Es geht ab dem 11. April um die Parlamentswahl in Indien, deren Spitzenkandidat Narendra Modi als Premierminister sich Vorteile verschaffen wollte, indem er viele falsche Wahlversprechen ablegte. Vor allem hat er den 900 Millionen Einwohnern des Subkontinents am Ganges Arbeitsplätze versprochen. Auf die warten Zehntausende Tag für Tag, während sie vor den Vermittlungsstellen sitzen und die Zeit totschlagen. Indien ist korrupt wie eh und je, viele Menschen hungern, aber den Wahlkampf lassen sich die Verantwortlichen Milliarden kosten. Er endet am 19. Mai mit der Wahl eines neuen Präsidenten.
Es gibt in Indien derzeit wenig, das so begehrt ist wie ein Job. Die Stadt Mumbai schrieb vergangenes Jahr gut tausend Stellen für die Tätigkeit als Wachtmeister aus — mehr als 200 000 Menschen bewarben sich. Fast 5000 Ingenieure hätten gern im südindischen Tamil Nadu als Reinigungskraft angefangen. Und als die nationale Eisenbahn rund 100 000 neue Jobs anbot, darunter solche als Gleisarbeiter und Lokführer, da meldeten sich mehr als 20 Millionen Inder. Mukesh Kumar, 22 Jahre alt, Sohn zweier Bauern, die Haare oben lang, an der Seite kurz geschoren, war einer von ihnen. Kumar hat einen Uniabschluss in Mathematik, aber er bewarb sich als Techniker für Loks. Und bekam eine Absage. Er sagt, der Arbeitgeber sei ihm egal. »Alles, was ich will, ist ein Job.« Am liebsten als Steuerprüfer. Er hat sich in eine Wolldecke gehüllt, nur sein Kopf und die nackten Füße in den Flipflops schauen heraus. Seit anderthalb Jahren kommt er zum Lernen in die Youth Library in Mukherjee Nagar im Norden Delhis. Mukherjee Nagar bildet das Zentrum des indischen Strebens nach Erfolg. Jedes Jahr melden sich Zehntausende Absolventen bei Coachinginstituten an, die versprechen, ihre Schüler auf die Auswahlprüfungen für staatliche Stellen vorzubereiten. Tests, die man hier umgangssprachlich nicht »besteht«, sondern »knackt«, als handle es sich um die Tür zu einem Tresor. Tatsächlich geht es um den Zugang zu etwas, das in Indien viel wert und selten ist: ein regelmäßiges Gehalt, eine Rente und gesellschaftliches Ansehen.
In der Bücherei läuft manchmal eine Kakerlake an Kumar vorbei, einmal hat er sogar eine Maus gesehen. Auf einem Schild an der Wand steht: »Erfolg kommt nicht zu dir, du musst zu ihm hingehen.« Darunter sitzen junge Menschen wie Kumar über ihre Handys und Bücher gebeugt und glauben, dass es wahr ist: dass ihre Zeit gekommen ist. Wer sollte es ihnen verdenken? Man hat es ihnen auch lange genau so erzählt. Die Hälfte aller Inder ist jünger als 25 Jahre, das sind mehr als 600 Millionen Menschen. Es galt unter Ökonomen als abgemacht, dass seine Jugend Indiens große Stärke ist. Dass die Babyboomer den Wohlstand der kommenden Generationen schaffen werden, dass dank ihnen aus einem oft noch armen Land endlich eine Supermacht wird. So wie es in den USA geschah und auch in China. Aber danach sieht es derzeit nicht aus
Es gibt kaum Jobs und die Menschen hungern
Jeden Monat strömen etwa eine Million Inder auf den Arbeitsmarkt. Doch viele finden keine Jobs. Die demografische Dividende, Indiens historische Chance, droht zum Desaster zu werden. Und der Mann, der daran Mitschuld hat, ist genau jener, der ihre Hoffnungen einst befeuerte: Narendra Modi, der Premierminister. Inder lernen früh, dass es von allem zu wenig gibt: Jobs, gute Schulen, Platz auf der Straße. Dann kam Modi und versprach die Erfüllung ihrer Wünsche — Wohlstand, Jobs, ein besseres Leben. Er erzählte seinen Zuhörern seine eigene Geschichte, die der ihren ähnelte: der Sohn eines Teeverkäufers, Angehöriger einer