Palermo. Es ist ein Phänomen aus der Tierwelt, was sich immer weiter ausbreitet: Immer öfter finden wilde Tiere wie Füchse oder Rotwild oder auch Wölfe den Weg in zivilisierte Gegenden, wo Menschen wohnen. Das liegt daran, dass deren Lebensräume immer kleiner werden und sie dadurch nicht genug Beute oder Futter mehr finden. Dann treibt es sie in die Ortschaften und Siedlungen, wo sie nach Fressbarem suchen. Und oft werden sie fündig – wie in Genua, einer Stadt in Italien, wo Wildschweine von den Stadtbewohnern gefüttert und beinahe domestiziert werden.
Es ist schon Routine geworden. Erst holt Nicoletta Zarhin die Post aus dem Briefkasten, dann stellt sie Cincin eine Schale Wasser auf die Stufen und legt das Brot des Vortags dazu. Wie jeden Morgen. Nur füttert sie keine streunenden Hunde oder die Katzen der Nachbarschaft. Frau Zarhin füttert Wildschweine. Dass sie ihrem Wildschwein einen Namen gegeben hat, ist nicht ungewöhnlich. Auch nicht, dass sie ihr Frühstück mit ihm teilt. Denn das tun viele in Genua, der Hafenstadt an der italienischen Riviera. „Genua ist Italiens Hauptstadt der Wildschweine“, sagt Andrea Balduzzi. Der 67-Jährige war hier Professor für Zoologie an der Universität, bevor er im vergangenen Jahr in den Ruhestand ging. „Die Suche nach Nahrung treibt sie in die Stadt.“ Der viele Hausmüll mit seinen Essensresten und weggeworfenen Lebensmitteln, der über die ganze Stadt verteilt sei, mache ihnen die Nahrungssuche einfach, so Balduzzi. Und dass es in Genua so viele Menschen gebe, die diese Tiere füttern, verstärke „das Problem“. Dass die „cinghiale“,wie die Wildschweine auf Italienisch heißen, ein Problem sind, bestreitet kaum noch jemand. Längst tauchen sie mitten in der Stadt auf. Sie wurden auf dem Campus der Universität gesichtet, manchmal sieht man sie, wie sie gemütlich über die Hauptverkehrsschlagader der Stadt trotten: Wildtiere, die regelmäßig von Menschen gefüttert werden, kehren immer wieder zurück. Ein Taxifahrer wurde ertappt, wie er an seinem Taxistand eine Art Wiege für Frischlinge unterhielt.
Manche der tierischen Bewohner Genuas sind prominent — wie etwa Vivien und Vittoria, die beiden Schwarzwilddamen, die an der Uferpromenade entlangschlenderten und anschließend ein Bad im Mittelmeer nahmen. Und erst der Fall Pierino! Da hat Genua am Rande eines Bürgerkriegs gestanden, wenn man der Lokalpresse glauben mag: Eine Gruppe von sieben Wildschweinen war auf der Via Carso nahe dem Bahnhof Brignole aufgetaucht, wo vier Polizisten sich der Sache annehmen wollten. Es gelang ihnen, zwei kleinere Schweine mit einem Netz einzufangen, doch die Beamten sahen sich plötzlich von einer Gruppe von etwa 30 Menschen umzingelt, die sie beschimpften und sogar mit Steinen bewarfen. Im Tumult gelang es dem größten Tier der Gruppe, einem 100-Kilo-Koloss, den die Medien Pierino tauften, in einem Park unterzutauchen. Die Polizisten fanden ihn nicht wieder. Erst am folgenden Tag konnten sie den Eber stellen. Die Parole „Rettet Pierino!“ ist seitdem in Genua ein geflügeltes Wort.
„Wildschweine sind Allesfresser“, sagt Andrea Balduzzi, „von Abfällen lassen sie sich besonders gern anlocken.“ Sie fressen Wurzeln, Früchte, Pilze, Würmer und Vogeleier, können aber auch Rehkitze oder Kaninchen erbeuten und vertilgen Aas. Sie lieben es, Böden nach Essbarem zu durchwühlen, nach Kastanien zum Beispiel, die es in den ligurischen Wäldern zuhauf gibt. Die wittern sie mit ihrer empfindlichen Schnauze und zerfurchen mit ihren Eckzähnen sogar steinigen Grund. Mit denselben Werkzeugen richten sie jedoch schwere Flurschäden an, die der Landwirtschaftsverband Coldiretti auf bis zu 100 Millionen Euro pro Jahr schätzt. Sie durchpflügen die Böden und zerstören Kulturpflanzen. Zudem kommt es immer wieder zu schweren Verkehrsunfällen. Aggressiv gegenüber Menschen werden Wildschweine selten und nur, wenn sie sich und ihren Nachwuchs bedrängt fühlen.
Stadt und Wald verwachsen
„Genua war noch bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts von landwirtschaftlichen Nutzflächen umgeben. Mit dem Niedergang der Landwirtschaft wurden die Felder dann sich selbst überlassen — und der Wald kehrte zurück“, erklärt Andrea Marsan. Er gilt als der Experte für Wildschweine in der Region Ligurien, unterrichtet an der Universität und ist zudem als Berater zum Umgang mit Wildtieren bei Behörden ein gefragter Mann.
