Mit Kanonen auf Spatzen schießen: Wenn der Staatsschutz und der Generalbundesanwalt sich einmal festgebissen haben, dann lassen sie nicht locker und fahren die größten Geschütze auf – auch wenn sie sich in die falsche Richtung verrannt haben. Dann werden Verdachtsmomente zu Tatsachen umgemodelt, dann werden bloße Vermutungen zu knallharten Fakten. Hauptsache, man kann einen Schuldigen präsentieren. Auch wenn der überhaupt nichts gemacht hat. So wie im Fall von Thomas Meuter, dem als Rüstungsmanager vorgeworfen wurde, Staatsgeheimnisse offenbart zu haben. Und alles nur, weil ihn ein ehemaliger Wegbegleiter beschuldigt und wie sich herausstellte, falsch verdächtigt hat. Solche und ähnliche Fälle gibt es öfters in deutschen Landen, und zu guter Letzt will es niemand gewesen sein, will niemand die Verantwortung übernehmen. In der Asylpolitik, bei Abschiebungen oder in der Flüchtlingspolitik gibt es keine Entscheidungen, wird alles auf die lange Bank geschoben. Besonders Straftäter werden nicht abgeurteilt, Rückführungen nicht umgesetzt oder der Schutz der Außengrenzen bleibt mangelhaft. Aber innerdeutsche Probleme werden besonders gerne an die große Glocke gehängt, da werden Kapazitäten sinnlos verschleudert. Das Rechtssystem verkommt zu einer Lachnummer, Richter und Staatsanwälte sind überfordert, aber im Einzelfall werden die Mittel komplett überzogen und das führt zu Skandalen, die keiner verantworten will und die auch unbescholtene Bürger zu Opfern machen. Beispielhaft für unser Justizversagen ist der nachfolgende Fall, den der „Spiegel“ vor einigen Monaten ausgegraben und recherchiert hat. Dabei offenbart sich ein absurdes Possenspiel, das seiner aufgebauschten Wirkung unwürdig ist. Aber dennoch nur ein Beispiel von vielen ist – Justizirrsinn in seiner Reinform.
Es geht um die bis dahin unbescholtene Person eines Rüstungsmanagers: Thomas Meuter war der Staatsfeind Nummer eins in Köln-Ossendorf. Wenn andere Häftlinge im dortigen Gefängnis in den Hof gingen, musste er in seiner Zelle bleiben. Wenn er in die Knastbibliothek ging, wurde sie vorher geräumt. Wenn er zum Training in den Kraftraum wollte, durfte kein anderer Gefangener dort sein. Wenn die anderen gemeinsam aßen, saß Meuter allein in seiner Zelle. Der Rüstungsmanager, vom Generalbundesanwalt beschuldigt, ein Staatsgeheimnis verraten zu haben, durfte keinerlei Kontakt zu den anderen Häftlingen haben. Fast sechs Monate saß er in Untersuchungshaft, völlig isoliert. An einem Spätnachmittag im Sommer sitzt dieser gefährliche Mann im Büro seines Kölner Anwalts Christian Reetz. Unter seinem karierten Kurzarmhemd wölbt sich ein gemütliches Bäuchlein. Ein grauer Bart umrahmt sein rundliches Gesicht. Manchmal stockt er beim Sprechen, verliert sich in Details. Seit einem Tag ist Meuter auf freiem Fuß. Er könnte sich nun freuen, dass womöglich alles bald vorbei ist. Aber das ist es nicht. Er hat seinen Job verloren. Und vielleicht muss er demnächst wieder vor Gericht. »Dabei habe ich mit der ganzen Geschichte nichts zu tun«, sagt Meuter.
Die Geschichte, die ihm anhängt, beschreibt den Sumpf zwischen Rüstungsindustrie und Politik. Doch sie handelt auch von Freundschaft und Verrat. Die Hauptpersonen sind Thomas Meuter, der mutmaßliche Staatsfeind, und sein langjähriger Freund Eduard K. , ein ehemaliger Kampfpilot, der als Lobbyist für den Rüstungskonzern und Bundeswehrlieferanten ESG gearbeitet hat. Die Handlung spielt in dem für Außenstehende intransparenten Milieu aus Rüstungsindustrie, Politik und Militär. Doch es geht in ihr um mehr als den Verrat von Dienstgeheimnissen und womöglich damit verbundene Millionenaufträge für die Industrie. Der Generalbundesanwalt wirft Meuter und K. weit mehr vor: das »Offenbaren von Staatsgeheimnissen«. Im Strafrecht steht das Delikt direkt hinter dem Landesverrat. Als Beamte des Bundeskriminalamts Meuters Freund Eduard K. im Januar verhafteten, hofften sie, ihren Fall bald aufzuklären.