niedrigen Kaste, der es nach ganz oben schaffte. Modis Kandidatur wohnte das Versprechen des Aufstiegs inne, der des Landes und jedes Einzelnen. Vor allem junge Menschen glaubten ihm. Sie waren es, die Modi ins Amt brachten. Und möglicherweise bald auch wieder hinausbefördern. Zum ersten Mal sieht es so aus, als könnte der Premier, der sich seit fast fünf Jahren in den Umfragen verlässlich großer Beliebtheit erfreut, straucheln. Zwischen April und Mai ist das Land zur Wahl aufgerufen, darunter gut 130 Millionen Erstwähler. Ihre Wünsche und Ängste werden diese Wahl prägen, in Umfragen geben sie Arbeitslosigkeit als ihre größte Sorge an. Die Regierung hat deswegen womöglich versucht, einen Bericht über die Lage am Arbeitsmarkt zu verzögern. Bis ihn dann kürzlich ein Journalist veröffentlichte/dem das Gutachten zugespielt worden war. Danach ist die Arbeitslosigkeit im Land so hoch wie seit der Ölkrise in den Siebzigern nicht mehr. Die Regierung habe nicht genug getan, die Situation zu verbessern; sie habe sogar alles noch schlimmer gemacht. Nach diesem Bericht, den das Ministerium für Statistik erstellt hat, liegt die Arbeitslosigkeit bei 6,1 Prozent, unter jungen Männern in Städten bei rund 18,7 Prozent.
Die Zahlen haben die Regierung in Aufruhr versetzt. Es handle sich bei dem Bericht nur um einen Entwurf, ließ sie verbreiten. Die Daten seien vorläufig und erfassten nur die klassischen Wirtschaftsbereiche, aber nicht all jene Inder, die als Rikschafahrer, Koch oder Tagelöhner arbeiteten. Die Regierung beharrt darauf, dass jedes Jahr Millionen neue Jobs entstünden. Beamte führten sogar die Zunahme von Uber-Taxifahrern als Beweis für den Aufschwung an. Das erneute Aufflammen des Kaschmirkonflikts kommt der Regierung da gelegen. Zum ersten Mal seit fast 50 Jahren war es vergangene Woche zu Luftangriffen zwischen den Erzfeinden Indien und Pakistan gekommen. Modis Kabinett versucht seither, das Thema für den Wahlkampf zu setzen: weg von Arbeitsmarktstatistiken und hin zu Themen nationaler Sicherheit.
Aber dass sich die indische Wirtschaft in die richtige Richtung entwickelt, daran zweifeln mittlerweile viele. Indiens öffentliche Plätze sind voller junger Menschen, vor allem Männer, die nichts zu tun haben. Ihre einzige Beschäftigung scheint es zu sein, Selfies zu machen und Chai zu trinken. Es gibt ein englisches Wort, das nur in Indien existiert, weil es so treffend beschreibt, was hier so viele tun: »timepass« — die Zeit totschlagen.
Dabei läuft Indiens Wirtschaft. Unter den großen Volkswirtschaften ist Indien mit ungefähr sieben Prozent Wachstum die am schnellsten wachsende. Das Land ist weltweit bekannt für seine IT-Branche und Pharmaindustrie; es erhält Rekordsummen an ausländischen Investitionen. Wie kann es da an Jobs mangeln?
Pronab Sen war einmal der oberste Statistiker des Landes. Es war lange seine Aufgabe, Antworten auf solche Fragen zu finden. Heute arbeitet Sen, ein älterer Herr, am Indian Statistical Institute in Delhi. »Was wir beobachten, ist, dass Menschen oft gar nicht mehr nach Arbeit suchen, weil sie glauben, dass es aussichtslos ist«, sagt er. »In dieser Hinsicht ist die Lage sogar noch besorgniserregender: Viele haben aufgegeben.« Fortschritt folgt oft dem gleichen Muster: Immer mehr Arbeiter geben die Landwirtschaft auf und arbeiten in Fabriken. Sie werden produktiver, ihre Löhne steigen, sie konsumieren, was wiederum die Wirtschaft antreibt und so die Chancen für die nachrückende Generation verbessert. So war es in China und vielen Ländern Südostasiens. Aber so ist es nicht in Indien. Das hat vor allem zwei Gründe.
