Dass er gerne engagiert zu Werke geht, ist man von Jens Spahn gewohnt. Dass er aber vehement in die Persönlichkeitsrechte der Bürger eingreifen will und Organspenden zu einem „Routine-Vorgang“ machen will, geht ein wenig zu weit. Heißt: Sozusagen eine generelle Spendenzusage von allen Menschen geben, die kein ausdrückliches NEIN zu Organspenden gesagt haben. Also erst einmal davon ausgehen, dass ein Mensch bereit ist, seine Organe anderen zu spenden, um das Defizit bei fehlenden Organen auszugleichen. Das finden sicherlich eine Mehrzahl der Bürger/innen im Lande eher befremdlich als erfreulich. Obwohl die Zahl derer, die bereit sind, Organe abzugeben, im letzten Jahr auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren gesunken ist. Dennoch liegt die Entscheidung bei jedem selbst und braucht niemanden, der es einem nahelegt oder diktiert.
Natürlich gibt es immer Menschen, die froh wären, wenn mehr Spender da wären. So wie Ralf B. aus Norddeutschland. Er kam von einem Flohmarkt im friesischen Jever, als sein Herz aufhörte zuschlagen. Sein Volvo krachte gegen einen Baum. Ein Sanitäter war zufällig Zeuge und holte den Verunglückten zurück ins Leben. B. 61, leidet an einer angeborenen Herzmuskelerkrankung. Inzwischen ist er stationärer Patient im Herzzentrum Bad Oeynhausen und wartet auf ein neues Pumporgan. »Ich verstehe nicht, warum nicht mehr Menschen ihre Organe spenden«, sagt er, »Dann wäre ich vielleicht in einem Monat hier wieder raus.« Nur 9,7 hirntote Spender pro eine Million Einwohner gab es in Deutschland 2017 — in Spanien waren es fast fünfmal so viel. Im ersten Halbjahr 2018 spendeten 484 Deutsche ihre Organe, viel zu wenige, um den mehr als 10000 Patienten auf den Wartelisten zu helfen. Alle Versuche, die Spendenbereitschaft durch Appelle zu erhöhen, haben nur wenig gebracht. Als Ausweg schlägt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) jetzt die Einführung der »Widerspruchslösung« vor: Jeder Deutsche wäre damit automatisch potenzieller Organspender. Wer nicht möchte, dass nach seinem Tod Herz, Lunge oder Leber entnommen werden dürfen, müsste ausdrücklich widersprechen. Derzeit ist es umgekehrt: Als Organspender kommt nur infrage, wer zu Lebzeiten einen Spenderausweis ausfüllt oder dessen Angehörige nach dem Tod zustimmen.
Der Bundestag könnte über diese Gewissensfrage ohne Fraktionszwang abstimmen. Der Ausgang ist indes ungewiss. »Ich favorisiere weiterhin die Lösung, wie sie heute gilt«, sagt Karin Maag, gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion. »Es ist gut so, dass wir den Menschen auch zugestehen, sich nicht entscheiden zu müssen.« Auch in anderen Parteien gibt es Widerstand. FDP-Chef Christian Lindner kritisierte den Vorschlag bereits als »Deformation der Selbstbestimmung«. Kanzlerin Angela Merkel unterstützt Spahn — ebenso wie der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach: »Wer erwartet, im Krankheitsfall ein Organ zu bekommen, sollte auch grundsätzlich bereit sein, seine Organe zu spenden.« Er schlägt vor, dazu einen überparteilichen Gruppenantrag ins Parlament einzubringen. Mit seinem Vorstoß hat der Gesundheitsminister eine bemerkenswerte Kehrtwende vollzogen. Bei der letzten großen Debatte zur Organspende, die vor sechs Jahren schließlich zur derzeit gültigen Entscheidungslösung geführt hat, hatte er sich noch vehement für die Freiwilligkeit eingesetzt. »Jeder sollte sich auch bewusst nicht entscheiden können«, fand Spahn damals. Nun argumentiert er in einem Gastbeitrag der »FAZ«: »Ich finde, das Nein aussprechen zu müssen, ist angesichts der bedrückenden Lage auch in einer freien Gesellschaft zumutbar.«