Über Monate hatten sie gegen K. ermittelt, seine E-Mails gelesen und sein Telefon abgehört. Zeugen hatten ihnen geschildert, dass er im Herbst 2016 einem Kollegen ein brisantes Dokument (»Geheim — amtlich geheim gehalten«) zugeschanzt habe. Es trug den sperrigen Titel »Entwurf der Erläuterungsblätter zum Einzelplan 14«. Darin fanden sich auf 51 Seiten Ergänzungen zum Verteidigungshaushalt für das Jahr 2017. K. zierte sich nicht lange. Ohne Rechtsanwalt stand er den Fahndern zwei Stunden und 45 Minuten Rede und Antwort — und gab alles zu. Ja, er habe das Geheimpapier gehabt. Ja, er habe es seinem Chef und einem Kollegen übergeben. Und er nannte den Mann, von dem er angeblich das Papier hatte: seinen Freund Thomas Meuter. Die Ermittler waren mitten in der Rüstungsindustrie gelandet: Meuter war Pressesprecher von Dynamit Nobel Defence, einem aus der legendären Sprengstofffirma von Alfred Nobel hervorgegangenen Unternehmen, das heute einem staatlichen israelischen Konzern gehört. Und auch K‘s Arbeitgeber ESG in Fürstenfeldbruck hat eine große Geschichte, das Unternehmen wurde einst von AEG-Telefunken, Siemens und anderen gegründet, um Elektronik für Kampfflugzeuge zu entwickeln. Noch am selben Tag rückte die Polizei bei Meuter zu Hause an. Sie nahm ihn fest, beschlagnahmte stapelweise Unterlagen. Es fehlte jetzt nur noch die Quelle für das Geheimdokument — glaubten die Ermittler. Eine Spur führte sie ins Büro des Bundestagsabgeordneten Karl A. Lamers (CDU), des stellvertretenden Vorsitzenden im Verteidigungsausschuss. Der Fall hatte das Potenzial zu einer Affäre.
Das Dokument zum »Einzelplan 14« war nach Einschätzung der Ermittler nicht irgendein vertrauliches Papier. Wer es weitergebe, führe die »Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland« herbei, schrieben sie später in ihrer Anklageschrift gegen Meuter und K. Das Papier erlaube Rückschlüsse auf die »aktuelle und anvisierte Schlagkraft der Bundeswehr«, ja sogar der Nato. Eine fremde Macht könne im Krisenfall mithilfe des Papiers einschätzen, ob Deutschland »in der Lage und willens wäre, nötigenfalls auch mit militärischen Mitteln zu handeln«. Doch der ganz große Skandal blieb vorerst aus. Alle Beschuldigten — Meuter, K. und ein weiterer ESG-Manager — sind auf freiem Fuß. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat die Anklage der Bundesanwaltschaft mit der kurzen, aber schmerzhaften Begründung zurückgewiesen, dass gar keine Straftat vorliege. Die äußere Sicherheit der Bundesrepublik sei nie bedroht gewesen. Nun muss der Bundesgerichtshof entscheiden. Es spricht viel dafür, dass Meuter zu Unrecht beschuldigt wurde. Einziger Beweis gegen Meuter ist die Aussage K‘s. Mehr konnten die Ermittler nicht finden. Im schlimmsten Fall könnte sich zeigen, dass die Justiz einen Mann in Haft ließ, der mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun hatte.
Was war passiert?
Meuter schrieb als Journalist für den »Behörden Spiegel« über Militärthemen, als er vor mehr als zehn Jahren den ESG-Lobbyisten K. kennenlernte. Es war eine lockere Bekanntschaft, die sich 2009 intensivierte: Meuter wurde Pressesprecher bei Dynamit Nobel Defence und wechselte damit quasi in K‘s Lager. Sie bewegten sich in einer illustren Gesellschaft aus Ex-Militärs, die ihr Geld bei Waffenherstellen verdienen, Parlamentariern und deren Mitarbeitern, Ministeriumsbeamten, Verantwortlichen der Bundeswehr.
