Armenien und Aserbaidschan haben sich mithilfe russischer Vermittlung auf eine Waffenruhe im umkämpften Gebiet Bergkarabach geeinigt. Nach wochenlangen schweren Kämpfen muss jetzt Armenien sein erstes Gebiet an den Feind übergeben, denn das Abkommen über den Waffenstillstand sieht vor, dass jedes Land die Gebiete behalten darf, die es momentan kontrolliert. Wie die Zeit berichtet, bedeutet das vor allem für Armenien „große Gebietsverluste“.
Armenien muss somit das Gebiet Kelbadschar abtreten. Die Bewohner*innen des Gebietes zünden dort nun teilweise ihre Häuser an, um den gegnerischen Truppen Aserbaidschans nichts zu überlassen. Die Menschen aus Kelbadschar fliehen in die Gebiete, die von Armenien noch übriggeblieben sind, und nehmen alles mit was in ihre Autos passt. Russische Truppen und Panzer mit der Aufschrift Friedenstruppen haben sich bereits in den Gebieten eingefunden und sollen die Durchfahrt der Armenier*innen schützen, so der Spiegel. Der Kommandeur der Truppen Rustam Muradow erklärt: „Wir hören heute keine Schüsse. Die Situation stabilisiert sich langsam.“
Viele Bewohner und Bewohnerinnen von Kelbadschar besuchen noch ein letztes Mal das berühmte Kloster Dadivank, welches um 1214 erbaut wurde. Dort zünden sie Kerzen an und gedenken der Opfer, aber zeigen sich auch weiterhin widerstandsfähig und sind fest davon entschlossen das Kloster nicht kampflos Aserbaidschan zu überlassen. Es wurden kunstvolle Kreuzsteine aus der Wand gebrochen und der Vorsteher des Klosters Vater Hovhannes Hovhannisian erklärt, dass er dort bleibe, egal was passiert: „Notfalls bis zu meinem Ende. Für Gott ist nichts unmöglich.“ Er war einer der ersten Armenier, die nach dem Krieg 1993 in das Kloster zurückgekehrt sind und beim Wiederaufbau geholfen haben, so der Spiegel. Kelbadschar ist nicht das einzige Gebiet, das Armenien abtreten muss. Auch die Bezirke Aghdam und Laschin sollen laut dem Übereinkommen an Aserbaidschan abgegeben werden.
Laut Angaben der Zeit steht der armenische Premierminister Nikol Paschinjan nach Zustimmung zur Waffenruhe unter Schutz der Behörden und des Geheimdienstes. Der Geheimdienst NSS gab bekannt, dass sie bereits einen Anschlag auf ihn verhindern konnten. Er wird stark von armenischer Seite kritisiert, da er dem Abkommen zugestimmt hat, welches jetzt tausenden Armenier*innen die Existenzgrundlage kostet. Paschinjan selber wollte, dass der Krieg endlich zu Ende ist und hat somit der „unaussprechlich schmerzhaften“ Vereinbarung nachgegeben. Daraufhin gingen hunderte Armenier*innen auf die Straßen und stürmten den „Regierungssitz und das Parlament“, wie die Tagesschau schreibt. Nikol Paschinjan wurde als „Verräter“ betitelt, doch einige Stimmen schlagen sich auch auf seine Seite. Araik Harutjunjan, der Präsident von Bergkarabach bestärkte die Entscheidung des Premierministers und erklärte, dass durch das Friedensübereinkommen die Einnahme von weiteren Gebieten durch Aserbaidschan und weitere Terrorakte verhindert wurden.
Wie viele Menschen tatsächlich ihr Leben in diesem Krieg lassen mussten ist noch nicht ganz klar. Armenien und Aserbaidschan haben sich gegenseitig unter der Aufsicht der russischen Truppen einige gefallene Soldaten übergeben. Laut den Behörden gab es in Karabach rund 1.383 Tote, das armenische Gesundheitsministerium erklärte allerdings, dass bereits 2.300 Leichen forensisch untersucht worden sind. Der Politologe Alexander Iskandaryan erklärte der Welt, was für Auswirkungen das Friedensabkommen noch haben wird: „Die Niederlage droht das Land zu zerreißen. Der Kampf um Bergkarabach war für das armenische Selbstverständnis in den letzten dreißig Jahren zentral. Nun ist das Land in seinen Grundfesten erschüttert“.
Russland und die Türkei sprechen derzeit über ein Zentrum zur Überwachung der Waffenruhe in Armenien. Die Türkei ist ein enger Verbündeter Aserbaidschans und hat laut der Tagesschau „nicht offiziell, aber verdeckt – zu dessen Sieg beigetragen“. Der Sieg Aserbaidschans über Armenien bringt auch einen großen Vorteil für die Türkei mit sich, denn so kann sich die Türkei einen „Korridor von Aserbaidschan zu seiner Exklave Nachitschewan“ bilden, so die Zeit. Die Türkei erhält somit außerdem einen Zugang zum Kaspischen Meer. Silvia Stöber, Autorin für die Tagesschau, kritisiert diesen Machtkampf extrem: „Russland und die Türkei verfolgen damit im Südkaukasus eine Machtpolitik wie zuletzt zu Beginn des 20. Jahrhunderts – damals wie heute auf Kosten der Einwohner und mit dem Risiko, die politische Stabilität in der Region dauerhaft zu gefährden.“ Es ist eher unwahrscheinlich, dass Armenien und Aserbaidschan ab jetzt in Frieden miteinander leben werden, denn der Krieg mag vorerst gestoppt sein, aber die Anspannung zwischen den beiden Ländern und der Kampf zwischen der Türkei und Russland bleibt vorerst bestehen.