In den meisten europäischen Ländern gilt bereits eine Widerspruchslösung, zuletzt wurde Anfang des Jahres ein entsprechendes Gesetz vom niederländischen Parlament verabschiedet. Zur Beruhigung der Kritiker setzt sich Spahn — wie mit großer Mehrheit zuletzt auch der Deutsche Ärztetag — für eine »doppelte Widerspruchslösung« ein: Nicht nur jeder Bürger soll demnach die Organspende ablehnen können, sondern, nach seinem Tod, auch dessen Angehörige. Doch würde eine Widerspruchslösung überhaupt dazu beitragen, dass mehr Menschen ihre Organe spenden? Das sei unklar, sagt Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), der Koordinierungsstelle für postmortale Organspenden. Zwar zeige eine britische Studie aus dem Jahr 2014, dass in Ländern mit Widerspruchslösung mehr Nieren und Lebern gespendet würden als in Ländern mit einer anderen Regelung. »Aber das könnte auch daran liegen, dass die Widerspruchslösung einfach Ausdruck einer offeneren Kultur der Organspende ist«, gibt Rahmel zu.
Rahmel ist überzeugt, dass zunächst Verbesserungen in den Kliniken notwendig sind, um eine nachhaltige Erhöhung der Organspendezahlen zu bewirken. Wie eine Anfang Juli im »Deutschen Ärzteblatt« veröffentlichte Studie ergab, stieg die Anzahl möglicher Organspender, die in deutschen Krankenhäusern den Hirntod starben, von rund 23 900 im Jahr 2010 auf rund 27300 im Jahr 2015. Zwischen 2010 und 2017 brach die Zahl der realisierten Organspenden jedoch um mehr als ein Drittel ein. Die Erklärung: Vor allem für kleine und mittlere Krankenhäuser ist der organisatorische und finanzielle Aufwand einer Organentnahme bislang viel zu hoch. Zuletzt, zeigte die Studie, wurde die DSO nur noch bei jedem zwölften möglichen Organspender kontaktiert. Und nur in rund drei Prozent der Fälle wurden tatsächlich auch Organe entnommen.
Die von Spahn geplante Änderung des Transplantationsgesetzes soll Abhilfe schaffen. So könnten jene Kliniken, die Organentnahmen durchführen, künftig besser vergütet werden. Die Transplantationsbeauftragten erhielten mehr Zeit dafür, den Ablauf von Organspenden zu organisieren. Und mobile Neurologenteams könnten kleinere Krankenhäuser bei der Hirntoddiagnostik unterstützen — alles wichtige Maßnahmen. »Es ist jammerschade, dass dieses Gesetz, das die Strukturen verbessern soll, durch die Diskussion um die Widerspruchslösung entwertet wird«, kritisiert Gesundheitspolitikerin Maag. Ein Problem, das die Organspende zunehmend erschwert, ließe sich mit einer Widerspruchslösung ohnehin nicht lösen. Immer mehr Deutsche tragen inzwischen eine Patientenverfügung bei sich, mit der sie auch eine intensivmedizinische Behandlung in einer aussichtslosen Situation untersagen — wodurch sie aber (meist ungewollt) auch eine Entnahme ihrer Organe verhindern. Denn bis ein Empfänger gefunden ist, müssen die Lunge, die Nieren oder das Herz eines Hirntoten mit allen Mitteln am Leben gehalten werden. Und dann gibt es ja immer noch eine große Anzahl von Menschen, die eine Organspende aus religiösen Gründen ablehnen. Für sie muss der Körper in seiner Ganzheit vom Leben in den Tod übergehen. Auch das ist ein wichtiger Grund, den Menschen nicht einen überparteilichen Willen aufzuzwingen.