Berlin. Auch wenn aller Anfang bekanntlich schwer ist, haben Sahra Wagenknecht und Frauke Petry jeweils eine eigene politische Bewegung gegründet, um selbst noch etwas zu bewirken, unabhängig von parteipolitischer Arbeit. Noch stecken ihre Bewegungen in den Kinderschuhen und tun sich schwer bei der Umsetzung und Anerkennung. Trotzdem sind beide ostdeutschen Powerfrauen gewillt, die Menschen aufzurütteln und friedliche Veränderungen im Land herbeizuführen. Jede auf ihre eigene Art und Weise. Noch haben sie nicht für große Aufbruchstimmung in der Bevölkerung gesorgt.
Mit großen Auftritten vor AfD-Parteitagen oder in Talkshows hat Frauke Petrys politischer Alltag heute nicht mehr viel zu tun. Ortstermin in der Thüringer Kleinstadt Neustadt/Orla. Im halb leeren Augustinersaal haben sich 50 Zuschauer versammelt. Frauke Petry spricht über Bildungspolitik. Sie fordert mehr Leistungsorientierung, ein bundesweit einheitlicheres Schulsystem. Anschließend entspinnt sich eine zähe Diskussion. Ein Zuhörer kritisiert den Nachwuchsmangel im Handwerk, ein anderer „Werteverfall“ und „Linksruck“. Der Abend ist früh zu Ende. Viel Bewegung ist noch nicht in ihrer „Blauen Wende“. Das Nachfolgeprodukt ihrer politischen Parteiarbeit.
Sahra Wagenknecht genießt größere Aufmerksamkeit. Sie ist oft im Fernsehen, bei öffentlichen Auftritten sind die Säle voll. Das hat aber mit ihrer Funktion als Fraktionschefin der Linkspartei zu tun. Ihre Bewegung „Aufstehen“ dagegen hat selbst noch nicht viel Aktivitäten entwickelt. Veranstaltungen gab es keine, nur eine Pressekonferenz. „Wir brauchen dringend einen politischen Aufbruch. Was wir erleben, ist eine Krise der Demokratie“ , sagte sie dort. Ansonsten gibt es noch eine Website, eine Rundmail und eine Facebook-Seite mit 67000 Followern. 70 Ortsgruppen sind angeblich in Gründung. Hinweise auf deren Treffen sind aber spärlich. Beide Bewegungen sind trotz großer Ankündigungen also bisher politische Mauerblümchen.
Was verbindet sie sonst? Frauke Petry dazu: „Frau Wagenknecht hat offenbar erkannt, dass vernünftige Mehrheiten in der Linken nicht zu organisieren sind. Sie scheitert damit an ihrer eigenen Partei – was mir in der AfD auch widerfahren ist. Uns verbindet die Einsicht, dass eine parteiübergreifende Bewegung hier Möglichkeiten bietet. Und uns eint die Erkenntnis, dass ein funktionierender Sozialstaat ohne funktionierende Grenzen illusorisch ist – eine Erkenntnis, die sich im gesamten linken Spektrum bis heute leider nicht durchgesetzt hat“, so Frauke Petry. Aber: „Was uns trennt, ist unser gesamter ökonomischer Ansatz. Sahra Wagenknecht träumt von vermehrter staatlicher Umverteilung und davon, Gerechtigkeit über vermeintliche Gleichheit herzustellen. Diese sozialistische Utopie ist jedoch nach meiner Meinung eine wesentliche Ursache für viele gesellschaftliche Probleme. Menschen sind und bleiben sehr verschieden.“
Parallelen gibt es auch privat. Beide führen „politische“ Ehen, die eine mit ihrem Mitstreiter Markus Pretzell, die andere mit Linken-Ikone Oskar Lafontaine. Sie haben beide Ost-West-Biografien. Frauke Petry ging 1990 mit ihren Eltern in den Westen, kehrte später mit ihrem ersten Mann Sven nach Sachsen zurück. Sahra Wagenknecht trat, obwohl aus dem Osten, als Spitzenkandidatin der Linken in NRW an. Und lebt mit ihrem Mann Oskar Lafontaine im Saarland. Was die beiden Bewegungen eint, sind auch die revolutionären Begriffe, die sie sich auf die Fahnen schrieben. „Aufstehen“ könnte auch als Aufforderung zum „Aufstand“ verstanden werden. Und „Wende“ erinnert an den von SED-Chef Krenz geprägten Begriff für die Revolution in der DDR 1989.
