Moral ist regelmäßig der Ausgangspunkt für Gesetzesvorhaben. Gesetze institutionalisieren, objektivieren und versachlichen Moral. Spannend daran ist: Das Gute muss nicht vom Guten herkommen. Das Gute kann auch das Ergebnis von etwas nicht-Gutem sein. Aus dem Anreiz etwas zu tun, von dem man vermutet, dass es nicht gut ist, wird eine Regel, die uns das Zusammenleben erst ermöglicht: Mord ist strafbar. Gesetze sorgen verbindlicher als Moral dafür, dass mehr oder weniger schmerzhafte Sanktionen bei Nichteinhaltung der festgeschriebenen Regeln verhängt werden können. Damit dieser Mechanismus seinen Sinn erfüllt, muss beim Regelungsgegenstand ein erwünschtes Verhalten gegeben sein, das erstens nachvollziehbar im Sinne von überprüfbar und zweitens sanktionsfähig ist. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass den Menschen, die durch ein Gesetz geschützt werden sollen, nicht mehr Schaden als Nutzen entsteht. Dazu dient eine Gesetzesfolgenabschätzung, die gemäß §44 Abs.1 GGO durchzuführen ist. Unser Umgang mit der Corona-Pandemie könnte ein Hinweis darauf sein, dass das moralische Argument dazu angetan ist, diese an sich sinnvolle Idee auszuhebeln, §44 Abs.1 GGO geflissentlich zu ignorieren und massive Eingriffe in Grundrechte zu rechtfertigen.
„Rechtlich schwer umsetzbar“ scheint es nicht mehr zu geben
Intensiv und in vielen Formaten wird rege diskutiert, wie es gelingt, die Transformation vom „Vor-Corona“ ins Hier und Jetzt zu vollziehen. Was mir fehlt ist eine deutlich intensivere Debatte darüber, wie wir vom Hier und Jetzt ins „Nach-Corona“ kommen wollen. Das gilt für unsere Führungskonzepte und unsere Unternehmenskultur, also für die Frage, wie wir künftig miteinander umgehen, miteinander arbeiten wollen. Das gilt aber auch für unsere Wirtschaft insgesamt: Einige Geschäftsmodelle haben sich in der Krise bewährt, andere dagegen sind in eine bedenkliche Schieflage geraten. In einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur DPA Mitte Januar zu diesem Thema habe ich angemerkt, dass es in Kürze darauf ankommen wird, mit guten Konzepten die Menschen vom Bildschirm wegzuholen und sie dazu zu bewegen, wieder in den Innenstädten einzukaufen. Meine konkrete Idee analog zur gängigen Praxis in Frankreich war, die Nachfrage in den Städten zu unterstützen, indem unterschiedliche Mehrwertsteuersätze angesetzt werden: einen niedrigeren für das Einkaufen im Laden, einen höheren für Lieferungen. Eine Replik, die ich daraufhin von einem Leser des Beitrags in der FAZ erhielt, lautete: „Das dürfte rechtlich schwer umsetzbar sein“. Dieser Einwand, den ich vor Corona noch für berechtigt gehalten hätte, überzeugt mich zwischenzeitlich nicht mehr. Vielmehr frage ich mich angesichts der massiven Eingriffe in unsere Grund- und Freiheitsrechte, was überhaupt noch „rechtlich schwer umsetzbar“ ist.
Unser Verhältnis zur Moral ist paradox
Aus jeder Krise folgt etwas.2007/2008 war es ein Mehr an Regulatorik und eine seitdem deutlich engere Führung der Menschen – auch über Compliance. Durch den massiven Auf- und Ausbau institutionalisierter Regularien haben wir letztlich auch unser Misstrauen gegenüber der Moral, also ethisch konnotierten Grundsätzen und Werten, auf die wir uns in unserer Gemeinschaft verständigt haben, zum Ausdruck gebracht. Weil wir vermuten, dass Moral alleine nicht ausreichend sein könnte, Menschen daran zu hindern von der Norm abzuweichen, haben wir Compliance Management-Systeme etabliert. Damit haben wir zugleich einen Wert wie „Verantwortung“ umgedeutet. Statt eine Situation zu beurteilen, abzuwägen und zu einer ausgewogenen, autonomen Entscheidung zu kommen, für die Konsequenzen des eigenen Handelns einzustehen und somit Verantwortung zu übernehmen, wird von uns erwartet, dass wir Compliance-Regeln anerkennen und befolgen. Letztlich haben wir damit die Übernahme von Eigenverantwortung an ein System, das Compliance Management-System, delegiert. Wie sich an Beispielen wie Wirecard zeigt, sind auch derartige Konstruktionen zwangsläufig unzureichend wenn es darum geht jemanden, der betrügen möchte daran zu hindern, genau das zu tun. Es muss also noch etwas hinzukommen: Die „richtige“ moralische Einstellung.
In der aktuellen Krise, der Corona-Pandemie, wird ganz besonders deutlich, wie paradox unser Verhältnis zur Moral ist: Einerseits trauen wir ihr nicht über den Weg und versuchen mit zusätzlichen Vorschriften und Regeln auf Nummer sicher zu gehen. Andererseits gewinnt Moral zunehmend an Bedeutung, weil wir während der Corona-Pandemie zwangsläufig auf Distanz setzen müssen und Kontrolle immer weniger möglich ist. Wir wollen uns auf die richtige Haltung verlassen können, tun genau das aber nicht. Wir befinden uns in einem Dilemma, das wir auf die denkbar unglücklichste Art und Weise versuchen aufzulösen. Der Appell an die Moral wird zum ersten Mittel der Wahl, wenn wir möchten, dass jemand sich so verhält wie wir es uns wünschen. Nur am Rande sei bemerkt, dass niemand die Moral mit dem Löffel gefressen hat: Wenn ich an die Moral eines Menschen appelliere, von ihm verlange, dass er sich fair, gerecht oder verantwortungsbewusst verhält, dann sollte ich nicht so tun, als spräche ich für uns alle. Vielmehr adressiere ich in erster Linie meine eigene Erwartungshaltung. Das gilt sowohl für ein Individuum als auch für eine Institution wie die Politik.
