Warum löst ein französischer Film über Migrantenkinder einen Aufruhr in den USA aus? Der Aufruf #CancelNetflix zum Boykott von Netflix wegen des französischen Films „Mignonnes“ – AKA Cuties – verursacht in Europa Stirnrunzeln.
Über 200.000 Tweets empörter Leser mit dem Hashtag #CancelNetflix wurden zum Top-Trend-Thema auf Twitter. Es wurde sogar eine Petition auf change.org gestartet, welche Netflix-Kunden zur Kündigung ihre Netflix-Abos aufruft. Schon mehr als 600.000 Unterschriften sind so zusammengekommen. Der Aktienwert von Netflix ist seit dem 8. September, dem Tag vor der Veröffentlichung des Films auf der Plattform, im Rückgang begriffen. So lag der Eröffnungspreis bei $480,62, verglichen mit dem Tagesdurchschnitt von $529,22 in der Woche vor dem Filmdebüt (Yahoo Finance).
„Der Film fetischisiert und sexualisiert routinemäßig diese vorpubertären Mädchen, während sie Tänze aufführen, die sexuelles Verhalten simulieren, indem sie Kleidung tragen, darunter mindestens eine Szene mit teilweiser Nacktheit des Kindes. Diese Szenen an und für sich sind schädlich“, schrieb Cruz in einem Brief an Generalstaatsanwalt William Barr.
DeAnna Lorraine, eine ehemalige republikanische Kongresskandidatin aus Kalifornien, twitterte, dass „Kinderpornographie in Amerika illegal ist“. „Als Mutter eines achtjährigen Mädchens unterstütze ich #CancelNetflix dringend“, fügte Beatrice Cardenas, eine weitere kalifornische Republikanerin, hinzu.
Auch für die USA ist es ungewöhnlich, dass eine so hohe Empörungswelle ausschlägt bei einem Spielfilm, dessen Narrativ klar und deutlich zu erkennen ist. In einer Erklärung sagte Netflix: „Cuties ist ein sozialer Kommentar gegen die Sexualisierung von Kindern. Es ist ein preisgekrönter Film und eine aussagekräftige Geschichte über den Druck, dem junge Mädchen in den sozialen Medien und von der Gesellschaft im Allgemeinen ausgesetzt sind, wenn sie aufwachsen – und wir wollen jeden, dem dieses wichtige Thema am Herzen liegt, ermutigen, sich den Film anzusehen.“
Die senegalesische Regisseurin Doucouré sagt, der Film würde in den Vereinigten Staaten auf Akzeptanz stoßen: „Es geht nicht um die französische Gesellschaft – die Hyper-Sexualisierung von Kindern geschieht durch soziale Medien, und soziale Medien gibt es überall.“
Worum geht es in dem Film? Der Film ist eine Coming-of-Age-Story über Amy, einem 11-jährigen Mädchen aus dem Senegal. Sie kommt nicht mit den Einschränkungen und Regeln ihres familiären Lebens zurecht. Zudem ist sie auf der Suche nach sich selbst. Also beschließt sie, sich einer Tanzgruppe von gleichaltrigen Mädchen anzuschließen. Der Film wurde auf dem Sundance-Filmfestival mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Die Kritik bezieht sich auf die jungen Mädchen, die auf sexualisierte Weise dargestellt würden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Film beutet keine Heranwachsenden aus, indem er sie sexualisiert – denn er kritisiert die Sexualisierung von Mädchen in unserer Gesellschaft.
Der französische Film erzählt von der Unterdrückung von Frauen, die versuchen ein selbstbestimmtes Leben zu führen, jedoch von traditionellen Lebensentwürfen eingeschränkt werden. So geht es in dem Film bei Weitem nicht nur um Sexualisierung und Objektivierung des weiblichen Körpers, sondern um Identitätssuche. Auf dem Filmplakat in Frankreich sind vier bunt angezogene Mädchen zu sehen, die fröhlich mit Einkaufstaschen behangen durch Paris rennen. Eine coole Girl-Gang beim Shoppen, die es auch in den USA genauso geben könnte.
Doch der Streamingdienst Netflix hat bei seiner Werbekampagne in den USA nicht so züchtig für den französischen Film geworben: Hier sind die Mädchen in knappen Glitzerkostümchen beim Tanzen zu sehen, mit lasziv geöffneten Lippen und ihren Händen im Schritt. Dabei ist die provokative Tanzszene der Jugendlichen komplett aus dem Zusammenhang des Films gerissen und hat sofort amerikanische Moralapostel auf den Plan gerufen. Schließlich läuft der Film nicht wie für diese Art einfühlsamen und intelligenten Film üblich in Programmkinos, sondern vor großem, heterogenen Publikum bei Netflix.
Netflix sah sich zu einer Entschuldigung für seine missglückte Werbekampagne gezwungen.
Die Regisseurin Doucouré zeigt nuanciert auf, in welchen Problemlagen diese komplexen, jungen Charaktere stecken. Hier fällt es schwer, nur plakative Lolitas zu sehen, die sich tanzend über die Bühne schlängeln und kopulierende Bewegungen vollziehen. Die Jugendliche Amy mag vielleicht selbstbewusst auf der Bühne posieren, doch in sich drin versucht sie ihrem repressiven Umfeld zu entkommen. Dem Mangel an positiven Rollenbildern ist es geschuldet, dass sie sich twerkend an Hip-Hop-Videos orientiert, statt an starken Karrierefrauen.
So gibt ein Geisterheiler Amy den Rat und sagt, dass mit ihr alles in Ordnung sei. Doch ihre Mutter hätte noch einen Weg zu sich selbst vor sich und sollte über eine Scheidung nachdenken. So kommt es auch, dass die Mutter ihre Rolle im dem patriarchalen System hinterfragt und die hohe Erwartungshaltung der Ehemänner. Sie geht einen wichtigen Schritt und steht für ihre Tochter ein. Was bringt Amerikas Konservative dazu, gleich eine enorme Kampagne gegen Netflix zu fahren? Sie entrüsten sich über zusammenhanglose Bilder, viele haben scheinbar auch gar nicht den Film gesehen. Die Regisseurin erhält sogar Todesdrohungen. Dabei sind ondulierte Kleinkinder in Bikinis bei Miss-Wahlen mit sexualisierten Klamotten kein Tabu in den Staaten. In den USA boomt das Geschäft mit den kleinen Schönheitsköniginnen. Die Kinder werden rasiert, gewachst und geschminkt. Doch die sexualisierte Gegenwartskultur ist scheinbar auch im konservativen Lager akzeptiert, wohingegen ein allzu genauer Blick auf die Nöte der Jugendlichen die aufgebrachten Politiker kalt lässt. Die Hetze der Konservativen gegen die Regisseurin Maïmouna Doucouré ist somit einfach nur Heuchelei.