Die 600.000-Einwohner-Stadt mit dem großen Hafen boomt. Vororte wachsen immer weiter die Berge hinauf. Manche Stadtteile, etwa Castelletto, Marassi oder Albaro, grenzen inzwischen direkt an Waldgebiete. „Wildschweine sind in Siedlungsgebieten vor allem auf der Suche nach Trinkwasser und Nahrung“, sagt Marsan. „Daher dringen sie gern entlang der Flüsse Polcevera und Bisagno in die Stadt vor, die beide mitten durchs Stadtgebiet fließen.“ Er gehe von bis zu 200 Wildschweinen aus, die im Stadtgebiet von Genua regelmäßig auftauchen. Und die Zahl der Schwarzkittel nimmt weiter zu. Natürliche Feinde nämlich kennt Susscrofa, so der lateinische Name des Wildschweins, kaum. Der Wolf wäre einer, doch ist er in Ligurien und in den angrenzenden Regionen Piemont, Lombardei und Toskana selten. Der Braunbär wäre ein anderer; er ist in der Region aber noch nicht wieder heimisch.
Wildschweine profitieren europaweit vom Klimawandel, vor allem von den milderen Wintern. In Deutschland gilt Berlin als ihre Hauptstadt. Aus Marseille wurde 2014 eine „Invasion“ von Hunderten der Rüsseltiere vermeldet, Ähnliches ist aus Großbritannien bekannt. Polen hat bereits 2015 angekündigt, das Jagdgesetz zu lockern, um der Plage Herr zu werden.
Gleich neben dem Justizpalast in der Via Bartolomeo Bosco in Genua liegt das Büro von Valerio Vassallo. In der Landwirtschaftsabteilung der ligurischen Regionalregierung leitet er den Bereich für Gebirgs- und Wildtiermanagement. Er ist dafür zuständig, die Ausbreitung der Wildschweine unter Kontrolle zu bekommen. „Unser Ziel ist nicht, die Zahl der Wildschweine zu reduzieren“, sagt Vassallo, „sondern Schäden vorzubeugen, die sie im Stadtgebiet und in der Landwirtschaft anrichten.“ Dazu sei es wichtig, das Müllproblem in den Griff zu bekommen. Die Tiere dürften nicht durch die vielen offenliegenden Abfälle in die Städte gelockt werden. Füttern sei zwar bereits verboten, so Vassallo, und die Strafe mit bis zu 2000 Euro empfindlich hoch. „Aber brummen Sie die mal einem Opa auf, nur weil er seinem Enkelkind ein Wildschwein aus der Nähe zeigen wollte.“ Dennoch wolle er in Zukunft strenger durchgreifen.
„Sicher ist, dass wir nicht die ganze Stadt mit einem Sicherheitszaun umgrenzen können“, sagt Vassallo, der seit seinem Studium an der Universität Saarbrücken fließend Deutsch spricht. „Aber zumindest die Schäden in der Landwirtschaft können minimiert werden, wenn elektrische Zäune angebracht werden, die das Schwarzwild abhalten.“ Seit2017istin Genua auch derAbschuss von Wildschweinen im Stadtgebiet erlaubt, allerdings nur, wenn unmittelbare Gefahr für Menschen besteht. Befugt ist eine Spezialeinheit der Regionalbehörde, die „Vigilanza faunistico-venatoria’t was mit Wildtier- und Jagdaufsicht übersetzt werden könnte, die bei Übergriffen durch Wildtiere zum Einsatz kommt und Vassallo direkt unterstellt ist. Doch ihre Kapazität ist begrenzt. Ganze 20 Mann stark ist die Truppe, zuständig nicht nur für Genua, sondern für ganz Ligurien. Und wie sensibel es in Genua ist, Wildschweine öffentlich zu entfernen, hat der Fall Pierino gezeigt. Allerdings ist es auch nichtmöglich, die Wildschweine einzufangen und in den Wäldern wieder auszusetzen. Denn das sei in Italien gesetzlich verboten, so Vassallo, und würde das Problem nur verlagern. Die einzige Alternative zum Abschuss sei, die Tiere in Käfigen zu fangen und in umzäunten Gehegen zu halten. Doch deren Kapazitäten seien begrenzt.
Wildschweine stärker zu bejagen ist auch für Massimo Pigoni, den Vizepräsidenten von ENPA (Ente Nazionale Protezione Animali), der größten italienischen Tierschutzorganisation, keine Option. „Wir sollten der Natur die Aufgabe überlassen, für ein Gleichgewicht zu sorgen“, so Pigoni. Dazu könnte die Wiederkehr der Wölfe beitragen, der natürlichen Feinde der Schweine. Die Frage, warum die Menschen in Genua so entspannt mit den grunzenden Eindringlingen umgehen, kann auch Massimo Pigoni nicht sicher beantworten: „Vielleicht, weil sie hier in Genua so nah an den Bergen, den Wäldern und den Wildtieren wohnen.“