In Indien gibt es derzeit rund 1.6 Millionen bestätigte Corona-Fälle, aber nur knapp 35.000 Menschen wurden Opfer des Virus. Damit ist die Zahl der Toten vergleichsweise geringer als in anderen Ländern die hart von der Krise betroffen sind, wie die USA oder Brasilien. Indien ist zwar das Land, welches am drittstärksten mit Neu-Infektionen zu kämpfen hat und jeden Tag fast 50.000 neue Fälle dazu bekommt, aber gemessen an der Einwohnerzahl ist diese Infektionsrate immer noch als sehr gering einzuschätzen. In Indien leben 1,37 Milliarden Menschen. Das sind mehr als Einwohner*innen als in Afrika insgesamt. Laut SPIEGEL Autorin Laura Höflinger, sollte das Land vielmehr als ein eigener Kontinent verstanden werden, der in 28 Bundesstaaten unterteilt ist. Somit ist auch klar, warum Indien, nicht wie alle anderen Länder, unter einer großen Welle der Ausbreitung des Coronavirus leidet, sondern die Wellen „räumlich und zeitlich versetzt durchs Land schwappen, so Höflinger. Doch neue Studien belegen, dass die Dunkelziffer der Infektionen in den verschiedenen Bundestaaten womöglich viel höher ist als erwartet.
Der erste Corona-Fall wurde im südindischen Bundesstaat Kerala im Januar entdeckt. Ein indischer Medizinstudent kehrte aus Wuhan zurück und brachte das Virus mit. Von dort aus breitete sich das Covid-19 stetig aus, doch bereits im Mai konnte Kerala die Neu-Infektionen auf ein Minimum reduzieren. Die Ansteckungen wurden zurückverfolgt und Infizierte wurden schnell und wirkungsvoll isoliert. Doch bereits Mitte Juli eskalierte die Situation wieder und Kerala konnte rund 800 Infektionen am Tag feststellen. Diese zweite Welle ist vor allem darin begründet, dass viele Einwohner*innen Keralas in den Golfregionen arbeiten und endlich nachhause konnten. Wegen des erneuten Ausbruchs wurden die Grenzen zu den benachbarten Bundesstaaten vorrübergehend geschlossen.
Den Bundestaat Maharashtra, in dem die Stadt Mumbai liegt, hat es am härtesten getroffen. Mumbai hat insgesamt rund 18 Millionen Einwohner. In der Stadt gibt es mehr als 110.000 bestätigte Corona-Fälle und rund 6000 Tote. Eine neue Studie der Stadtverwaltung in Zusammenarbeit mit indischen örtlichen Behörden und medizinischen Institutionen fand heraus, dass 57% aller Bewohner*innen der Slums in Mumbai Antikörper in sich tragen. Außerhalb der Slums nur 16%. Dieser Zahlenunterschied kann mit der verschiedenen Bevölkerungsdichte und den gemeinsam genutzten öffentlichen Einrichtungen in den Slums, wie beispielsweise Toiletten, begründet werden. In Dharavi, einem der größten Slums der Welt, leben rund „eine Million Menschen auf einer Fläche, die so groß ist wie der Tiergarten in Berlin“, so der mdr. Doch Dr. Kolthur, ein Arzt, der an der Studie beteiligt war, erklärte dem BBC, dass noch nicht genau erforscht sei wie lange die Immunität, sprich die Antikörper gegen das Virus im Körper bleiben und gegen die Erreger ankämpfen.
In Indiens Hauptstadt Neu-Delhi wurde Mitte Juli von der Seuchenkontrolle eine Studie durchgeführt, die ebenfalls getestet hat, wie viele Bürger*innen Antikörper in sich tragen. Sie fanden heraus, dass das bei 23,48% der Teilnehmer*innen der Fall war. Fast jeder vierte Einwohner und Einwohnerin haben demnach also Antikörper entwickelt, was heißt, dass die Dunkelziffer der Infektionen in der Hauptstadt wahrscheinlich sehr hoch ist. Offiziell gibt es in Neu-Delhi nämlich ungefähr 120.000 Corona-Fälle, aber rechnet man „die Ergebnisse der Antikörper-Studie hoch, hätten sich schon rund fünf Millionen Menschen mit Covid-19 angesteckt“ haben müssen, so die tagesschau.
Auch die Abfälle, die durch das Coronavirus entstehen machen vielen Bewohner*innen Indiens zu schaffen. Alte Masken, Schutzkleidung oder Einweghandschuhe aus Krankenhäusern landen auf den Mülldeponien, beispielsweise am Rand von Dehli. Menschen, die den Müll durchsuchen, um noch verwertbare Gegenstände zu finden, um diese zu verkaufen sind dadurch großen Gefahren ausgesetzt. Sie könnten sich mit verschiedenen Hautkrankheiten, Hepatitis oder HIV anstecken, wenn sie gebrauchte Spritzen oder andere Krankenhausutensilien berühren. Die Abfälle müssen eigentlich ordnungsgemäß als Sondermüll entsorgt werden, aber seit der Coronakrise gestaltet sich das als schwieriger. Auch Kinder, die auf den Mülldeponien arbeiten sind betroffen.
Die Studien belegen, dass die Dunkelziffern in Indien also möglicherweise höher sind als angenommen. Die Infektionswellen können nicht auf das ganze Land verallgemeinert betrachtet werden, da es schlichtweg zu groß ist. Gesellschaftliche Strukturen und Hierarchien teilen Indien und verstärken die Probleme der armen Teile des Landes.