Budapest. Wie am Beispiel der beiden Geschwister aus diesem Bericht, sind viele Mütter oder auch Väter bereit, ihre Kinder einfach zurückzulassen, um in Deutschland oder Westeuropa ihr Glück zu versuchen. Das sind in der Regel die Ärmsten der Armen, die in erbärmlichen Zuständen in Rumänien oder wie hier in Moldau, einer ehemaligen Sowjet-Republik, leben und mit 20 Euro im Monat über die Runden kommen müssen. Dann versuchen sich oft die Mütter in Deutschland durchzuschlagen und sogar ein neues Leben zu beginnen. Ohne Rücksicht auf ihre Kinder, die sie dann einfach bei Verwandten zurücklassen. Im goldenen Westen gründen sie dann oft neue Familien und schicken ab und zu etwas Geld in die Heimat. Aber das Wohl ihrer Kinder, den Schmerz und die Trauer, ignorieren sie. So weit kommt es, wenn die Verlockungen der westlichen Welt zu groß sind. Die Geschichten, die an solchen Situationen hängen, sind oft herzzerreißend. Wie bei Doina und Valentin, aus einem kleinen verarmten Dorf namens Iargara in Moldau. Sie leben von der Hoffnung, dass die Mama zu Besuch kommt. Aber oft ist das nur eine Ausrede der Mütter.
Mama hat gesagt, sie kommt an Weihnachten. Aber wer weiß schon, ob sie wirklich kommt, sagt Imentin. Sie wollte im Frühjahr schon kommen, dann im Sommer mit ihm und seiner Schwester in die Berge fahren, Anfang August wollte sie zum Schulanfang da sein —wer aber nie kam, war Mama. Jetzt also Weihnachten.
Das letzte Mal, dass Mama ihre Kinder besucht hat, war im Oktober vor einem Jahr. Vor fünf Jahren ist sie wegezogen, erst nach Russland, später nach Deutschland. Seit eineinhalb Jahren lebt sie in einer Stadt in Schleswig-Holstein, 2000 Kilometer von largara entfernt, dem Dorf in der Republik Moldau, in dem sie ihre Kinder zurückgelassen hat. Sie hat wieder geheiratet und eine kleine Tochter zur Welt gebracht. Ihren neuen Stiefvater haben Doina und Valentin beim letzten Besuch kennengelernt, die kleine Schwester aber kennen sie nur von Bildern, die ihre Mutter ihnen per Smartphone schickt. Vor allem für die zehnjährige Doina war es nicht leicht, immer war sie die Kleinste, auf einmal ist da jemand Kleineres, der auch noch dort ist, wo Doina und Valentin gern wären: bei der Mama in Deutschland, während Doina und Valentin bei ihrer Oma leben, weit weg, in einer anderen Welt. largara hat 4000 Einwohner und liegt eineinhalb Autostunden von der Hauptstadt Chinäu entfernt. Viel ist nicht in largara: eine Hauptstraße flache graue Häuser ohne Nummern, wer jemanden sucht, muss sich durchfragen. Am Ortsende das Haus, in dem Doina und Valentin mit ihrer Oma wohnen. Eigentlich drei Häuschen auf einem Grundstück von denen sich eines im Bau befindet und das andere im Winter nicht beheizt ist. Hühner laufen frei herum, ein paar Gänse hinterm Haus ist eine Ziege angeleint im Hof ein Brunnen und in einem Holzverschlag das Klo: ein Loch im Boden-In Moldau haben 57 Prozent der Haushalte auf dem Land keinen direkten Zugang zur Trinkwasserversorgung. Seit eineinhalb Jahren kümmert sich die Oma um Doina und Valentin, davor haben sie zwei Jahre bei einer Nachbarin der Tante ihres Vaters gelebt, eine Frau, die sie kaum kannten und davor ein Jahr bei ihrer Tante. Ihre Eltern sind schon lange geschieden, der Vater ist Erntehelfer in Frankreich, ihre Mutter war als sie zum ersten Mal zum Arbeiten nach Moskau ging.
In der Republik Moldau ist das nichts Ungewöhnliches- Bis zu 270000 Kinder; so die wachsen ohne Eltern auf, weil die zum Arbeiten im Ausland sind. Die meisten der Kinder leben bei Verwandten, es gibt aber auch Kinder die allein und ohne Aufsicht aufwachsen, 40.000 solcher Sozialwaisen soll es im Land geben. Es wird geschätzt, dass etwa eine Millionen Moldauer im Ausland arbeiten, die meisten in Russland und Italien, was auch sprachliche Gründe hat: Russisch wird in der Schule gelehrt, und die Amtssprache Rumänisch ist mit dem Italienischen verwandt. Die Republik Moldau war früher die Obst- und Weinkammer der Sowjetunion, mit der Unabhängigkeit aber brach die Landwirtschaft weitestgehend zusammen. Moldau ist das ärmste Land in Europa, 300 Euro beträgt das Durchschnittseinkommen im Monat, der Internationalen Organisation für Migration nach ist die Zahl derEinwohnerseit1991von 43 auf 3,6 Millionen gesunken, die Prognosen fürs Jahr 2050 lauten: 2,6 Millionen.
