Paris. Jetzt zieht er offensichtlich die Reißleine und strukturiert sein gesamtes Kabinett um: Und das nach nicht einmal eineinhalb Jahren an der Regierungsspitze. Emmanuel Macron setzt alles auf Anfang und wagt einen Neuanfang. Gründe dafür gibt es ein Menge, doch bringt diese Maßnahme auch wirklich den ersehnten Erfolg? Denn seit Längerem brodelt es an der Seine und vom einstigen Glanz des „Heilsbringers“ ist aus Sicht der meisten Franzosen nur noch wenig geblieben.
Der Umbruch ist schmerzhaft: Die Frau, nennen wir sie Suzanne, sitzt in einem Café im Pariser Stadtviertel Marais und kann noch nicht so recht glauben, was ihr widerfährt: »Es war brutal, es gab keinen Grund. Jedenfalls haben sie keinen angeführt.« Suzanne hat gerade ihren Job verloren. Vermutlich, weil mal wieder ein neues Gesicht hermusste. Ihre Nachfolgerin jedenfalls soll nun für »frischen Wind« sorgen, so formulierte es Suzannes ehemalige Chefin bei deren Vorstellung. Nun arbeitete Suzanne nicht irgendwo, sondern als Beraterin im Élysée, für Emmanuel Macron. Sie arbeitete für ihn seit mehreren Jahren, von morgens früh bis spät abends. Schon im Wahlkampf hatte sie ausgeholfen, ehrenamtlich. Sie gehörte nicht zum innersten Zirkel seiner Vertrauten, war aber doch immer dabei. Damit ist jetzt Schluss. Warum? Die Antwort ist in der Tat banal: Nach den Schlappen der vergangenen Monate soll ein Neuanfang inszeniert werden, so wollen es Macron und die Seinen. Und was sich im Kleinen, fast Verborgenen im Élysée vollzieht, das wird auch auf der großen Bühne der Republik möglichst wirkmächtig aufgeführt. Lange war sie angekündigt, nun ist sie endlich vollbracht: die Regierungsumbildung. Am Dienstag ließ Emmanuel Macron sein neues Kabinett vorstellen. Unabdingbar für den Neuanfang, wie man im Élysée glaubt.
Ein wenig Aufwind könnte nicht schaden, das ist unbestritten. Denn 17 Monate nach seinem Amtsantritt befinden sich Emmanuel Macron und seine Zustimmungswerte auf anhaltender Talfahrt. Zäh haftet das Pech am einstigen Glückskind Macron — und das schon seit Wochen. Laut einer Umfrage des Instituts Ifop waren im September nicht einmal mehr ein Drittel der Befragten zufrieden mit ihrem Präsidenten, bei Amtsantritt waren es mehr als doppelt so viele. Ob allerdings neue Köpfe ausreichen werden für den viel beschworenen Neuanfang, ob Macron damit den Trend umzukehren vermag, ist fraglich.
Denn die Neubesetzungen zeigen bisher vor allem eines: Wie dünn die Personaldecke bei den Macronisten mittlerweile ist. So folgt eine Rochade auf die andere. Das war so im Umweltministerium, als der scheidende Ex-Fernsehstar Nicolas Hulot durch den Präsidenten der Nationalversammlung ersetzt wurde. Mindestens zwei andere Kandidaten hatten zuvor abgelehnt. Daraufhin musste wiederum der Posten des Parlamentspräsidenten neu besetzt werden, und zwar durch den Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei La République en marche (LREM). Woraufhin dort wieder eine Lücke entstand — das Ganze wirkte zuletzt wie eine Variante des Kinderspiels Reise nach Jerusalem.
Zum neuen Innenminister ernannte Macron nun seinen Vertrauten der ersten Stunde, den früheren Sozialisten Christophe Castaner. Das wurde notwendig, weil ein anderer Vertrauter der ersten Stunde, Gérard Collomb, den Posten aufgab, um wieder Bürgermeister von Lyon zu sein. Seinen Rücktrittswunsch reichte Collomb nicht zuerst beim Präsidenten ein, sondern bei der Tageszeitung »Le Figaro«. Die Trennung, so viel lässt sich sagen, verlief nicht einvernehmlich. Und sie verstärkte den Eindruck, dass der Masterplan, den Macron für seine Amtszeit hatte, ihm mehr und mehr zu entgleiten droht.
Castaner ist keine Wahl, die verblüfft — aber wieder eine, die eine Leerstelle hinterlässt. Denn »Casta« hatte auf Geheiß des Präsidenten erst im November den Posten des Vorsitzenden von LREM übernommen. Eigentlich war er damit betraut, für die Partei, und damit für Macron, die Europawahlen vorzubereiten. Keine völlig unbedeutende Aufgabe.
Christophe Castaner, 52, ist so etwas wie die Allzweckwaffe Emmanuel Macrons. Was ihm bei seiner Aufgabe als »oberster Polizist« des Landes helfen dürfte, ist seine große Nähe zum Präsidenten, den er duzen darf. Seine Beziehung zu Macron erreiche durchaus eine »Dimension der Verliebtheit« erklärte er einmal. Ein Satz, den Castaner auch wiederholt, wenn es sein muss.
