Die Ärmsten kommen zu ihnen, weil sie für Krankenhäuser und teure Arztbesuche kein Geld haben, aber dennoch die Hoffnung auf Heilung noch nicht aufgegeben haben. Gemeint sind die sogenannten Kinderheiler, kleine Missionare, denen man eingeredet hat, sie seien befähigt, Kranke zu heilen. Vorbei an der Humanmedizin, durch Handauflegen und magische Kräfte. Natürlich ist alles nur Scharlatanerie, bei der die Eltern der kleinen Wunder-Menschen reich, und die Armen um ihr Geld gebracht werden. Auch wenn es angeblich einige Erfolge bei Heilungen in der Vergangenheit gegeben haben soll, so sind solche Handauflegungen bei uns undenkbar und entbehren jeder wissenschaftlich-medizinischen Basis.
Geschickt, wie Kinder und Jugendliche von klein auf manipuliert werden, damit sie später selbst an ihre „Wunder-Gabe“ glauben. So wie bei Alani. Die erste Wundertat, so weiß Alani aus Erzählungen, habe sie schon als Embryo im Mutterleib vollführt — in Schwangerschaftswoche 28. Es handelte sich um die Heilung einer krebskranken Frau, die den schwangeren Bauch ihrer Mutter berührte, in Trance fiel und danach ohne Metastasen blieb.
Wundertat Nummer zwei, so hat man ihr versichert, leistete sie im Alter von 51 Tagen: die Rettung einer jungen Mutter, die einen grapefruitgroßen Tumor im Darm hatte, der sich plötzlich auflöste. Von da an erinnert sich Alani, zwölf Jahre, an so ziemlich jede einzelne der folgenden 6360 Wunder- heilungen, und jetzt, man möge sie entschuldigen, stehen weitere 100 an. „Wohl 200″, sagt ihr Vater und schaut auf die versammelte Menschenmenge. „Eher 100″, sagt Alani trocken.
Es ist ein feuchtheißer Abend im Armenviertel Itauna am Rand der Trabantenstadt Säo Gongalo, 30 Kilometer von Rio de Janeiro. Alanis Vater, Pastor Adauto Santos, hat für die heutige Massenheilung die Turnhalle einer Schule angemietet. Er nennt seine religiöse Bewegung die „Internationale Mission für Wunder“ und wirbt auf Plakaten mit dem Kurieren von Aids, Krebs, Zika, Drogensucht und allen sonstigen Heimsuchungen der brasilianischen Unterschicht.
Unter den hoffnungsfrohen Patienten ist Elena, eine todgeweihte Frau, die im Körper die Tumore aus fünf Jahren Krebs trägt. Da ist die alleinerziehende Mutter Diumelia, der die Zuckerkrankheit schon das linke Bein geraubt hat. Und Matheus, 16, der vor fünf Jahren sein Augenlicht verlor. Für sie, alle ohne Krankenversicherung, ist Alani die letzte Hoffnung. Sie selbst sagt es etwas anders: „Ich bin das Werkzeug Gottes.“ Ihr Vater mag es konkreter. Sie sei die junge Ausgabe von Jesus Christus, der ja auch Leprakranke heilte. „In der Bibel steht, wenn ihr nur glaubt, werdet ihr Wunder vollführen können.“ — Auch Sie? „Auch ich habe schon geheilt. Aber meine Tochter ist viel weiter. Sie hat ja auch früh angefangen. Die kleine Missionarin hat schon eine Massenheilung von 4000 Menschen in der Hauptstadt Brasilia vollführt“, erklärt der Vater stolz. Er redet von seiner Tochter nur in der dritten Person: a Missionarinha. Die kleine Missionarin.