In der Schule in largara sind Doina und Valentin nicht die Einzigen, deren Eltern das Land verlassen haben. Von den 400 Schülern wachsen 85 ohne Eltern auf, was ein großes Problem ist, wie die Direktorin sagt. Diese Kinder seien verschlossener, öfter krank und öfter aggressiv. In der Klasse von Valentin sei die Hälfte der Schüler ohne Eltern, sagt die Rumänischlehrerin, und das habe auch Auswirkungen auf deren Leistungen. Doina und Valentin seien da eine Ausnahme. Was vermutlich auch damit zu tun hat, dass sie eine strenge Mutter ha sie Hausaufgaben machen und sich gegenseitig helfen, liegt die Mutter vor ihnen auf dem Tisch und schaut zu, per Skype auf dem Smartphone. Auch wenn Valentin rausgeht, um die Hühner im Hof zu füttern, trägt er das Smartphone in der einen Hand mit sich herum, auf dem Display ist seine Mutter. Sie ist einfach dabei, ohne wirklich dabei zu sein. Sie telefonieren und skypen jeden Tag. Vor allem aber, wenn es Streit gibt mit der Oma, was in letzter Zeit häufiger vorkommt. Weil Valentin zu spät nach Hause kommt, weil er sich mit seiner Schwester um die Katze streitet- Weil die Oma merkt, dass die Kinder, je älter sie werden, immer weniger auf sie hören.
Sie zeigt Fotos. Und weint
Für Ludmila, die Mutter, ist das, so weit weg in Deutschland, nur schwer zu ertragen, sie weint viel und viel nach Hause gehen, um sich dann zu fragen, wovon sie leben soll in Moldau. „Am Telefon kann man nicht gut erziehen“, sagt sie. Mit ihrem neuen Mann Marian und dem gemeinsamen Baby auf dem Schoß sitzt sie in einem Café im Zentrum einer deutschen Kleinstadt. Sie möchte ihren Namen nicht öffentlich machen, auch weil sie sich nicht gut fühlt als Mutter, die ihre Kinder zurückgelassen hat. Sie vermisse sie sehr, sagt sie und zeigt Fotos auf ihrem Smartphone vom Sommer in Moskau, als Doina und Valentin sie besucht haben und sie zusammen im Zoo waren. Ludmila weint, während sie die Fotos zeigt.
Es macht ihr zu schaffen, dass sie nicht da ist, gerade jetzt. Doina ist 10, und Valentin wird demnächst 13. Ludmila ihren Kindern fremd zu werden, und davor, dass die Kinder auf falsche geraten rauchen anfingen, nicht mehr zur Schule gehen; dass Doina ungewollt schwanger wird.
Aber es ist nicht so, dass sie eine Wahl hätte. Als Ludmila das erste Mal nach Moskau ging, war sie noch nicht mal volljährig. Nachdem der Vater gestorben war, musste sie Geld für die Familie verdienen. Sieben Monate lang pflegte sie eine alte Frau. Ein Jahr später ging sie nach Sotschi und arbeitete auf dem Bau, wo sie ihren ersten Mann traf, der Moldauer ist wie sie und mit dem sie in das Dorf zog, aus dem er kam.
Mit 18 wurde sie mit Valentin schwanger. Die Ehe war schwierig, sie stritten sich viel, ihr Mann war immer wieder zum Arbeiten in Moskau. Ludmila blieb bei den Kindern, bis Valentin acht war und Doina fünf. Dann ging sie wieder nach Moskau, um eine alte Frau zu pflegen, die an Alzheimer litt. Ludmila zog bei ihr ein, im Sommer schlief sie auf dem Balkon, den Rest des Jahres mit der Frau im selben Zimmer. Vier Jahre blieb sie in Moskau, bekam umgerechnet 250 Euro im Monat. Dann lernte sie im Internet Marian kennen, einen Rumänen, der in Deutschland lebte. Sie besuchte ihn und heiratete ihn ein Jahrspäter. Marian arbeitete in einer Fabrik für Rigipswände. Manchmal hilft nur Rotwein Jeden Monat schickt Ludmila Geld an die Oma und ein Paket mit Kleidern, Seife und Shampoo, aber auch Essen, Salami, Käse, nur selten Süßigkeiten, weil die schlecht für die Zähne sind. Die Oma lebt von 1000 Leu Rente im Monat, das sind etwa 50 Euro. Das Haus, in dem sie schlafen, ist klein, zwei Zimmer mit Ofen, Doina schläft bei ihrer Oma im Bett, Valentin schläft im eigenen Bett im selben Zimmer, nebenan schläft ihr Onkel, der schlecht hört, seit er auf der Straße verprügelt wurde.
