Einfach mal aufstehen, wenn andere Menschen belästigt oder beschimpft werden, und versuchen einzuschreiten gegenüber einem fremdem Aggressor. Würden Sie das tun? Dann besitzen Sie genügend Zivilcourage, um sich gegen Unrecht aufzulehnen und nicht wegzusehen, wenn ein anderer in „Not“ ist. Die meisten von uns jedoch, so zeigt es die Praxis, schauen lieber weg oder tun so, als ginge sie die Situation nichts an. Aus Angst, selbst in Schwierigkeiten zu geraten oder selbst attackiert zu werden. Man muss ja nichts tun, es genügt ja, wenn man laut „Stopp“ sagt, oder etwas ähnliches, um die Situation zu entschärfen. Deeskalierend wirken, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Die Beispiele eines Reporter-Kollegen zeigen jedoch, was es heißt, wenn man plötzlich im Mittelpunkt einer verbalen Attacke steht, die dann in Gewalt auszuarten droht. So geschehen im vergangenen Jahr in einer deutschen Großstadt: An einem der warmen Abende dieses Jahres saß ich in einem Bus des Hamburger Verkehrsverbunds und freute mich auf zu Hause. Ich trug kurze Hosen, spürte sofort, als auf meinem Knie ein Klumpen Rotz landete. Ich schaute auf und sah einem Mann ins Gesicht, der mir breitbeinig gegenübersaß. Er trug eine Bomberjacke, hielt eine Flasche Bier in der Hand und hatte ausrasierte Schläfen. Er blickte mich aus wütend zusammengekniffenen Augen an. Ich wollte etwas sagen, aber ich wusste nicht, was. Er spuckte ein zweites Mal auf mein Bein. Dazu fluchte er: »Verpiss dich, du scheiß Schwuchtel, tanz nicht so schwul vor meiner Nase rum, sonst knallt’s.«
Ich hatte in diesem Moment keine Mittel. Ich fand keine Worte und keine richtige Reaktion. Ich fühlte mich hilflos. Ich sah mich im Bus um. Die anderen Gäste mussten das mitbekommen haben. Ich hoffte, dass irgendjemand irgendetwas unternehmen würde. Ich war mir sicher, dass es einen Akt der Solidarität geben würde. Aber es kam nichts. Der Mann pöbelte weiter, man konnte ihn gut verstehen. Alle anderen hatten aufgehört zu reden. Die meisten schauten aus dem Fenster. Hier würde nichts Gutes mehr passieren, so viel war klar. Ich quetschte mich nach vorn und setzte mich auf einen freien Platz. Ich war wie benommen. Es war ein schreckliches Gefühl, Opfer zu sein. Noch schrecklicher war es, dass niemand etwas dagegen unternahm. Meine Wut auf die Leute, die nichts getan hatten, war größer als die Wut auf einen Asozialen, der mich bespuckt hatte.