Selbst ernannte Wunderheiler gehören zur Grundausstattung Brasiliens wie abgeholzte Regenwälder und korrupte Politiker, aber sie werden immer jünger. Kinder sind so etwas wie der letzte Schrei im Kampf der Kirchen um neue Seelen. Die Kinder hätten ihre magischen Fähigkeiten von Gott in die Wiege gelegt bekommen, behaupten die Verfechter. Kritiker entgegnen: In Zeiten von Kinderstars und Kindermodels haben religiöse Abzocker einfach eine Marktlücke entdeckt. Der blinde Matheus ist für seine Heilung drei Tage unterwegs gewesen. Er ist den steilen Hügel der Favela Salgueiro hinabgestiegen, durch einen Parcours aus Müllbergen und Schlaglöchern, den zu bewältigen schon Sehenden schwer genug fällt. Der Arzt hat ihm gesagt, dass er nach seiner Meningitis-Erkrankung nie wieder wird sehen können. Matheus aber will das nicht wahrhaben. Er will die Tore seines Lieblingsvereins Flamengo wiedersehen und die Brüste von Mädchen. Vier Monate hat er seine Mutter bearbeitet, um der Missionarinha begegnen zu dürfen. Überall haben Matheus und die anderen Patienten von der Missionarinha gehört, dem „Engel aus Rio“, der „Heilerin des Herrn“. Ihre Kirche wirbt mit dem Satz: „Hier geschehen Wunder“ — ein zeitgemäßer Slogan in einer zunehmend irrationalen Welt, in der Demagogen verkünden, sie könnten Länder im Handumdrehen „great“ machen. Wenn narzisstische Bullys Präsidenten werden können, warum Kinder dann nicht Prediger?
Alanis Vater betritt die Bühne in Anzug und Krawatte. Er war mal Autohändler, bevor er zu Gott fand und zum Pastor der Wunderkirche wurde und Manager seiner Tochter. Oder umgekehrt. Er präsentiert jetzt Menschen, die beschwören, von Alani geheilt worden zu sein — „ohne Operation, im Moment der Berührung verschwinden die Krankheiten“. Er greift sich ein Mikrofon, blickt in die Runde und fragt, wer im Namen des Herrn übernatürliche Hilfe braucht. Dutzende melden sich.
Pastor Adauto übernimmt die Moderation wie in einer TV-Show. Er legt jovial seinen Arm um die Patienten und interviewt sie nach dem immer selben Schema: „Du hast also Krebs, Elena? Ja. Und die Ärzte sagen, es muss operiert werden? Ja. Aber du hast kein Geld? Nein. Bitte, Missionarinha, schreite zur Tat“, ruft er mit dem Pathos eines Zirkusdirektors.
Nun betritt Alani die Bühne. Sie trägt ein schwarzes Kleid und ihre langen Haare offen und unter den Augen dunkle Ringe von den zahlreichen Einsätzen an der Bekehrungsfront. Die Musik vom Band wird nun dramatischer, sie klingt wie aus dem Film „Titanic“. Es ist das Zeichen für den heiligen Geist, nun durch die Turnhalle zu strömen. Alani tritt an die Kranken heran, sie hält die Hand auf ihre Köpfe, dann auf die kranken Organe, Leber, Herz, auch auf die Augen von Matheus. Sie haucht ihnen ins Gesicht, sie lasse nun Jesus wirken, wird sie später erklären. Die Patienten kippen unter tatkräftiger Hilfe einiger Assistenten nach hinten und fallen in eine Art Trance. „Halleluja“, rufen die Assistenten, die aussehen wie Türsteher. „Gott ist hier. Alani ist groß.“ Alani selbst blickt einigermaßen verschüchtert angesichts des Dramas. Ihre Hände umklammern den Saum des Kleids. Für einen Augenblick steht da: ein zwölfjähriges Mädchen. Nach einigen Minuten werden die Patienten aus dem Schlaferweckt. „Na, wie wars?“, fragt Pastor Adauto. „Ich habe etwas Heißes gespürt, irgend- etwas ist über mich gekommen“, sagt Elena. „Und dein Tumor? Glaubst du, geheilt zu sein? Ich weiß nicht, ich hoffe. Wer hat dich geheilt? Jesus.“
Die Gemeinde bricht in lauten Jubel aus. Der blinde Matheus versucht zu sehen, aber es will nicht funktionieren. „Man muss fest glauben“, sagt Adauto. „Bringt andere Leidende in die Kirche“ verkündet er. „Und noch etwas: Wir erhalten vom Staat keinerlei Hilfe für unsere Werke. Wenn ihr Geld übrig habt, gebt.“
In Sachen Religion ist Brasilien ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Aus Europa kamen die Katholiken, aus dem Regenwald die Naturreligionen, aus Afrika Macumba, aus den USA evangelikale Missionare. So haben sie im Land der Musik, Telenovelas und Schönheitsköniginnen ihren ganz eigenen Synkretismus geformt, eine Art Schmelztiegel des Glaubens.
