Brüssel strebt ein einheitliches Abkommen mit Großbritannien über die künftigen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen an. So war es zumindest geplant worden. Der britische Premierminister Boris Johnson nimmt bei weiterem Stillstand der Verhandlungen aber auch einen harten Brexit in Kauf.
Nachdem in den letzten vier intensiven Verhandlungsrunden kaum Fortschritte erzielt wurden, von einer Einigung ganz zu schweigen, trifft sich die Europäische Union nun erneut, um über die Austrittsbedingungen des Vereinigten Königreichs aus der EU zu beraten. Neben Johnson sind auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel und Parlamentspräsident David Sassoli vertreten. Ziel sei es, eine Zwischenbilanz der aktuell stagnierenden Verhandlungsgespräche zu ziehen und endlich einen Schritt vorwärts in den Austrittsangelegenheiten zu machen.
Großbritannien war Ende Januar 2020 aus der EU mit einer Übergangsfrist ausgetreten, die Ende des Jahres abläuft. Bis dahin sind sie weiterhin Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion. Der Alltag der englischen Bürgerinnen und Bürger bleibt also zunächst unverändert. Bis Ende des Jahres gilt es Abkommen zu treffen und Einigungen zu finden, welche den Rahmen für die zukünftigen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen festlegen und vor allem aufrechterhalten sollen. Gelingt keine Übereinkunft, könnte es Anfang 2021 zu einem harten Brexit kommen, der zum wirtschaftlichen Bruch mit Zöllen und anderen Handelshindernissen führen kann.
Die britische Regierung zeigte sich bislang wenig kooperativ. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) warnte vor der Gefahr eines „No Deal Brexits“ vor dem Hintergrund des aktuellen Pandemiegeschehens. „Wir müssen jetzt zusammenarbeiten, um trotz Corona die Weltwirtschaft und den globalen Handel wieder in Schwung zu bringen“, teilte er mit.
Umso besorgniserregender sei es laut Maas, „dass Großbritannien sich bei zentralen Punkten in den Verhandlungen weiter von unserer gemeinsam vereinbarten politischen Erklärung entfernt“, teilte der Politiker der „Augsburger Allgemeinen“ mit und fügte hinzu: „Wenn es dabei bleibt, dann müssen wir zum Jahreswechsel neben Corona auch noch den Brexit bewältigen.“
Eine Einigung und ein umfangreiches Handels- und Partnerschaftsabkommen sind weiterhin nicht in Sicht. Johnson zieht laut einem offiziell noch unbestätigten Bericht des „Sunday Telegraph“ einen harten Brexit in Betracht, wenn die Verhandlungen weiterhin erfolglos bleiben. Eine Fristverlängerung lehnt die britische Regierung vehement ab und sieht gleichzeitig aber auch von Zugeständnissen ihrerseits zur Kompromissfindung ab. Mit der erneuten Ablehnung einer Verlängerung der Übergangsphase ist auch aus Sicht der EU-Kommission die Debatte endgültig abgeschlossen.
Der Druck eine endgültige Entscheidung zu treffen, steigt weiterhin. Auch wenn die Option der Fristverlängerung für die EU offenbleibe, hatte der britische Unterhändler Michael Gove seine Ablehnung mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht. „I formally confirmed the UK will not extend the transition period … On 1 January 2021 we will take back control and regain our political & economic independence”, erklärte er via Twitter am 12. Juni 2020.
Der Grund: Den britischen Bürgern wurde der endgültige Ausstieg aus der Europäischen Union in einem Wahlversprechen versichert. Mit seiner Haltung zu einer Fristverlängerung repräsentiere er die Forderung der britischen Bevölkerung. Brüssel sieht das Verhalten der Briten kritisch. Sie fühlen sich den Wahlversprechen verbundener als einer offiziellen politischen Erklärung, die persönlich mit Johnson ausgehandelt und von allen Mitgliedsstaaten angenommen worden war. „Es ist und bleibt für uns der einzige gültige Bezug, die einzige relevante Grundlage in diesen Verhandlungen, weil ihm beide Seiten zugestimmt haben“, sagte Michel Barnier, französischer Politiker und Beauftragter der EU-Kommission für die Verhandlungen zum EU-Austritt des Vereinigten Königreichs. Auf diesem Amtsblatt beruhen jegliche Entwürfe eines Partnerschaftsabkommens. Umso ernüchternder ist die Tatsache, dass die Handlungsgespräche weiterhin erfolglos bleiben. Dabei stehen wir … „auf einem gemeinsamen Wertefundament, und wir haben sehr viel mehr gemeinsame Interessen, als gegensätzliche“, betonte Maas.