Frauke Petry will das so allerdings nicht verstanden wissen. „Die Wende von 1989 war am Ende keine wirkliche Revolution, sondern ein friedlicher Systemwechsel, der verschiedene Gruppen an einen Tisch brachte, um konstruktive neue Lösungen zu finden. Deswegen haben wir diesen Begriff gewählt. Es geht uns nicht um eine Revolution – dabei gäbe es am Ende zu viele Verlierer, und regelmäßig gewinnen dabei die Radikalen. Wir dagegen streben konsequente Veränderungen durch parlamentarische Mehrheiten an.“ Ermutigt sind beide Frauen durch den Erfolg von überparteilichen politischen Bewegungen anderswo. In Frankreich hob die Bewegung „La République en Marche“ („Die Republik in Bewegung“) Emmanuel Macron auf den Präsidentenstuhl. In Italien wurde die linke „Fünf-Sterne-Bewegung“ bei den Wahlen im März 2018 stärkste Kraft. Das deutsche Wahlgesetz macht es Bewegungen aber schwerer. Anders als in Frankreich, wo der Präsident direkt vom Volk gewählt wird, werden in Deutschland Bundespräsident, Kanzler und Ministerpräsidenten der Länder nur indirekt, von den Parteipolitikern gewählt, die es per Wahl ins Parlament geschafft haben – was ohne Parteiorganisationen nahezu unmöglich ist.
Das ist eine bewusste Notbremse gegen Populisten, die die Väter des Grundgesetzes einst einbauten. Gleichzeitig verliehen sie den Parteien zahlreiche Privilegien – insbesondere bei ihrer Finanzierung. Auch die AfD und die Linker profitieren von dieser staatlichen Privilegierung, u. a. bekommen sie zusätzlich zu Wahlkampfkostenerstattungen und Steuererleichterungen für ihre Spenden auch noch Millionen Euro Steuergelder für ihre Parteistiftungen, die Desiderius-Erasmus-Stiftung (AfD) die Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linken.
Eine Bewegung bekommt das alles nicht. Sie kann auch nicht zu Wahlen antreten. Frauke Petry hat deswegen neben ihrer „Blauen Wende“-Bewegung auch eine Blaue Partei gegründet. Der Erfolg hält sich bisher in Grenzen. In Sachsen, wo Die Blauen 2019 wahrscheinlich zur Landtagswahl antreten werden, steht die Partei laut einer Umfrage der „Leipziger Volkszeitung“ bei 0,4 Prozent.
Warum Petry auch eine Partei wollte und Wagenknecht nicht
Als sie jüngst Sahra Wagenknecht aufforderte, ebenfalls über eine Parteigründung nachzudenken, wurde schon spekuliert, sie biete Sahra Wagenknecht eine Zusammenarbeit an. Das weist Frauke Petry als „Missinterpretation“ aber weit von sich. Sahra Wagenknecht umgekehrt auch. Eine „Aufstehen“ Partei lehnt sie ab. Es sollten ja gerade Anhänger gewonnen werden, die Parteien skeptisch gegenüberstehen — auch wenn sie bedaure, dass das Wahlgesetz Bewegungen anders als Frankreich stark behindere. „Die anderen werden uns aber kaum den Gefallen tun, das zu ändern“, schätzt sie realistisch ein.
Auffallend ist, dass Sahra Wagenknecht Abstand zu anderen linksorientierten Sammlungsbewegungen hält, wenn es um den Migrationsstreit geht – wie von der Initiative „Unteilbar“, die am 13. Oktober in Berlin eine Viertelmillion Menschen auf die Straße brachte, u. a. auch unter dem Motto: „Für das Recht auf Schutz und Asyl – Gegen die Abschottung Europas! “
Das geht Sahra Wagenknecht offenbar zu weit: „Wenn wir über offene Grenzen für alle reden, dann ist das eine Forderung, die die meisten Menschen als irreal und völlig weltfremd empfinden, und sie haben recht damit.“ Frauke Petry würde sicher zustimmen. Sie fordert die Abschaffung des Asylrechts und die „Umwandlung“ in ein „Gnadenrecht“ und will nur noch „ausschließlich qualifizierten Zuzug nach Bedarf“ zulassen. An dieser Stelle werben Sahra Wagenknecht und Frauke Petry um dieselben Unzufriedenen. Auch wenn „offene Grenzen für alle“, wie sie Sahra Wagenknecht als Teufel an die Wand malt, außer Teilen der Linkspartei auch niemand ernsthaft fordert.
Speziell Wagenknecht imponiert der Erfolg der 2015 in Großbritannien gegründeten überparteilichen linken Bewegung „Momentum“. Diese verhalf dem Parteilinken Jeremy Corbyn in der zuvor sozialliberal geprägten britischen Labour-Partei an die Spitze. Seitdem er dort Parteichef ist und seine Partei auf links wendete, ist es aber ruhig um „Momentum“ geworden. Die einstige Bewegung ist auch nicht mehr „überparteilich“, denn alle, die mitmachen wollen, müssen jetzt verpflichtend auch Mitglied der nun von Corbyn geführten Labour-Partei sein. Eventuell ist das am Ende auch das Schicksal von „Aufstehen“.