Die großartige Verlegerin Franqoise Nyssen hingegen verließ das Kulturministerium mit bitteren Worten. Sie sei auf diese Rolle nicht vorbereitet gewesen: »Die Gewalt und Brutalität des Politbetriebs sind schwer zu ertragen.«
Zwei Wochen hatte es gedauert von der Ankündigung der Regierungsumbildung bis zu ihrer Umsetzung, so lange wie noch nie. Und wer auf spektakuläre Neubesetzungen gewartet hatte, wurde enttäuscht. Was folgte, war allenfalls eine pragmatische Neuaufstellung, der Emmanuel Macron am Dienstagabend zur Hauptnachrichtenzeit eine betont nüchterne Erklärung folgen ließ. Da saß er in seinem Büro im Elysée, eher schlecht ausgeleuchtet hinter einem Marmortisch, vor ihm seine handschriftlich korrigierte Erklärung, von der er, sonst Meister der Inszenierung, nachrichtensprecherhaft ablas. In Berlin würde man sagen: Macron will zurück zu den Sachthemen. Seine Ansprache eröffnete der Präsident mit den Worten: Er wolle den »direkten Kontakt« zu den Franzosen. Macron hat Verstanden, dass er zuletzt vor allem als abgehoben und arrogant wahrgenommen wurde. »In den vergangenen Monaten war der Sinn meines Handelns vielleicht nicht immer klar erkennbar«, fuhr er fort. Manche Menschen habe er wohl durch seine »Direktheit« und seine »Entschlossenheit« verstört. In diesen Worten liegt eine feine Note »mea culpa«, kalkulierte Demut, eine Neuerung der vergangenen Wochen. Geholfen hat es bisher wenig.
Es war kein guter Sommer für Emmanuel Macron. Auf die sogenannte Benallaffäre, das Ungemach um einen prügelnden Sicherheitsmann, folgten die Rücktritte wichtiger Minister, die jene zuerst entweder im Radio verkündeten oder in der Zeitung. Es waren Abgänge, bei denen der machtbewusste Macron keine sonderlich gute Figur dem machte. Glück scheint ihm auch sein Neben einst so sicherer Instinkt abhandengekommen zu sein. Macron tritt, für ihn ungewohnt, in ein Fettnäpfchen nach dem anderen. So zum Beispiel bei einer Reise auf die französischen Antillen, wo er Volksnähe demonstrieren wollte und nahezu zwanghaft jeden, der ihm begegnete, umarmte, küsste, anfasste.
Auf diese Weise entstand ein merkwürdiges Bild, das prompt als Meme im Internet um die Welt ging: Auf dem Foto legt Macron den Arm um den nackten Oberkörper eines muskulösen Mannes. Nur bemerkte weder er noch jemand aus seiner Entourage, dass dieser Mann dabei seinen Mittelfinger in die Kamera hielt. Prompt prasselte jede Menge Häme auf Macron nieder, sodass er vor Vertrauten die Fassung verloren und gesagt haben soll: »Manchmal hab ich es so satt, nichts funktioniert mehr.«
Derjenige, über den der Schriftsteller Emmanuel Carrere einmal schrieb, er vermöge sogar »einen Stuhl zu verführen«, scheint zunehmend irritiert von dem Tief, in dem er seit Wochen steckt. Spricht man mit jenen, die ihn umgeben, erzählen sie, dass er jetzt manchmal müde wirke oder unaufmerksam sei. Die Schuld für seine derzeitige Situation sieht er mal bei den anderen, mal bei sich selbst: »Sie gönnen uns keinen Erfolg!«, heißt es dann. Aber natürlich merkt Macron, dass er das große Versprechen seiner Wahl, die Franzosen mit sich selbst auszusöhnen, bisher nicht eingelöst hat. Es gibt einige Theorien darüber, warum das so ist. Die stichhaltigste liefert Luc Rouban in seiner Analyse »Le paradoxe du macronisme«. Darin erklärt der am renommierten Institut Cevipol forschende Politikwissenschaftler, inwieweit die Wahl Macrons und ihre Prämissen mit der jetzigen Situation zusammenhängen.
Dieser Präsident, auch weil er so jung sei, so Rouban, sei den Franzosen noch immer weitgehend unbekannt, genau wie diejenigen, die für ihn arbeiten, ob als Berater oder als Minister. Entsprechend groß sei das Misstrauen ihnen gegenüber. Alles neu erschaffen zu wollen, alles anders zu machen als die Vorgänger ist eben nicht nur von Vorteil bei den Wählern.
Zu Recht weist Rouban darauf hin, dass das alte Lagerdenken, die Einteilung in rechts und links, die Frankreichjahrzehntelang prägte, nicht plötzlich, von einem Tag auf den anderen, verschwunden sei. Er glaubt, den Franzosen liege der managerhafte Stil Macrons nicht, auch deshalb, weil der so verwirrend autoritär daherkomme. Sein größter Fehler allerdings beruht für Rouban auf einer falschen Grundannahme: Anders als Macron glaube, gehe es einem Großteil seiner Wähler nicht um mehr Eigenverantwortung. Die Franzosen wollten vor Armut und vor Gefahren wie dem Terrorismus, aber auch vor dem Verlust des eigenen Lebensstandards geschützt werden. Der sogenannte Macronismus, folgert Rouban daraus recht grausam, sei deshalb nichts anderes als eine »politische Schimäre« (Trugbild).