Es ist ein verschlossenes Milieu, das regelmäßig öffentlicher Kritik ausgesetzt ist. Immer wieder gibt es den Verdacht, dass Militärs, Manager und Beamte um Aufträge in Millionen- und Milliardenhöhe schachern. Die Mitglieder dieses Klubs dagegen sehen sich als Patrioten, die das Vaterland verteidigen — indem sie die Bundeswehr mit Rüstungsgütern versorgen. Sie treffen sich bei Gesprächskreisen und Empfängen, bei Vorträgen, Jubiläen und Festakten. Unternehmen veranstalten parlamentarische Abende und Treffen speziell für die Mitarbeiter von Bundestagsbüros. Es werden gemeinsame Reisen zur Nato nach Brüssel organisiert. Die Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik bietet ihren Mitgliedern sogar Termine an, die wie ein Speeddating-Event anmuten: Im Takt von 18 Minuten können die Herren der Rüstungsindustrie deutsche und ausländische Militärattachés treffen. Es gibt in dieser ehrenwerten Gesellschaft einen regen Austausch von Informationen — inklusive sicherheitseingestufter Informationen. Ehrfürchtig berichten Insider von altgedienten Rüstungsmanagern, die in ihren Schränken solche Dokumente hüfthoch gelagert haben sollen.
Die Kontakte zwischen Meuter und K. wurden mit der Zeit immer enger. Man telefonierte regelmäßig. Zu Weihnachten übermittelte man sich gute Wünsche für die Festtage. Gemeinsam reisten die beiden 2016 nach Frankreich und besuchten dort eine Gedenkfeier für Oswald Boelcke, einen legendären Jagdflieger, der 1916 abgestürzt war. Für den Luftwaffen-Enthusiasten Meuter war der Ausflug ein besonderes Erlebnis. »Ohne K. wäre ich dort sicher nicht hingekommen«, erinnert er sich. Das Verhältnis der beiden kühlte sich nach Meuters Angaben ab, nachdem K. als Lobbyist zum US-amerikanischen Konzern Boeing wechselte und Meuter sich auf dessen Nachfolge bei ESG bewarb. Die Gespräche über eine Einstellung liefen vielversprechend. Meuter erzählte K. davon. Kurz darauf sagte ESG ohne Begründung ab. Und es kam noch schlimmer: Meuters Chef bei Dynamit Nobel bestellte ihn ein und teilte ihm mit, man wolle sich von ihm trennen. Als Grund nannte er, dass Meuter sich bei einem anderen Unternehmen beworben habe. Meuter stand nun ohne den erhofften neuen Job da und war bei seiner alten Firma in Ungnade gefallen. Meuter hörte, dass K. die Gespräche bei einem Empfang in Berlin ausgeplaudert habe. Er glaubt, dass ESG ihm deswegen abgesagt hat. »Ich habe K. angerufen und ihm ordentlich die Meinung gegeigt«, sagt Meuter. Danach sprachen die beiden nur noch wenig. Doch reicht so ein Zerwürfnis, um einen Freund zu Unrecht anzuschwärzen? »Er wusste, dass ich ein ziemlich umfangreiches Archiv zu Hause habe«, sinniert Meuter. »Vielleicht dachte er, dass da auch eingestuftes Material drin ist.«
K. tritt an einem sonnigen Spätnachmittag im Sommer in seine Einfahrt. Er wohnt im Hinterhaus eines prächtigen Anwesens an der Mosel. Er trägt orangefarbene Boxershorts. Seine Füße stecken in Badelatschen und dünnen weißen Socken. Er ist ein kräftiger, untersetzter Mann. Man sieht ihm an, dass er früher einmal sehr gut trainiert war. Eigentlich schaut er gerade die Liveberichterstattung vom Nato-Gipfel in Brüssel im Fernsehen. K. ist misstrauisch. Ein kurzes Gespräch kommt zustande. Vielleicht könne man später einmal offiziell reden, im Beisein seines Anwalts. Doch dazu kommt es nicht. Und so muss es beim Inhalt des Gesprächs am Moselufer bleiben. K. sieht sich durch die Berichte über den Fall verunglimpft. Vor allem ärgert ihn, dass manche Medien den Austausch zwischen Industrie, Militär und Politik als verdächtig beschreiben. Und warum hat er ausgesagt, Thomas Meuter habe ihm das Geheimpapier gegeben? K. zuckt mit den Schultern. Er lässt durchblicken, dass es eben so war. Und außerdem habe er geglaubt, nicht in Untersuchungshaft zu müssen, wenn er aussage. Dass die Freundschaft dadurch endgültig in die Brüche ging? Schulterzucken.
