Weniger als 24 Stunden nachdem in der US-Wahlnacht die ersten Stimmzettel ausgezählt wurden, hatten die Medien und die politische Klasse bereits einen zum Verlierer erklärt: die Wahl selbst.
„Verheerend für meine Branche“, so beschrieb ein republikanischer Meinungsforscher das Wahlergebnis. „Das Wahlsystem scheint unwiderruflich kaputt zu sein, oder zumindest unser Verständnis davon, wie ernst es zu nehmen ist“, schrieb Margaret Sullivan, eine Medienkolumnistin der Washington Post.
Das Magazin Politico ging sogar noch weiter: „Die Meinungsforschungsbranche ist ein Wrack und sollte in die Luft gesprengt werden.“ Haben sie Recht?
Nach der Wahl 2016 widersetzten sich viele Meinungsforscher der landläufigen Meinung, ihre Branche stecke in der Krise: Vor der US-Wahl prognostizierten die Umfragen, dass Hillary Clinton die Abstimmung um knapp vier Prozentpunkte gewinnen würde. Für gewöhnlich werden die amerikanischen Wahlen von den Swing-Staaten entschieden. Für das Repräsentantenhaus sagten viele Analysten voraus, dass die Demokraten ihre Mehrheit behalten oder sie sogar um 5 bis 15 Sitze vergrößern würden. Jedoch haben nach der Wahl die Demokraten ihre Mehrheit behalten, aber sechs Sitze verloren. Zudem behielt die republikanische Senatorin Susan Collins aus Maine ihren Sitz, was seit Juli 2020 in keiner einzigen Umfrage auch nur angedeutet wurde.
Fakt ist: Umfragen sind sehr fehleranfällig. Auch bei der Präsidentschaftswahl gab es erhebliche Widersprüche: In Florida lag Joe Biden in den Umfragen im Durchschnitt 2,5 Punkte vor Donald Trump. Schließlich verlor Biden den Staat um mehr als drei Punkte. Auch in Ohio lag Präsident Trump in den Umfragen mit weniger als einem Punkt Vorsprung vorn, doch dann gewann er sogar mit acht Punkten.
„Ganz gleich, wer das Präsidentschaftsrennen gewinnt, es ist klar, dass die überwiegende Mehrheit der Wähler die Wählerschaft von Trump einmal mehr unterschätzt hat“, schreibt Nathan L. Gonzales, Herausgeber des Newsletters Inside Elections.
Ein Misserfolg oder ein Missverständnis?
Viele Meinungsforscher sind der Meinung, dass die allgemeine Frustration über ihren Beruf weniger auf einen Misserfolg bei den Umfragen selbst zurückzuführen ist als auf ein allgemeines Missverständnis über ihren Zweck und ihre Bedeutung im politischen Diskurs. Wie Courtney Kennedy, die Leiterin der Umfrageforschung am Pew Research Center, festgestellt hat, können Umfragen recht nützlich sein, um herauszufinden, was das gesamte Volk über politische Fragen denkt. Es kann passieren, dass die Fehlerquote bei den Umfragen um ungefähr drei bis vier Prozent abweicht – eine mittelmäßige Fehlerquote, die im Branchendurchschnitt nicht besonders auffällig ist.
Das Problem, schreibt Zeynep Tufekci in der New York Times, besteht darin, dass Produzenten und Konsumenten politischer Medien die Meinungsumfrage nicht mehr als ein potenziell verschwommenes Abbild der öffentlichen Meinung betrachten, sondern als ein Mittel, um die Zukunft vorherzusagen.
Es spricht einiges dafür, dass die Unterscheidung zwischen Umfragen, die eine Momentaufnahme sind, und Modellen, die sich mit Wahrscheinlichkeiten befassen, nicht von der Öffentlichkeit verstanden werden oder welche von den Medien schlecht kommuniziert werden. Aber Tufekci argumentiert, dass das Problem tiefer liegt, als nur ein Kommunikationsversagen zu sein. Bei der Wettervorhersage sind sowohl die grundlegenden Annahmen (die Wissenschaft der atmosphärischen Dynamik) als auch die Messungen (jahrelange, detaillierte Daten von einer großen Anzahl von Beobachtungsstationen) hoch entwickelt. Aber in der Politik „haben wir einfach nichts, was dieser Art von Wissen oder Daten nahe kommt“, schreibt sie. „Wir haben zwar einige Theorien darüber, was die Wähler beeinflusst, aber wir haben kein Verständnis dafür, warum die Menschen so wählen, wie sie es tun, und unsere Umfragedaten sind relativ spärlich.
Hat die Meinungsforschung eine Zukunft?
Abgesehen von den Fragen über den Einsatz von Modellen bleibt abzuwarten, warum so viele Meinungsforscher unabhängig voneinander den gleichen Fehler gemacht haben, die Unterstützung von Trump auf nationaler Ebene zu unterschätzen. „Unsere Projektionen für die Zwischenwahlen 2018 waren unter Verwendung derselben Analysemethoden genau“, schreibt Gonzales.
Eine Theorie, die sich nach 2016 durchsetzte, war das so genannte „schüchterne Trump-Wählerproblem“: „Das wirklich Auffällige an Trump war, dass die Leute nur widerwillig sagten, dass sie ihn wählen möchten, weil … die Leute ihn rassistisch und fremdenfeindlich nennen“, sagte Chris Kofinis, ein demokratischer Meinungsforscher, gegenüber der Canadian Broadcasting Corporation. „Wissen Sie, denken Sie an all das Negative, das in den letzten vier Jahren über Trump gesagt wurde. Die Leute wollten nicht damit in Verbindung gebracht werden.“ „Die Krise, mit der wir es hier anscheinend zu tun haben, ist kein Problem der schüchternen Trump-Wähler“, twitterte Derek Thompson von The Atlantic.
Warum? Eine Erklärung dafür ist, dass die Rücklaufquote bei Telefonumfragen seit Jahren stark rückläufig ist. Leider kann dieses Problem nicht durch mehr Online-Umfragen gelöst werden. Viele Menschen, die online befragt werden, neigen dazu, eher links zu wählen.
Hingegen ist es statistisch erwiesen, dass Wähler ohne Hochschulausbildung und mit schlechter Sozialprognose eher an Telefonumfragen teilnehmen.
Wenn konventionelle Umfragen tatsächlich zu einem weniger genauen Instrument werden, um die Ansichten wichtiger Wählergruppen zu messen, unabhängig davon, wer für das Präsidentenamt kandidiert, wird die Meinungsforschungsbranche vor existentiellen Fragen stehen, ob und wie sie sich neu ausrichten kann.
„Aber die Antwort spielt fast keine Rolle, es sei denn, man ist ein professioneller Meinungsforscher“, argumentiert David Graham in The Atlantic, „denn nach zwei gewaltigen Vorhersageflops haben die Meinungsforscher das Vertrauen der Presse und der Öffentlichkeit verloren“.