Erstens: Indien hat Bildung lange vernachlässigt. Die Ausbildung in vielen Schulen und Colleges ist bis heute schlecht. Rund ein Drittel der Ingenieure scheitert an einfachen mathematischen Berechnungen. Daher befindet sich das Land in der paradoxen Situation, dass es zu viele Arbeiter, aber nicht genügend Fachkräfte hat. Zweitens: Indiens Wirtschaftswunder basiert auf dem Servicesektor, seinen Callcentern und IT-Schmieden oder auch der Autoindustrie. Diese Branchen wachsen, schaffen aber vergleichsweise wenige Jobs für eine gebildete Elite. Was Indien brauchte, sind Fabriken, in denen viele ungelernte Arbeiter Beschäftigung finden. Weil es davon zu wenige gibt, erlebt das Land, was Ökonomen beschäftigungsfreies Wachstum nennen: Eine zehnprozentige Zunahme des Bruttoinlandsprodukts führt laut einer Studie der Azim-Premji-Universität lediglich zu einem Anstieg von einem Prozent bei der Zahl der Arbeitsplätze. Diese Probleme sind nicht Modi anzulasten, sie sind älter. Sein Versagen besteht darin, dass er entgegen seinen Versprechen zu wenig getan hat, um sie zu beheben. Und dann auch noch mit einer Maßnahme die Situation verschlechterte.
»In Indien sind es üblicherweise die kleinen bis mittelgroßen Unternehmen, die Jobs schaffen. Das war bis Ende 2016 der Fall«, sagt der ehemalige Statistiker Sen. Und dann? — »Dann kam die Demonetarisierung.« Im November 2016, an dem Tag, als in den USA Trump zum Präsidenten gewählt wurde, erklärte Modi alle 500- und 1000 Rupien-Scheine und damit 86 Prozent des sich im Umlauf befindlichen Bargelds für ungültig. Die plötzliche Entwertung war als Schlag gegen die Schattenwirtschaft gedacht. Wer große Mengen Bares hortete, musste zur Bank und seinen Reichtum erklären. Aber weil die Notenpressen mit dem Drucken neuer Scheine überlastet waren, kam es wochenlang vielerorts zu Chaos. Große Teile von Indiens Wirtschaft basieren auf Bargeld. Und die Regierung hat recht: Vieles davon fließt am Fiskus vorbei. Daran aber hat sich auch nach der Demonetarisierung nicht viel geändert. Mehr als 99 Prozent der alten Scheine wurden umgetauscht. Geldwechsler, Mafiosi und korrupte Beamte fanden einen Weg, das System zu überlisten.
Die Demonetarisierung traf vor allem kleinere Unternehmen; die im Juli 2017 eingeführte nationale Mehrwertsteuer, die notwendig und gut war, aber schlecht umgesetzt wurde, zwang viele von ihnen endgültig in die Knie. Laut einer Untersuchung des Centre for Monitoring Indian Economy, eines Wirtschaftsinformationsdienstes in Mumbai, gingen allein im Jahr 2018 elf Millionen Jobs verloren. »Wir erleben eine Krise, aber die Regierung will nicht, dass wir es erfahren«, sagt Sen. Dabei seien die Folgen sichtbar: »Delhi war nie eine besonders sichere Stadt, aber die Art von Gewalt, die wir heute sehen, ist neu.« Sen glaubt, es habe vor allem damit zu tun, dass große Gruppen Rowdys auf den Straßen ihren Frust auslebten.
Zehntausende Wanderarbeiter flohen im Oktober aus Modis Heimatbundesstaat Gujarat. Einheimische randalierten, weil ihnen die Auswärtigen die Jobs wegnähmen. Im September demonstrierten im Punjab Hunderte arbeitslose Lehrer. Es formieren sich neue Kastenbewegungen: Junge Menschen, die einer Kaste angehören und Jobs für ihresgleichen fordern. Es handelt sich dabei vor allem um junge Inder, die aus Kleinstädten kommen. Das ist kein Zufall. Sie gehören zur ersten Generation, die nach der Liberalisierung der Wirtschaft in den Neunzigern aufgewachsen ist. Sie sehen, welcher Wohlstand in Indien Einzug gehalten hat und wie wenig sie davon profitieren. Die Jugend treibt das Gefühl um, betrogen worden zu sein. Diese Enttäuschung könnte Modi bei der Wahl gefährlich werden. Seine politischen Widersacher schlachten die Wut bereits aus.
