogar deutlich zurückgegangen. Hintergrund sind die Lieferengpässe von Vorprodukten wie Halbleitern, die die Produktionskette verlangsamten und somit die Aufarbeitung der Auftragsbestände verhinderten. Die Folge: Die Auftragsbücher haben neben einigen wenigen neuen Aufträgen vor allem viele Aufträge, die seit Monaten darauf warten bearbeitet zu werden. Laut Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank, schlage die Materialknappheit voll durch. „Solch eine Konstellation sucht ihresgleichen. Die Auftragsbücher der Industrie sind gut gefüllt und die Produktion gibt nach.“ Ähnlicher Ansicht ist Nils Jannsen. Laut dem Leiter Konjunktur Deutschland am Institut für Weltwirtschaft Kiel seien die Lieferengpässe ein Hauptproblem, da die Unternehmen bereits seit einigen Monaten die hohen Auftragseingänge nicht vollständig abarbeiten können. Sieben Monate beträgt die Reichweite des Auftragsbestands. Das bedeutet, dass die Betriebe bei gleichbleibendem Umsatz ohne neue Bestellungen sieben Monate produzieren müssten, um die vorhandene Nachfrage zu bearbeiten.
„Die Industrie tritt auf der Stelle“, erklärte Niklasch. Doch der Volkswirt ist positiv eingestellt: „Das ist nicht erfreulich, aber angesichts der Situation mit den Berichten von Lieferengpässen in einigen Bereichen wiederum kein Beinbruch.“ Ähnlich sieht es das Bundeswirtschaftsministerium: „Der Ausblick für die Industriekonjunktur insgesamt bleibt aber positiv angesichts einer nach wie vor hohen Nachfrage sowie deutlicher Verbesserungen beim Geschäftsklima und den Exporterwartungen.“ Den Rückgang begründete das Ministerium damit, dass es vor allem in der Automobilbranche zu Versorgungsengpässen mit Halbleitern kam. Die Industriekonjunktur ist weiterhin positiv.
Trotz des Lieferengpasses und der verzögerten Produktion verzeichnet die deutsche Industrie deutlich bessere Zahlen als noch im Vorjahr. Einer der Hauptgründe ist das wachsende Auslandsgeschäft. Vor allem die USA und China versprechen für die wichtigsten Exportkunden von deutschen Unternehmen eine wirtschaftliche Erholung, die nach dem schweren Jahr 2020 dringend gebraucht wird.