Es steht nun Aussage gegen Aussage. Die Justiz hatte bis vor Kurzem nur K‘s Aussage. Die Fahnder hatten keine Zweifel an ihr. Alle Versuche, Beweise oder Indizien zu sammeln, die die Aussagen des Zeugen gegen Meuter untermauern, schlugen jedenfalls fehl. Bei K. selbst bekamen die Strafverfolger mit, dass er regelmäßig Umgang mit als »Verschlusssache« eingestuften Dokumenten hatte. Er verschickte sie per E-Mail, er deponierte einen ganzen Schwung an Papieren mit der Einstufung »VS — Nur für den Dienstgebrauch« im Keller der Offiziersgesellschaft in der Koblenzer Falkenstein-Kaserne, wo er Zugang hatte. In einer Mail verschickte er ein offenes Dokument an einen ESG-Topmanager mit dem Zusatz, der eingestufte Teil sei »natürlich interessanter«. Auch bei Boeing, wo er ab Herbst 2017 arbeitete, führte K. seinen fragwürdigen Umgang mit vertraulichen Papieren fort. So sehr, dass der Konzern dem Einhalt gebot, erfuhren die Fahnder, die Kirchberg abhörten. Sie bekamen mit, wie Boeing-Vertreter K. damit konfrontierten, dass er ein eingestuftes Dokument Kollegen zugänglich gemacht habe. Er gab zu, dass er ein solches Papier habe. Darin stehe, »was die Soldaten wollen«, er habe es einem Kollegen, »dem Antonio«, vorgelesen und dann zu Hause in den Papierkorb geworfen.
Ein paar Tage später telefonierte er wieder mit einem Boeing-Mann, und wieder ging es um Verschlusssachen. Nun verbot Boeing K., weiter mit solchen Dokumenten zu hantieren. Wenn ihm jemand geheime Papiere übergeben wolle, müsse er dies melden. Er dürfe in den nächsten Tagen keinen »Kundenkontakt« haben. Der Kunde, das war die Bundeswehr. Wenig später beendete Boeing deswegen die Zusammenarbeit mit K. Bei Meuter fanden die Ermittler dagegen nichts. Keine inkriminierenden E-Mails, keine anderen geschützten Papiere — und schon gar nicht den ominösen geheimen Entwurf der Erläuterungen zum »Einzelplan 14«. Auf den sichergestellten Kopien des fraglichen Papiers fanden sich keine Fingerabdrücke des mutmaßlichen Staatsfeinds. K. hatte behauptet, Meuter habe ihm das Dokument »aus Freundschaft« bei einer Veranstaltung in Koblenz übergeben, auf dem Parkplatz. Doch im fraglichen Zeitraum waren Meuter und K. nicht gleichzeitig bei einer Veranstaltung in Koblenz — eine gravierende Lücke in der Indizienkette der Bundesanwälte. Ähnlich erfolglos verlief für die Ermittler auch die Suche nach jener Person, die das Dokument ursprünglich herausgegeben hat. Es gibt von dem Papier 86 Ausfertigungen. Eine davon ging an das Abgeordnetenbüro Lamers. Die Ermittler fanden heraus, dass von dieser die durchgestochene Kopie angefertigt worden war. Doch dort endete die Spur.
Lamers sagte, er habe das Dokument nie gesehen. Er kenne noch nicht einmal den Code für den Aufbewahrungsort von Verschlusssachen in seinem Büro, sagt er. Für seine Mitarbeiter mit Zugang zu Verschlusssachen lege er »die Hand ins Feuer«. Für Generalbundesanwalt Peter Frank ist das eine ungemütliche Situation: Seine Leute haben den eigentlichen Verräter nicht gefunden. Einer der Hauptbeschuldigten bestreitet jegliche Verwicklung glaubhaft. Und das Oberlandesgericht Düsseldorf hat ihre Anklage nicht zugelassen. Dagegen hat die Bundesanwaltschaft inzwischen vor dem Bundesgerichtshof Beschwerde eingelegt. Das Ergebnis dürfte demnächst kommen. Für die Ermittler, so heißt es in Karlsruhe, habe der Fall Meuter keine große Bedeutung mehr. Es geht ihnen eher ums Prinzip, um die Auslegung des Tatbestands. Für Meuter geht es nicht nur ums Prinzip. Gegen die Kündigung seines Arbeitgebers hat er geklagt. »Mein Mandant saß sechs Monate in Erzwingungshaft«, sagt Anwalt Reetz. Er glaubt, Meuter sei nur in Untersuchungshaft gekommen, damit er seine angebliche Quelle preisgibt. »Das kann nicht einfach so stehen bleiben.« Die Freundschaft mit K. hat Meuter längst begraben. Er fordert von ihm Schadensersatz. Und er möchte sein altes Leben zurück. »Ich will rehabilitiert werden«, sagt Meuter.