Vier Töchter und einen Sohn hat die Oma, der Sohn lebt zu Hause, hat aber keine Arbeit, von den Töchtern lebt nur eine im Dorf, Ludmila, die jüngste, ist in Deutschland, die zwei ältesten in Israel. Die eine putzt, die andere pflegt einen alten Mann. Die Oma ist 67 und hat es am Herzen. Das Einzige, was helfe, sagt sie, sei der Rotwein, den sie selbst keltere. Das Land verlassen nicht nur diejenigen, die keine höhere Schulbildung haben und dann im Ausland als Altenpfleger, Putzfrauen oder Erntehelfer arbeiten, von der Arbeitsmigration sind auch Familien mit gut ausgebildeten Eltern betroffen. „In Moldau fehlt einfach die Perspektive“, sagt Vasilie. Er ist 23, hat Journalismus studiert und keinen Job gefunden. Er arbeitet als Fahrer in Moldau, wird aber demnächst ins rumänische Cluj ziehen, um dort ein zweites Studium zum Agraringenieur anzufangen.
Seine ältere Schwester arbeitet als Ärztin in Toronto, seine Mutter, ebenfalls Ärztin, in einer Klinik in Chinäu, und trotzdem zog sein Vater vor sieben Jahren nach Deutschland, um dort eine Hausmeisterstelle anzunehmen. Vasilie war damals 16, mitten in der Pubertät, was den Weggang, wie er sagt, erträglicher gemacht habe. Weil er zu der Zeit mit den EItern eh nicht so viel zu tun haben wollte. Wenn ein Elternteil gehe, sei das besonders für kleine Kinder schlimm, sagt Vasilie. Mit den Jahren gewöhnten sie sich an ein Leben ohne Eltern. Irgendwann hätten sie keine Beziehung mehr zu ihnen. Es gibt Geschichten von Eltern, die mit ihren Kindern skypen und nur übers Essen reden, weil sie sich sonst nichts mehr zu sagen haben. Die ihren Kindern über Jahre hinweg Spielsachen schicken und nicht merken, dass ihre Kinder längst nicht mehr mit Puppen spielen. Oder von Kindern, die nur noch aus Gewohnheit sagen, ihre Eltern fehlten ihnen. Solche Geschichten kennt jeder Moldauer, weil jeder jemanden kenne, der das Land verlassen habe, sagt Vasilie. Auch er will nach dem Studium in Rumänien bleiben oder nach Belgien ziehen.
Vor Kurzem erst hat Doina ihrer Mutter Vorwürfe am Telefon gemacht, dass sie in Deutschland sei, dass die Oma geschimpft und sie vom vielen Weinen Kopfschmerzen habe, dass sie ihre Mutter vermisse und die ständig verspreche zu kommen und dann doch nicht komme. Was daran gelegen habe, sagt die Mutter, dass sie schwanger gewesen sei, dann ihr Mann krank geworden sei und sie jetzt auf den Pass für die kleine Tochter warten müssten. Weihnachten aber werde sie kommen, versprochen. Ludmila weiß, dass sich Doina und Valentin im Stich gelassen fühlen, seit die kleine Schwester auf der Welt ist. „Seit sie da ist“, schrieb Doina auf ihrer Facebook-Seite „bin ich wie Müll.“ Mutter und Tochter haben dann telefoniert, Ludmila hat geweint und gefragt, warum Doina so etwas schreibe. Es stellte sich heraus, dass Doina und ihre Oma sich mal wieder gestritten hatten.
Aber lange soll das nicht mehr gehen. Ludmila möchte ihre Kinder nach Deutschland holen. Sie haben gerade ein Zimmer für die kleine Tochter hergerichtet, das sie sich dann mit Doina und Valentin teilen soll. Es fehlt bislang die Erlaubnis des Vaters, mit dem sich Ludmila in einem Sorgerechtsstreit befindet. Doina und Valentin aber hat sie die Stadt, in der sie zukünftig leben sollen, schon gezeigt: per Skype. Hier der Park mit dem kleinen See, der Bäcker, da die Tanzschule für Doina, in der sie Ballett machen soll, und Valentin könnte richtig Fußball spielen, in einem Verein. Mama, sagt Valentin, habe ihm auch schon ein paar Wörter auf Deutsch beigebracht, aber es ist schon zu lang her, er erinnert sich nicht mehr.