Bei Moral geht nur ganz oder gar nicht. Das lässt sich gut ausnutzen
Werte wie Verantwortung und Vernunft funktionieren sowohl binär als auch absolut. Ich kann nicht ein bisschen vernünftig sein oder ein wenig Verantwortung übernehmen. Entweder ganz oder gar nicht. Entweder ich bin vernünftig oder unvernünftig, verantwortungsbewusst oder verantwortungslos. Mehr noch: wer erst aufgefordert werden muss, sich verantwortungsbewusst zu verhalten, der steht bereits mit einem Bein im „falschen“ Lager. Diesen Mechanismus macht sich unter anderem die Politik zunutze. Der bayerische Ministerpräsident Söder spricht sich dafür aus, dass wir die Vernünftigen vor den Unvernünftigen schützen. Wer möchte schon zu den Unvernünftigen gehören, und das, wenn es um das Leben von Menschen geht, die von den Vernünftigen zu einer Verhaltensänderung aufgefordert werden müssen? Ein Mitglied des Ethikrats, einer von der Bundesregierung und dem Bundesrat eingesetzten Beratungsinstanz für die Politik fordert, dass Maskenverweigerer im Krankheitsfall auf ein Beatmungsgerät verzichten sollen. Hier zeigt sich nicht nur, wie lebendig das biblische Narrativ „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ nach wie vor ist. Vielmehr machen beide Beispiele bewusst, dass zwei Seiten gegeneinander ausgespielt werden, indem unausgesprochen im Raum steht, ich könnte verantwortlich dafür sein, dass ein anderer Mensch durch mein Fehlverhalten Schaden nimmt. Im Ergebnis ist es gar nicht mehr nötig, diesen Vorwurf offen auszusprechen. Er schwingt automatisch mit. Damit ist Moral auch dazu angetan, einen Keil mitten durch unsere Gesellschaft zu treiben – unter anderem mit dem Ergebnis, dass sich unsere Parteienlandschaft entsprechend erweitert und ein an der Sache orientierter, konstruktiver Diskurs in der Politik mehr und mehr dem moralischen Postulat weicht.
Moral kann unser Rechtsstaatsprinzip gefährden
Der Soziologe Niklas Luhmann hat aus meiner Sicht richtigerweise festgestellt, dass wir zunehmend dazu übergehen, Furcht in Angst und Gefahren in Risiken zu verwandeln. Furcht ist demnach ein überaus gesundes Gefühl, das uns dazu bringt, im Angesicht einer konkreten Gefahr schnellstens den Rückzug anzutreten. Angst ist demgegenüber irrational, weil unkonkret. Angst richtet sich auf die Erwartung, dass eine bestimmte Situation in der Zukunft eintreten könnte. Dasselbe trifft auf Risiken zu. Ein Gewitter während eines Waldspaziergangs ist eine konkrete Gefahr. Ein Risiko vermeide ich, indem ich gar nicht erst vor die Tür gehe. Auch diese Mechanismen spielen in der aktuellen Corona-Pandemie eine Rolle – und werden aktiv genutzt. Der Bundespräsident lud vor einigen Wochen vier Menschen ein, die einen schweren Verlauf einer Corona-Erkrankung erlebt hatten und im Fernsehen darüber berichteten. Ausgewogen, im Sinne von Aufklärung, wäre diese Sendung dann gewesen, wenn der Bundespräsident auch vier Menschen mit leichteren Verläufen eingeladen hätte. Dass dies nicht passiert ist, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass wir der Vernunft und dem Selbsterhaltungstrieb des Einzelnen keinen Raum geben wollen. Dieses Risiko wird als zu groß eingeschätzt. Die Strategie, eine Verhaltensänderung herbeizuführen, indem ich Menschen ängstige, indem ich das moralische Argument bemühe, statt sachlich zu informieren und aufzuklären, bringt – vielleicht- vordergründig das gewünschte Ergebnis. Ob in den Köpfen und in den Herzen der Menschen und insgesamt in unserer Gemeinschaft damit eine gute Basis für Kooperation, Innovation und Veränderungsbereitschaft geschaffen wird, die wir insbesondere angesichts der durch COVID-19 bereits eingetretenen und noch zu erwartenden Neuordnung vieler, gesellschaftlich relevanter Bereiche dringend brauchen, wage ich zu bezweifeln.
Durch Regeln und deren Verbindlichkeit in einer Gemeinschaft verkleinern wir unsere Angst, übervorteilt oder benachteiligt, bestohlen, belogen oder umgebracht zu werden. Wenn Regeln zu stark moralisch konnotiert sind, die Einhaltung von Regeln durch das moralische statt durch das sachliche Argument erreicht werden soll und die aufgestellten Regeln als unlogisch empfunden werden, wächst das Gefühl bevormundet zu werden. Das erzeugt unweigerlich gleichermaßen irrationalen Widerspruch und mündet in Verschwörungserzählungen. Es wäre interessant, zu erforschen, ab welchem Punkt Moral nicht mehr den gewünschten Effekt erzielt, sondern in Protest umschlägt – und unser Rechtsstaatsprinzip gefährdet.