Die europäischen Länder sind in den vergangenen Jahrzehnten enger zusammengerückt, insbesondere in der Europäischen Union. Es ist ihr vitales gegenseitiges Interesse, über nationale Grenzen hinauszugehen, um das Potenzial einer Gemeinschaft mit mehr als 500 Millionen Menschen zu nutzen, die eine ganz eigene Ausrichtung bietet. Während bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit enorme Fortschritte erzielt wurden, ging die politische Harmonisierung weniger stark voran, da die Debatten manchmal sogar den Zusammenhalt ernsthaft belasteten. Manchmal liegt dies an Egoismen, in anderen Fällen ist dies das Ergebnis einer grundlegend anderen Kulturgeschichte. Obwohl es nicht unbedingt ein schlechter Gedanke ist, regionale kulturelle Unterschiede anzuerkennen, scheinen einige Besonderheiten auf den ersten Blick wenig sinnvoll zu sein.
Zunächst einmal ist es kaum verständlich, warum sich die Europäer vor dem Hintergrund der rekordtiefen Zinssätze generell so ungern mit Anlagethemen befassen – obwohl die Zinsen bereits seit geraumer Zeit so niedrig sind und wahrscheinlich auch nicht so schnell steigen werden, wenn überhaupt in absehbarer Zeit.
Es ist auch interessant, wie heterogen das Bild in ganz Europa ist, wenn es darum geht, Alternativen zum Sparen zwecks Schaffung von Wohlstand zu suchen. In Deutschland beispielsweise, Europas größter Volkswirtschaft, ist das Verhältnis der Aktienbesitzer zur Gesamtbevölkerung überraschend gering. Nur etwa 15 Prozent der Deutschen besitzen Aktien; zieht man die Investitionen in Fonds ab, beträgt die Quote sogar weniger als die Hälfte dieses Prozentsatzes. Gleiches gilt für Österreich. Beide Länder werden vom Pro-Kopf-BIP und der insgesamt niedrigen Verschuldung her als recht reiche Länder angesehen. Ist es daher nicht verständlich anzunehmen, dass ein Verzicht auf eine Aktienanlage keine gute Idee ist? Schauen wir uns andere Länder an: Italien ist zwar insgesamt etwas weniger risikoavers, weist jedoch ein ähnlich geringes Engagement in Aktienanlagen auf. Die Briten hingegen sind deutlich risikobereiter, und die Niederlande – ebenfalls als ein wohlhabendes Land bezeichnet – gehören zu den Weltmeistern bei Aktieninvestitionen. Es gibt jedoch keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Investitionstätigkeit eines Landes und seiner Einkommensentwicklung. Manchmal scheint sogar ein bestimmtes Muster für ein Land typisch zu sein, aber dann wiederum zeigt es sich, dass innerhalb dieses einzelnen Landes eine große Heterogenität besteht.
Eine Trennlinie jedoch, die sinnvoll erscheint, kann im Hinblick auf die jeweilige Motivation hinter einem bestimmten Verhalten gezogen werden. Das heißt, das höchste Anlageziel derjenigen Europäer, die keine Aktien kaufen, ist der Verlust von Geld. Das mag sehr trivial klingen, wird aber schwerwiegender, wenn man bedenkt, dass diese Menschen nicht bereit sind, dieses Verhalten zu ändern, selbst wenn ihnen wissenschaftliche Beweise vorgelegt werden, dass die Vermeidung von Investitionen in Kapitalmärkte zum Verpassen beträchtlicher Gewinne führte, die Aktien im Laufe der Zeit historisch geboten haben.
Ein weiteres bemerkenswertes Phänomen ist, dass Menschen, die sich einst völlig von Aktien ferngehalten haben und dann zu investieren begannen, grundlegende Anlageregeln vollkommen ignorierten. Infolgedessen verlieren die meisten von ihnen ihre Wetten – ich verwende das Wort „Wetten“ bewusst – und wenden sich für den Rest ihres Lebens von Investitionen ab. Traurige Geschichten über das Schicksal von Menschen, die 100 Prozent ihrer Ersparnisse oder ihres Erbes in ein Unternehmen stecken, um alles zu verlieren, wirken deutlich stärker als jede Berechnung der Opportunitätskosten, wenn sie passiv geblieben sind – selbst wenn man keine durchschnittlichen, sondern nur minimale Zuwachsraten zugrundelegt.
Was uns das lehrt, ist, dass wir gezieltere Informationen und Aufklärung durch die Regierungen und die Finanzindustrie benötigen – nicht nur im Hinblick auf Risikomanagement und Diversifizierung, sondern auch darauf, wie wir frühzeitig investieren können, um einen Notgroschen für den Ruhestand oder für andere finanzielle Zwecke zu erwirtschaften.
Auf der Regulierungsseite haben die europäischen politischen Entscheidungsträger Monopole aufgelöst und Maßnahmen zur Harmonisierung der Regulierung von Wertpapierdienstleistungen in der gesamten EU eingeführt, um Privatanlegern mehr Transparenz, Zuverlässigkeit und Schutz zu bieten. Dieser andauernde Prozess sollte als Chance und nicht als Belastung angesehen werden.
Eine weitere wichtige Initiative ist der Aktionsplan der Europäischen Kommission zur „Capital Markets Union” (CMU) der EU, der die Erholung von der Wirtschaftskrise nach der Covid-19-Pandemie forcieren soll. Ein wesentlicher Bestandteil des im September eingeführten Plans besteht darin, sicherzustellen, dass Unternehmen Zugang zu Finanzierungsquellen haben und dass europäische Sparer das Vertrauen haben, in ihre Zukunft zu investieren. Angesichts des von mir angesprochenen etwas undifferenzierten Investitionsansatzes schätze ich insbesondere die CMU-bezogene Maßnahme, eine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten einzuführen, die Bildung in Finanzfragen zu fördern.
In der Tat besteht angesichts der anhaltenden Volatilität und Unsicherheit die Gefahr, dass viele Anleger sich aus dem Markt zurückziehen oder dass potenzielle Anleger zu viel Angst haben, in den Markt zu investieren. Daher erscheinen die Maßnahmen der EU zweckmäßig, wenn nicht überfällig.
Das transparente Orderbuch, die Transparenz vor und nach dem Handel sowie die umfassenden Liquiditäts-Angebote sind für Privatanleger in der Regel nicht zugänglich. Diese Aspekte können den Menschen helfen, ihre Zurückhaltung zu überwinden, wenn es darum geht, ihr Geld arbeiten zu lassen, wie oben beschrieben. Privatanleger können über Broker auf Plattform verbriefte Derivate auf Indizes, Rohstoffderivate und Währungspaare handeln. Dies deckt den Großteil der Märkte ab, die Privatanleger in Form von strukturierten Produkten handeln möchten.
Gastbeitrag von Tobias Stöhr, Börsenexperte bei Spectrum Markets.