Frankfurt/Main. Wie kommt es eigentlich, dass es Politikern so schwer fällt, die Konsequenzen zu ziehen und den Hut zu nehmen, wenn ihr politischer Auftrag gescheitert ist, oder wenn der Wähler seine Zustimmung versagt? Immer wieder stellt man fest, dass sich die Damen und Herren Politiker an ihren Posten festhalten, dass nur ganz wenige von ihnen das Rückgrat haben, Verantwortung zu übernehmen und zu gehen. Ist es die Angst, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden oder die wahnhafte Vorstellung, dass es ohne sie nicht ginge?
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt, bestimmt das Grundgesetz in seiner herrlich klaren, kraftvollen Sprache. Will das Volk also Spitzenpolitiker zur Resignation bewegen, so bringt es das bei Wahlen zum Ausdruck — eine andere Möglichkeit bleibt ihm nicht. In Bayern hat das Volk die CSU mit zehn Minuspunkten aus der Alleinregierung gekippt und die SPD in die Einstelligkeit gestürzt. Der Wahl indes folgte eine beispiellose Deformation der Demokratie. Alle blieben. Keiner war’s. Horst Seehofer, Markus Söder und Alexander Dobrindt, die Verderber der CSU, wie auch Natascha Kohnen, der Todesengel der Sozialdemokraten.
Der Missachtung des Volkswillens in Bayern folgt nun die Bestrafung der GroKo-Parteien in Hessen. Denn sie haben nichts begriffen. Dass sie alle ihre Ämter nur vom Wähler geliehen haben. Dass Rücktritt bei desaströser Erfolglosigkeit eine Frage der Ehre ist. Sein muss. Früher mal war. Gerhard Schröder gab 2004 den Parteivorsitz ab, als es mit ihm politisch bergab ging, und führte 2005 nach dem Verlust Nordrhein-Westfalens für die SPD Neuwahlen herbei, über eine absichtsvoll verlorene Vertrauensfrage im Bundestag. Seehofer, Söder und Dobrindt indes klammerten sich beim historischen Wahlbeben an ihren Amtssesseln fest — und selbst Seehofers nachfolgendes Kokettieren mit dem Rücktritt verfolgt nur den Zweck, dieses Schicksal abzuwenden.
Er hat ja auch recht, der gescheiterte CSU-Chef: Er war es beileibe nicht allein, der seiner Partei mit deren Wende nach rechts auf der Rechten nichts eingebracht, dafür aber in der Mitte fatal verloren hat. Sowohl sein Rivale Söder als auch sein Verbündeter Dobrindt hatten ihn doch beständig angefeuert und in die Konfrontation mit Angela Merkel getrieben, um die Kanzlerin über die Flüchtlingspolitik zu stürzen. Dobrindt rief zur „konservativen Revolution“ auf, ein historisch kontaminierter, reaktionärer Kampfbegriff, und legte mit der Debatte über die „Anti Abschiebe-Industrie“ Feuer. Söder goss in München lustvoll Öl in die Flammen, indem er etwa „Asyltourismus“ geißelte und Seehofers Merkel-Mission zum „Endspiel um die Glaubwürdigkeit“ der CSU verklärte. Selten hat eine komplette Parteiführung strategisch so geirrt.
Gelegenheit zur Debatte dieser Irrtümer und allfälliger Konsequenzen soll es aber erst nach Söders Wiederwahl zum Ministerpräsidenten geben. Der wäre damit allerdings schon unberührbar. Und wie es aussieht, hat er an Seehofers sofortigem Sturz kein Interesse, weil ihm der Parteivorsitz wohl nicht kampflos in den Schoß fallen würde — noch dazu nach einem ruinösen Abgang des Verratenen. Seehofer hat ohnehin nur noch ein Jahr Restlaufzeit.
Und Söder ist schwächer, als er markiert. Sein Aufstieg zum Regierungschef wie auch seine Nominierung zur nun folgenden Wiederwahl lassen eine Deformation von Demokratie ganz eigener Qualität erkennen. Beide Male hat es in den Gremien der CSU, Parteivorstand und Landtagsfraktion, keine einzige geheime Wahl gegeben, in der die verbreiteten Antipathien gegen jenen Mann hätten Ausdruck finden können, dem Seehofer einst einen Hang zu „Schmutzeleien“ nachgesagt hatte. Die Partei täuscht Geschlossenheit nur vor.
Auch diesmal wieder. Am Tag nach der Wahl nominierte der CSU-Vorstand Söder einstimmig per Handzeichen. Einen Tag später folgte die Landtagsfraktion in Offener Abstimmung, ebenso einstimmig. Wer sich der Proklamation widersetzt hätte, wäre womöglich ein Fall für Söder’sche Omerta geworden. Nicht umsonst ist geheime Wahl das Leitbild der Verfassung.
Alois Glück, Parteidenker und früherer Fraktionschef, hat die Entstellung der CSU benannt. Diskussionen in den Gremien seien „mit der Forderung nach loyaler Gefolgschaft“ eingeengt worden. Die Vielfalt der Partei sei in den Führungsämtern nicht mehr sichtbar, und in diversen gesellschaftlichen Gruppen sei die Partei nicht mehr präsent. „Das ist der Prozess der inneren Aushöhlung der Volkspartei CSU.“ Damit freilich ist sie nicht allein. Übrigens: Auch Angela Merkel hat nur widerwillig den Parteivorsitz rausgerückt, doch anstatt sich ganz aus dem Politbetrieb zurück zu ziehen, droht sie einen Verbleib bis 2021 an – als Kanzlerin. Vielleicht sollte sie sich als Bundespräsidentin bewerben, da kann sie repräsentieren statt zu agieren. Da sind die Gewässer weniger unruhig als in der Parteipolitik.