Pjöngjang. Was selbstverständlich sein sollte – auch im Reich der Mitte – ist nicht selbstverständlich. Nämlich, dass Frauen eigene Rechte haben, gegen Sexismus und Grapscherei geschützt sind, dass sexuell motivierte Anzeigen und Inserate verboten sind. Denn in China herrscht seit Jahrhunderten eine Lebenseise, die Frauen unterdrückt und sexuell ausbeutet. Unfassbar im 21. Jahrhundert, aber vorstellbar in einem Überwachungsstaat und einer Diktatur.
Die erste Begegnung mit dem Amt für öffentliche Sicherheit in Guangzhou war für die Feministin Xiao Meili eine „Einladung zum Tee“. Diesen Euphemismus kennt in China jeder. Es ist nichts anderes als eine Vorladung der chinesischen Stasi, bei der man Sicherheitsbeamte trifft, die dunkle Anzüge tragen, ernste Gesichter machen und halb versteckte Drohungen aussprechen. „Die Botschaft ist eigentlich nur ein Satz“, sagt sie heute. „Sie lautet: ,Hört auf damit, sonst …‘ Aber dafür nehmen die sich anderthalb Stunden Zeit.“ Während dieser Zeit, so Xiao, zeigen die Beamten, dass sie einem das Leben sehr schwer machen könnten: „Wir möchten dir ja helfen, aber wenn du nicht einlenkst …“ Xiao Meili, 29, und ihre Lebensgefährtin Zhang Leilei, 25, gehören zu den bekanntesten #MeToo-Aktivistinnen Chinas. Zhang und Xiao und damit auch ihr ganzes Umfeld müssen seit Jahren Nachstellungen des gong‘anju – der chinesischen Stasi – aushalten. Und doch hören die beiden Frauen nicht auf, öffentlich gegen Sexismus zu kämpfen. Im Gegenteil.
Im vergangenen Jahr nutzten die beiden ihre weitläufigen Kontakte auf chinesischen Internetforen, um auf einen Brief einer Studentin aufmerksam zu machen, in dem diese ihren Professor der sexuellen Nötigung bezichtigte. Sie ermutigten andere Opfer, ihre Geschichten zu erzählen. Im Lauf von vier Wochen gab es 9000 Einträge zum Stichwort #Woyeshi — das ist die wörtliche Übersetzung von „MeToo“. Die meisten hatten mehrere Unterzeichner, sodass sich die Anzahl der Betroffenen auf einige Zehntausend belief. Dann schritt das gong’anju ein, die Stasi, und löschte alle Einträge.
Immerhin, der Professor musste seinen Hut nehmen. Und #MeToo war in China bekannt geworden. Danach bekam auch der Vermieter von Zhang und Xiao eine „Einladung zum Tee“. Die Beamten träufelten ihm ein: „Wissen Sie eigentlich, dass Sie Ihre Wohnung an zwei Lesben vermieten?“ Der Vermieter blieb erstaunlicherweise — zunächst — standhaft und kündigte den Aktivistinnen nicht. Die Überwacher gingen darauf noch einen Schritt weiter und meldeten sich bei den Vermietern der Freunde von Zhang und Xiao. Manche dieser Freunde verloren ihre Wohnung. Die Botschaft an die beiden #MeToo-Aktivistinnen war klar: Wenn ihr nicht aufhört, dann werdet nicht nur ihr, dann werden auch eure Liebsten bezahlen.
Dass die Sicherheitskräfte in China ausgerechnet gegen Frauenrechtlerinnen so hart agieren, ist erstaunlich. Denn die Elite der kommunistischen Führung hat keinen Grund, Feministinnen zu ihren Feinden zu zählen. Diskriminierung ist in China gesetzlich verboten. Aber das Gesetz ist nur das eine. Seine Durchsetzung ist etwas ganz anderes. Genau daran hat die Obrigkeit keinerlei Interesse. Das zeigt sich unter anderem an Stellenausschreibungen wie diesen, die ohne jegliche Konsequenz geschaltet werden können: „Anforderungen: ausgeprägte Fähigkeit zum logischen Denken und Durchsetzungsstärke — ausschließlich geeignet für Männer und mannhafte Frauen.“ So suchte der Internetgigant Baidu nach Personal.
