Mehr als die Hälfte der jungen türkischen Generation möchte ihr Heimatland für immer verlassen. Sie fordern Gleichberechtigung und ein freies Leben. Das Problem: Die türkische Regierung unter Erdogan verfolgt eine andere politische Agenda.
2023 sind die nächsten Wahlen und die türkischen Staatsbürger dürfen erneut entscheiden, wer ihr Land die kommenden Jahre regieren soll. Der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan regiert das Land seit nun mehr als 18 Jahren. Seit den Wahlen 2002 untersteht ihm die türkische Regierung. Kein anderer Politiker war während der letzten 74 Jahre so lange Anführer des Mehrparteiensystems. Junge Erwachsene, die nun volljährig und damit wahlberechtigt sind, kennen keinen anderen Machthaber als Erdogan. Allerdings scheint die kommende Generation weniger begeistert von seiner politischen Agenda. In der Vergangenheit war es vor allem Präsident Erdogans Bestreben eine Stammwählerschaft aufzubauen und die kommenden Generationen zu seinen Wählern zu machen. Mit seinen religiösen und nationalistischen Debatten hatte er dabei durchaus Erfolg. Durch eine strenge Sicherheitspolitik und der Beschwörung einer Bedrohung von außen, schürte er die Ängste der Bürgerinnen und Bürger. Allerdings scheint diese Regierungsform wenig Wirkung auf die junge Generation zu haben.
Sie sehen die Türkei mit anderen Augen. Erdogans Regierungsart fruchtet bei ihnen nicht. Sie sehen vor allem, dass Erdogan während der Corona-Pandemie Feste veranstalten darf, wohingegen die Bürgerinnen und Bürger aber aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung keine Nationalfeiertage feiern dürfen. Seine Angestellten werden täglich auf das Coronavirus getestet, aber jede andere muss sich anstellen, um einen Test machen lassen zu können. Sie leben in einem Land, in dem Kriminelle per Amnestie aus der Haft entlassen werden, aber Journalisten, die regierungskritische Inhalte publizieren, sofort inhaftiert werden. So stellt sich die junge Generation ihr Leben in der Türkei nicht vor. Laut einem Unicef-Report leben die unglücklichsten Kinder in der Türkei. Lediglich 53 Prozent der Fünfzehnjährigen seien zufrieden mit ihrem Leben. Wenig verwunderlich, wenn man sich die Todesrate bei Kindern in der Türkei ansieht. Die Türkei steht dabei auf Platz 2 nach Mexiko. Eine Studie zeigte außerdem, dass viele junge Türkinnen und Türken ihre Zukunft nicht mehr in ihrer Heimat sehen. 76 Prozent der Befragten gaben an, zur Ausbildung und Arbeit ins Ausland ziehen zu wollen. 64 Prozent planen auch keine Rückkehr mehr in ihr Heimatland. Vor allem europäische Länder sind dabei für die jungen Erwachsenen attraktiv. Auf die Frage, weshalb sie in einem anderen Land leben möchten gaben 59 Prozent, dass „eine bessere Zukunft“, aber auch Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für sie eine Rolle spielen.
Für die junge Generation wird die Türkei zunehmend unattraktiv. Jeder dritte Bürger ist arbeitslos, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sinkt und aufgrund der harten Zensurmaßnahmen ist ein Leben in Freiheit nicht möglich. Die Menschen wissen jedoch dank der digitalen Medien wie es in anderen Ländern auf der Welt aussieht und sehen darin ihre Chance, ihr Leben nach ihren Bedingungen zu leben. Allerdings ist der Umzug mit viel Aufwand und hohen Kosten verbunden. Eine Option ist das sogenannte „goldene Visa“. Es gilt als Plan B, um eine Aufenthaltsgenehmigung in einem EU-Land zu erhalten. Voraussetzung ist, dass man eine bestimmte Summe im Zielland investiert und als Gegenleistung von der Regierung eine Aufenthaltsgenehmigung erhält. Griechenland beispielsweise verlangt eine Investitionssumme von 250.000 Euro. Portugal nimmt auch am goldenen Visa-Programm teil, aber verlangt eine Investition in Höhe von 500.000 Euro im Tausch für eine Aufenthaltserlaubnis. Zypern verleiht sogar die Staatsbürgerschaft. Allerdings müssen dafür Investitionen in Millionenhöhe getätigt werden.
Auch wenn viele junge Türkinnen und Türken sich solche Investitionen nicht leisten können, der Wunsch nach einer besseren und gerechten Zukunft bleibt. 2023 haben sie die Möglichkeit etwas zu ändern. Auch die in der Studie befragten Fünfzehnjährigen sind bis dahin volljährig und wahlberechtigt. Für viele gibt es nur zwei Optionen: Entweder er verändert sich etwas oder sie ziehen ihre Konsequenzen und verlassen ihre Heimat.