Seit Anfang Oktober gibt es im westafrikanischen Land Nigeria Proteste gegen die dort vorherrschende Polizeigewalt. Die Demonstrationen und ihre staatliche Gegenwehr werden immer aggressiver und entwickeln sich zu einem „landesweiten zivilen Aufstand“, wie die taz berichtet. Die Proteste richten sich gegen die nigerianische Elite-Polizeieinheit namens SARS, die für rund 82 Misshandlungen, Folterungen und Hinrichtungen zuständig sein soll. In den sozialen Netzwerken solidarisieren sich zahlreiche private Nutzer*innen und Prominente mit dem Hashtag #EndSARS mit der Protestbewegung, so auch beispielsweise die Pop- und R&B-Sängerin Beyoncé.
Die Abkürzung SARS steht nicht etwa für ein weiteres Virus, sondern für die „Special Anti-Robbery Squad“, eine Eliteeinheit der Polizei. Die Protestierenden fordern umfangreiche Polizeireformen in Nigeria und unter anderem die sofortige Auflösung von SARS. Seit Jahren wird diese Spezialeinheit stark kritisiert, der Verschleppung, illegale Verhaftungen und Folter vorgeworfen wird. Auslöser für die Demonstrationen waren verschiedene Videos, etwa eins in welchem zu sehen ist, wie ein Beamter von SARS einen jungen Mann tötet. Ein weiteres Video zeigt, wie SARS-Beamte auf den Fahrer eines Autos schießen, den Toten am Straßenrand liegen lassen und sich mit dem Auto davon machen. Wie Andrea Böhm in ihrer Kolumne für die ZEIT schreibt, trafen genau diese Videos „einen Nerv bei gut ausgebildeten, wohlhabenden jungen Menschen in Nigeria.“ Tausende Frauen und Männer gingen daraufhin auf die Straße, um ihre Stimmen gegen die Polizeigewalt zu erheben. Sie schwingen nigerianische Flaggen und versammeln sich vor allem in der Metropole Lagos und in der Hauptstadt Abuja. Doch die Polizei macht diese Proteste nicht lange mit und setzt kurzerhand Tränengas gegen die friedlichen Demonstrierenden ein. Außerdem stationieren sie Soldaten an den entsprechenden Orten. „Seit Beginn der Proteste vor knapp zwei Wochen sollen mindestens 15 Menschen ums Leben gekommen sein“, schreibt die taz. Viele Menschen wurden außerdem verletzt und verhaftet. Der Präsident Muhammadu Buhari rief unter anderem eine 24-stündige Ausgangssperre aus und versicherte den Nigerianer*innen, dass die Polizeireform „Fahrt aufnehme“. Andrea Böhm schreibt, dass der Präsident die SARS-Eliteeinheit bereits aufgelöst habe, was die Bevölkerung aber keinesfalls besänftige. Sie befürchten, „dass die Einheit unter anderem Namen weiter besteht“ und fordern weitere Strafverfolgung. Außerdem geht es bei der Protestbewegung nicht mehr nur um Polizeigewalt, sondern um die gesamte korrupte Regierung.
Das Land Nigeria „ist die stärkste Volkswirtschaft im westlichen Afrika“, aber dennoch leidet der Großteil der Einwohner*innen an akuter Armut, so der Deutschlandfunk. Das Land besitzt massive Ölvorräte, aber wird dennoch „als Hochburg der Misswirtschaft“ gesehen, so die Zeit. Auch gebildeten Menschen mit Hochschulabschluss müssen sich oft als Straßenhändler*innen behaupten, da es keine Arbeitsplätze für sie gibt. Korruption, Umweltkatastrophen und Streiks sind in dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas an der Tagesordnung. Doch die momentane Protestbewegung eint das Land wie nie zuvor. In Nigeria leben rund 200 Millionen Menschen, von denen rund 60% unter 24 Jahren alt sind. Doch nicht nur die jungen Menschen lockt es auf die Straße, sondern jegliche „Gesellschaftsschichten“, da alle „von staatlicher Gewalt und Willkür betroffen sind“, wie die taz schreibt. Allein deswegen wird von einigen Expert*innen und Politiker*innen befürchtet, dass es sich hierbei um die „nigerianische Version des Arabischen Frühlings“ handeln könnte, wie die ZEIT zusammenfasst.
Nicht zuletzt ist die Corona-Politik der Regierung an den tiefgreifenden Aufständen schuld. Das Land stand lange Zeit unter einem Lockdown, welcher die Fälle von häuslicher Gewalt und Vergewaltigungen an Frauen und Mädchen stark steigen ließ. Allein in den ersten fünf Monaten diesen Jahres wurden 700 Vergewaltigungen gemeldet. Das Problem liegt aber nicht nur in den Haushalten, sondern auch im Umgang der Polizei mit den Opfern. Eine Sprecherin von Human Rights Watch erklärte der Tagesschau, dass sie ein Mädchen betreut habe, welches von der Polizei gefragt wurde, „ob sie die Vergewaltigung genossen“ habe.
Es bleibt zu hoffen, dass sich die Protestierenden nicht von der Gewaltbereitschaft der Polizei einschüchtern lassen und sich weiterhin gegen die korrupte Regierung behaupten. Damit es nicht zu einem „arabischen Frühling“ (Im Dezember 2010 begannen in Tunesien Proteste, Aufstände und Rebellionen und erschütterten die autokratischen Systeme der Region. Viele Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens waren davon betroffen) in Nigeria kommt, darf kein Machtvakuum entstehen, denn sonst besteht die Gefahr, dass sich die SARS-Einheiten weiter verselbstständigen und die Regierung an sich reißen. Dann sind Tod und Terror in dem Land vorprogrammiert.