Nicht nur private Firmen formulieren solche Stellenanzeigen. Das nationale Statistikamt kennzeichnete 2018 nicht weniger als 56 Prozent seiner Ausschreibungen als „nur für Männer geeignet“ oder mit „männliche Bewerberwerden bevorzugt“. Werden von Arbeitgebern Frauen gesucht, bezeichnen sie diese in Anzeigen tatsächlich als „Putztantchen“ und „Empfangsfräulein“ oder verlangen nicht selten ein ansprechendes Äußeres: „Weiblich, 18—30 Jahre, mindestens 1,63 Meter, schlank, ästhetisch ansprechend“, besagt eine relativ normale Anzeige für eine Verkäuferin. Das alles ist in China hochgradig illegal. Außerdem ist es normal.
Nach dem Löschen der #MeToo-Einträge wichen die Aktivistinnen zunächst auf den Hashtag #MiTu aus. Das chinesische Schriftzeichen für „mi“ bedeutet Reis, „tu“ heißt Hase. Damit hatte die Bewegung ein Logo: den Hasen mit einer Schale Reis. Dieses Zeichen taucht an Häuserwänden und Klotüren auf, als Aufkleber, als Graffito. Eine bekannte Aktivistin nannte sich im Internet Da Tu – Große Häsin. Sie ist eine Freundin von Zhang und Xiao, eine von denen, die ihre Wohnung wegen der Aktionen der beiden verloren. Außerdem ist die Große Häsin eine der „Feminist Five“, die 2015 verhaftet wurden, weil sie Demos organisierten. Eine gegen häusliche Gewalt, eine für mehr öffentliche Frauenklos. Auf die Frage, warum sie für so etwas wohl verhaftet wurde, antwortet die Große Häsin, dass sie sich auch nicht ganz sicher sei. „Ich vermute, für diese Leute ist es leicht, jemanden zu verhaften. Das ist einfach normal.“ Ein anderer Grund, sagt sie, sei wohl die Angst vor dem Kontrollverlust: „Das Problem für die Obrigkeiten ist nicht die Sache selbst, sondern die Furcht, dass sie irgendwie aus dem Ruder läuft und die Bewegung dann nicht mehr zu bändigen ist.“ Der amtliche Wille zur Kontrolle sei inzwischen beängstigend. Das betreffe nicht nur feministische Aktionen. Andere bürgerrechtliche Bewegungen, etwa Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen, seien davon noch stärker betroffen.
Trotzdem, sagt die Große Häsin, sei sie optimistisch. Ein Grund dafür: #MiTu, der Reishase, wird immer bekannter. Nach dem Brief der Studentin als erstem Aufreger gab es im vergangenen Jahr einen zweiten großen Knall, als sich im ganzen Land bekannte Fernsehjournalistinnen öffentlich über sexuelle Drangsalierungen durch ihre Chefs beschwerten. Auch der Leiter einer bekannten Hilfsorganisation geriet ins Kreuzfeuer. „Ich kannte den persönlich‘: sagt die Große Häsin. „Der ließ immer den Gutmenschen raushängen. Was für ein Heuchler.“ Die Aktivistinnen Zhang Leilei und ihre Freundin Xiao Meili erzählen, #MeToo habe so viel Schwung entwickelt, dass die Bewegung von selbst größer wird: „Wie eine Lawine.“ Die Verantwortlichen zum Schweigen zu bringen, wird immer schwieriger, weil inzwischen so viele zu diesem Thema online diskutieren, es gibt keinen klar definierten Ursprung mehr. Und doch haben die Repressionen Konsequenzen. Xiao Meili musste Guangzhou verlassen – dem Druck der Polizei konnte sie nicht standhalten. Zunächst zog sie ins eher provinzielle Chengdu, ihre Heimatstadt, tief im Inneren des Landes. Ihre Freundin, Zhang Leilei, war inzwischen schon nach England ausgewichen. Xiao folgte ihr im Dezember, die beiden wohnen seit gut drei Monaten zusammen in London. Aber Ende des Jahres möchte Xiao wieder rück nach China, am liebsten nach Guangzhou, da weitermachen, wo sie vergangenes Jahr aufgehört Ob die Polizei sie in Ruhe lassen wird, nachdem ein paar Monate lang nicht hat sehen lassen? sagt sie. „Wir werden schauen, wie es weitergeht.“