Hardik Patel ist erst 25 Jahre alt, er stammt wie Modi aus Gujarat, aber er ist weit über die Grenzen des Bundesstaats bekannt. Patel setzt sich für die Belange seiner Kaste ein und ist eine einflussreiche Persönlichkeit. Denn die Angehörigen einer Kaste stimmen in Indien oft für denselben Kandidaten. Wenn Patel irgendwo im Land auftritt, kommen Tausende, um ihn zu sehen. Er empfängt Besucher in einem PavilIon, der einer Safari-Lodge gleicht. Der Garten vor dem Anwesen, in dem er lebt, ist so groß und so weit von der Stadt entfernt, dass Pfaue durchs Gras staksen. Patel gehört zur großen Gemeinschaft der Patidars, einer Kaste, die traditionell Land besaß, und das war in Indien lange viel wert. Aber immer weniger junge Menschen wollen als Bauern arbeiten, zumal die Landwirtschaft ebenfalls in der Krise ‚Steckt. Als Patel mit 17 Jahren in die Großstadt kam, stellte er fest, dass der Acker seiner Familie hier nicht viel wert war. Er fand keinen Job und merkte bald, dass ihn die Schule nicht auf die Anforderungen einer modernen Wirtschaft vorbereitet hatte. Patel besuchte zwölf Jahre lang den Englischunterricht, aber über ein »How are you?« kommt er kaum hinaus. »Warum gibt es auf dem Land keine guten Krankenhäuser, keine guten Schulen?«, fragt er. »Was ist das für ein Fortschritt, der die Dörfer nicht erreicht? Wo die Reichen die Gewinne einstreichen und die Armen schuften?«
Patel betreibt klassischen Klassenkampf, aber seine Worte treffen Modi an einer empfindlichen Stelle, weil sie infrage stellen, worauf sein Ruhm beruht. Modi hatte in seiner Zeit als Chief Minister von Gujarat geschickt ausländische Investoren angelockt. Fabriken entstanden, die Wirtschaft wuchs schneller als in anderen Teilen des Landes. Aber der neue Wohlstand erreichte auch hier viele nicht. Patel kanalisiert die Wut der Abgehängten. Er selbst gehört nicht mehr zu ihnen. Er trägt eine goldene Armbanduhr, das Haus, in dem er lebt, gleicht einer Villa. Das Anwesen gehöre nicht ihm, sondern einem guten Freund, sagt er. Patel hat in diesen Tagen viele gute Freunde, die ihn unterstützen und großzügig beschenken. Die Opposition, die Kongresspartei, will ihn für die Wahl gewinnen. Denn Patel hat etwas, das ihr fehlt: Einfluss auf die Jugend. Premier Modi ist nach wie vor beliebt. Aber seine Partei, die hindu-nationalistische BJP, ist sich nicht mehr sicher, ob das für einen Sieg reicht.
Wie nervös die BJP mittlerweile ist, zeigte sich Anfang Februar. Da stellte der Interimsfinanzminister den letzten Haushalt der Amtsperiode vor und ließ es Wahlgeschenke regnen. Bauern, die wenig verdienen, sollen staatliche Zuwendungen bekommen. Auch die Mittelschicht kann sich auf Steuererleichterungen freuen. Jede Familie, die weniger als 800 000 Rupien, umgerechnet 10 000 Euro, im Jahr verdient, soll bei der Vergabe von staatlichen Stellen bevorzugt werden. Das würde ungefähr 95 Prozent der Bevölkerung betreffen. Die Ankündigungen werden der Partei Stimmen einbringen, aber wohl kaum Jobs schaffen. Dabei hatte Modi zu Beginn seiner Amtszeit die richtigen Ideen. Unter dem Motto »Make in India« sollte die verarbeitende Industrie wachsen. Aber der Plan ging nicht wie erhofft auf, weil die Regierung es versäumt hat, das bürokratische Arbeits- und Landrecht zu reformieren. Dazu hätte es unpopulärer Entscheidungen bedurft. Modi hatte das Mandat dazu, die BJP hält seit fast fünf Jahren die absolute Mehrheit im Parlament. Kein Premier vor ihm verfügte in den vergangenen 30 Jahren über eine solche Macht. Modi hat sie wenig genutzt. Sollte er nach der Wahl weiterregieren, dann wahrscheinlich mit weniger komfortablen Mehrheiten. Dabei sind die Reformen drängender als zuvor. Indiens Bevölkerung wird noch rund 15 Jahre lang jünger werden und erst dann anfangen zu altern.