Es werde bedrohlich für die Gesellschaft, wenn sich die Anständigen nicht einmischten, sagte Außenminister Heiko Maas nach den Vorfällen in Chemnitz. Da hat er wohl recht, aber das sollte auch für Sachen gelten, die sich in Linienbussen ereignen. Wenn man anfängt, sich mit der Frage zu beschäftigen, warum man so selten Menschen mit Zivilcourage begegnet, stößt man erst mal auf Fälle, die meinem Erlebnis im Bus ähnlich sind: Ende März startete die linke Politikerin und Publizistin Jutta Ditfurth einen Zeugenaufruf auf Facebook, nachdem ihr in einem voll besetzten ICE mit einer Eisenstange von hinten auf den Kopf geschlagen worden war. Im Mai schrieb mir eine befreundete Journalistin, dass ihr in der Bahn in Wien ein Mann sein erigiertes Glied in die Hüfte gedrückt habe, und obwohl sie den Typen zur Rede gestellt habe, ihr niemand zu Hilfe gekommen sei. Ende April erzählte mir eine muslimische Jurastudentin, dass sie am S-Bahnhof Friedrichstraße in Berlin von einem Mann zu Boden gestoßen und als »Kopftuchschlampe« und »Moslemhure« beleidigt worden sei. Sie sagte mir danach: »Es ist nicht der Mann, der mir am meisten Angst gemacht hat, sondern die Passanten, die wie paralysiert herumstanden, zuguckten, nichts taten.«
Mich schockieren solche Schilderungen vor allem deshalb, weil der Aufschrei jedes Mal groß ist, wenn einige dieser Fälle im Nachhinein öffentlich gemacht werden. Auf Twitter und Facebook empören sich die Leute und versichern einander, dass man eingreifen werde, ja eingegriffen hätte, wäre man selbst dabei gewesen. »Gratismut« hat Hans Magnus Enzensberger so ein Verhalten genannt, das couragiert tut, aber nichts kostet. Und die Journalistin und Schriftstellerin Gabriele von Arnim hatte 1992 in ihrer Laudatio auf die Geschwister-Scholl-Preisträger Wolfgang Benz und Barbara Distel gemahnt: »Gratismut ist das Privileg der Demokratie, Zivilcourage die Voraussetzung für ihren Bestand.«
Ich habe Recherchen angestellt zu zwei Fragen. Erstens: Wie kann man Zivilcourage in den Menschen wecken? Zweitens: Warum gibt es sie so selten? Zu Frage eins gibt es so gut wie keine Antworten. Nur Vorbilder. Leute wie Dominik Brunner oder Tugqe Albayrak, die für ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt haben. Zu Frage zwei stößt man auf Sätze wie den von der Zürcher Psychologieprofessorin Veronika Brandstätter-Morawietz: »Es gibt eine vielfach empirisch belegte Diskrepanz zwischen Werten und Handeln.« Belegt werden kann das zum Beispiel durch die über zehn Jahre andauernde Langzeituntersuchung »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« des Sozialforschers Wilhelm Heitmeyer. 60 Prozent der Befragten berichteten dabei, dass sie in ihrer Umgebung ablehnende Äußerungen über Ausländer mitbekommen hätten, 15 Prozent sogar Übergriffe auf Migranten. Nur ein Drittel bis zur Hälfte gab an, in den Situationen auch etwas unternommen zu haben.
Wissenschaftlich erwiesen ist wohl auch: Wenn mehrere Leute zuschauen, lässt die Wahrscheinlichkeit nach, dass sie eingreifen. Bystander-Effekt nennt die Lehre dieses Phänomen. Woran das liegt? Daran, dass man sich sagt: Wenn kein anderer außer mir eingreifen will, wird’s schon nicht so schlimm sein (was der Wissenschaftler »Pluralistische Ignoranz« nennt). Daran, dass man denkt: Hier sind so viele Leute, da muss nicht unbedingt ich eingreifen (wissenschaftlich »Verantwortungsdiffusion«). Daran, dass man meint: Wenn ich jetzt was falsch mache, habe ich auch noch die anderen zum Gegner (»Bewertungsangst«). Schön. Und was lernt man jetzt daraus? Vielleicht, dass bei meiner Fahrt im Linienbus alles vollkommen normal ablief. Ein bisschen pluralistische Ignoranz, ein bisschen Verantwortungsdiffusion, ein bisschen Bewertungsangst. Kann man nichts gegen machen. Muss man eben mit klarkommen.
Nachdem ich den Platz im Bus gewechselt hatte, hörte ich, wie der Mann die zwei dunkelhaarigen Männer, die neben mir gestanden hatten, anschrie. »Ey, ihr Kanaken, was wollt ihr? Verpisst euch!« Ich sah, wie er einem der beiden ins Gesicht spuckte und dem anderen beim Aussteigen seine leere Bierflasche hinterherschleuderte. Ich sah, wie einer der beiden zurückging in den Bus und dem Mann einmal kurz zwischen die Augen schlug. Der Mann blutete. Er sagte nichts mehr. So geht es auch, dachte ich.