Freikirchen wie die von Alani sind dabei, der katholischen Kirche den Rang abzulaufen. Im größten katholischen Land der Welt sind heute nur noch 50 Prozent Katholiken. Die meisten wechseln zur Assembleia de Deus, der größten evangelikalen Bewegung. Sie lehrt, dass Gott durch jede Person wirken kann, nicht nur durch Pastoren. Wenn man so will, steht sie für die Demokratisierung der Religion. Wenn sich Blogger als Journalisten sehen und Youtuber als Meinungsmacher, warum dann nicht Kirchgänger als Propheten? Die frohe Botschaft lautet nicht mehr: Liebe deinen Nächsten. Sondern: Wir sind alle Superhelden.
Nach der Heilungszeremonie bittet Pastor Adauto zum Gespräch in sein Büro. An der Wand hängen die Plakate seiner vergangenen „Kreuzzüge der Wunder“. Er hat Patienten aus Italien, Georgien, Japan, er bekommt Medienanfragen aus aller Welt. „Ich mache vorher meine Recherchen, auch über Sie“, sagt er mit drohendem Unterton. Mit Europäern habe er schlechte Erfahrungen gemacht, sie seien skeptische Menschen. Und auch das Arbeitsministerium bereite Probleme, es sieht Alanis Wirken als Kinderarbeit. Dabei mache sie die Heilungen nur einmal pro Woche, verteidigt er sich. Mittwochs liest sie den Menschen nur die Zukunft.
Man könne es durchaus so wie das Ministerium sehen, wenden wir ein. Er lebt von der Arbeit seiner Tochter. Seine ganze Kirche lebt von ihr. Er hat eine Marktlücke gefunden auf dem überhitzten Basar der Zungenredner, Opferbeschwörer, Wahrsager. Adauto setzt zu einer Verteidigungsrede an: Als sich Besucher beschwerten, dass er sein Kleinkind zu Profitzwecken missbrauche, habe er Alani für einige Monate kaltgestellt. „Aber sie weinte, wurde krank, aß nicht mehr, bis sie wieder heilen durfte. Es ist eben ihre göttliche Berufung. Wir dürfen sie der Menschheit nicht vorenthalten.“
Dürfen wir mit Alani darüber sprechen? „Die Missionarinha wird demnächst zum Gespräch bereit sein“, kündigt er staatsmännisch an, als handele es sich um eine Audienz beim Papst.
Sechs Wochen später treffen wir Matheus und dessen Mutter Cida am Fuß ihrer Favela. Er ist noch immer blind. „Alani sagt, man muss nur fest glauben, aber ich glaube doch“, sagt er mit herzzerreißender Enttäuschung. „Er glaubt so sehr an Alani“, ergänzt seine Mutter. „Er betet den ganzen Tag.“ „Was kann ich sonst auch tun? Ich bin eingesperrt.“ „Ich habe weder Geld noch Zeit, um dich draußen zu begleiten“, sagt sie.
Matheus da Cunhas Leben zeigt die tiefe Krise Brasiliens. Da es zu wenig Geld für Lehrer gibt, fällt sein Unterricht aus. Da der Staat fast pleite ist, fehlen Medikamente für seine Behandlung. Da die Stadt die Buspreise drastisch erhöht, können sich Arme wie er die Fahrt nicht mehr leisten. In Zeiten wie diesen wenden sich Menschen Heilsversprechern zu, Scharlatanen und Demagogen. „Kennst du keine anderen Heiler?“, fragt Matheus den Reporter verzweifelt. „Ich versuche alles.“ Es gibt inzwischen mehrere Tausend Kinderprediger in Brasilien. Sie heißen Maria de Grasa Silva, 13, aus Säo Paulo oder Matheus Moraes aus der Favela Cidade de Deus in Rio. Ihre Geschichten sind oft bewegend: Sie kommen von ganz unten, haben einen Sinn im Leben gefunden und wollen andere an ihrem Glauben teilhaben lassen. Auch ihre Gottesdienste ähneln sich, sie reden ohne Pause, brüllen, weinen, versprechen, tanzen, sie predigen, wie Brasilianer Fußball spielen.
Daniel Pentecoste, 15, aus Curitiba ist so etwas wie die Nummer zwei im Land nach Alani. Im Vergleich zu ihr ist er ein Spätstarter, er begann seine Karriere erst nach der Geburt mit vier Jahren. „Ich habe gepredigt, ohne überhaupt lesen zu können“, sagt er. Sein Vater hat daraufhin das Leben als Unternehmer geschmissen, um mit Daniel als Wanderprediger durchs Land zu reisen. „Wir sind 24 Stunden im Einsatz für Gott“, sagt der Vater.
An diesem Abend sind sie in Inhumas gelandet, einer Kleinstadt im Landesinnern. In der Kirche erwarten ihn 250 Besucher. „Naja. Ich habe schon mal für 60 000 gepredigt“, prahlt Daniel. Er wird als Prophet Daniel angekündigt und redet los wie ein amerikanischer TV-Prediger. Er segnet, umarmt, schreit, er läuft zwischen den Bänken hindurch, animiert, ballt die Faust. Wenn Gottesdienst in Deutschland als besinnlich gilt, dann ist das hier Rock ’n‘ Roll. Da Daniel keiner Kirche angehört, lebt seine Familie von dem, was er mit CD-Verkauf und Kollekte erwirtschaftet. „Wir wollen mal einen eigenen TV-Sender haben“, erklärt der Vater. Aber Daniel müsse sich beeilen. „Er ist schon 15 und verliert sein Markenzeichen, das Kindliche.“ Nach dem Gottesdienst umzingelt den Propheten Daniel eine Traube kichernder Mädchen. „Ich bete für euch“, sagt er. Er betet nun für ihre Jungfräulichkeit. Später sitzt er bei einem Glaubensbruder auf der Couch und präsentiert seine Best-of Videos. „Mehr als eine Million Klicks auf Youtube“, sagt er über eine seiner Predigten. „Sie bewegen mich immer wieder.“ Er hat sich den Künstlernamen Daniel Pentecoste zugelegt, weil er hofft, damit den internationalen Durchbruch zu schaffen. Wir kriegen jetzt eine Kongressabgeordnete als Managerin“, wirft der Vater ein. „Das können Sie exklusiv vermelden.“
Die Heilung von Matheus übernimmt Daniel sofort. „Ich bin nicht Jesus“, sagt er. „Aber ich versuche, in seine Fußstapfen zu treten.“ Jesus, so erklärt er, habe ihn für göttliche Offenbarungen auserwählt. „Er heilt auch durch mich.“ Daniel betet jetzt für den blinden Matheus, er betet ungefragt auch für den Reporter. „Auch du kannst heilen, wenn du dich nur zu Gott bekennst“, gibt er mit auf den Weg.
In den folgenden Monaten halten wir Kontakt zu Alanis Patienten und besuchen ihre Kirche im Stadtteil Alcantara immer wieder. Ihre sogenannten Heilungen folgen dem immer selben Prinzip, aber sie nehmen absurdere Formen an. „Gibt es hier Krebs?, ruft ihr Vater durch den Saal wie ein Marktschreier. „Werft eure Brillen weg. Ihr braucht sie nicht mehr.“ Und er versichert: „Alle, die an Gott glauben, bekommen kein Dengue oder Zika.“ Irgendwann empfängt Alani uns zum Interview. Sie sieht aus der Nähe noch etwas müder aus. Sie führt das Doppelleben eines an sich hochintelligenten Mädchens: Privatschule, Englischkurse, Sport. Danach Wahrsagen, Radioshows, Heilungen per Skype. „Ich bin ja schon etwas länger dabei“, sagt sie und klingt wie eine Veteranin. „Warum wurdest ausgerechnet du ausgewählt?“, will man wissen. „Weiß nicht. Das war nicht meine Wahl, sondern eine überirdische. Siehst du dich wie dein Vater als Jesus‘ Nachfolgerin?“ Sie zögert nun ein wenig. Ihr Vater springt ein: „Jesus selbst sagte, ihr werdet noch größere Taten als ich vollbringen.“ — Und du, Alani, was denkst du? „Weiß nicht“, sagt sie. Sie wirkt etwas genervt. Sie will shoppen gehen. Die Patienten, die wir sprachen, wurden alle nicht geheilt. Elena ist gestorben. Matheus ist immer noch blind. „Er muss nur glauben.“ Er glaubt, wie einer nur glauben kann. „Es braucht Zeit“, weicht Alani aus. „Es gibt die Sofortheilung und die graduelle Heilung.“ „Es gibt auch jede Menge Scharlatane. Sie entlocken den Ärmsten Geld.“ Da sagt sie nichts mehr. Ihr Blick sagt, dass sie jetzt genug hat. Und du, wollen wir schließlich wissen, was wirst du aus deinem Leben machen? „Ich will Ärztin werden.“ Warum? Deine Heilungen sind doch angeblich viel wirkungsvoller. „Ach“, sagt sie erschöpft. „Ich glaube, ich will einfach Ärztin werden.“