Berlin. Es geht um sehr viel für Deutschland. Um Macht und Durchsetzungsvermögen und um das Interesse, den Willen des deutschen Volkes zu repräsentieren. Nicht ums Regieren als Repräsentantin, sondern darum, die Probleme anzupacken und zu lösen. Gesprochen wurde viel, lamentiert und disputiert auch, jetzt ruft des Volkes Stimme nach einer Führungspersönlichkeit, die unser Land zum alten Glanz und zur Einigkeit zurückführt. Das könnte ein Jens Spahn oder ein Ralph Brinkhaus sein, vielleicht ein Friedrich Merz, aber niemals die Leute, die im Dunstkreis von Angela Merkel gebuckelt und abgenickt haben: So wie Frau Kramp Karrenbauer. Auch später, wenn es um die Kanzlerschaft geht, darf niemals eine Andrea Nahles die deutschen Geschicke bestimmen und mit teils großmäuligen Parolen unser Land international vertreten. Gott bewahre: Wir brauchen eine unverbrauchte Demokratie, die das Volk wahrnimmt und vertritt, die die vielen „Baustellen“ abarbeitet und das verstaubte System umkrempelt und reformiert. Für Ursula von der Leyen und Horst Seehofer wird dann schon lange kein Platz mehr sein im Parlament. Sowieso nicht für Leute, die nur Parolen dreschen, die von Arbeit sprechen, aber diese nicht verrichten und die dem stillen Niedergang einer stolzen Nation beinahe tatenlos und chancenlos zusehen. Kritische Stimmen sagen sogar: Die Kanzlerin hat eine echte Reform, einen Neuanfang behindert. Jetzt sollte sie schnellstens ihren Rücktritt vom Parteivorsitz auch auf ihre Kanzlerschaft ausdehnen.
Gewinner und Verlierer
Volker Bouffier lächelt gequält. Da ist nix zu beschönigen, das weiß er in diesem Moment zu gut. Er ist ja ein altes Schlachtross, hat viel erlebt. Seit acht Jahren ist er Ministerpräsident in Hessen. Er wird es wohl bleiben. Und das ist noch das Beste, was er mitbelegter Stimme vorbringen kann, als er im Hessischen Landtag vor seine Parteifreunde tritt. Besser gesagt: treten muss. Ein Sieg, der sich anfühlt wie eine Niederlage, in Zeiten, in denen nichts mehr so ist, wie es mal war. Nun konnte auch in Hessen der Niedergang der Volksparteien besichtigt werden. Die CDU hat es schlimm erwischt. Bouffier hat eine Botschaft für Berlin, nein, eigentlich sind es zwei: weniger Streit. Ordentliche Arbeit. So einfach? Diesmal eher nicht. Diesmal spricht viel dafür, dass in Union und SPD eine Fußballerweisheit in leicht abgewandelter Form zum Tragen kommt: Nach dem Beben ist vor dem Beben.
Das Schrumpfergebnis der CDU in Hessen, die Wählerabwanderung Richtung Grüne und AfD können eine Kettenreaktion auslösen — jederzeit. Das Desaster der SPD erst recht. Als geeigneter Termin bietet sich der kommende Sonntag an, wenn sich die Vorstände beider Parteien in getrennten Sitzungen zur strategischen Analyse treffen. Die Große Koalition steht auf dem Spiel. Und damit Angela Merkels Kanzlerschaft. Showdown? Es wird dann Merkels 4730.Tag als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sein. Ein Tag, so mag sie das auch selbst empfinden, an dem es um ihr politisches Überleben geht. Um Abschied und Anfang. Und um die Frage, was zählt. Quo vadis, Kanzlerin?
Es hat sich abgezeichnet, vor allem in der eigenen Partei. Früh schon vermeldeten die Seismografen erste Ausschläge auf der nach oben offenen Merkel-Bedenken-Skala. Den Anfang machte der Altmeister der politischen Krisenanalyse, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Bereits vor knapp drei Wochen hatte er in einem Hörfunkinterview so trocken wie doppelsinnig festgestellt, dass Merkel „nicht mehr so unbestritten“ sei wie in den Legislaturperioden zuvor. Da hatten sie noch nicht mal in Bayern gewählt. Nicht mehr so unbestritten. Unbedacht sagt Schäuble so etwas nicht. Was hat er gemeint? Die Loyalität dieses Mannes zu dieser Kanzlerin war immer grenzenlos; frei von Kritik an ihr war Schäuble aber nie. In der Flüchtlingspolitik hat er sich im Herbst 2015 früh von der Merkel-Linie mit dem Satz abgesetzt: „Lawinen kann man auslösen, wenn irgendein etwas unvorsichtiger Skifahrer an den Hang geht und ein bisschen Schnee bewegt.“ Und jetzt? War es diesmal so etwas wie das verabredete Startsignal? Ein öffentliches „Nun traut euch endlich — es ist Zeit, aus der Deckung zu kommen“?
Fast zwei Jahrzehnte hat Merkel die CDU geprägt, hat sie verändert und gegen zum Teil heftige Widerstände neu ausgerichtet. 13 Jahre lang hat sie Deutschland als Kanzlerin durch mehrere Krisen gesteuert. Seit dem Streit um die Flüchtlinge aber hat ihre Bindekraft, wie das Politologen nennen, in der Partei zusehends nachgelassen. Schon seit geraumer Zeit spüren alle: Diese Ära neigt sich dem Ende zu. Was neu ist: Nun wird auch darüber geredet. Sie selbst kokettiert mit dieser Endzeitstimmung in bislang nicht gekannter Weise. Bei ihrer Wahlkampfrede in Fulda am vergangenen Donnerstag stellt sie sich selbstironisch vor, wie nach ihrem Auftritt über sie geredet werde: „Die Merkel war da, habt ihr der eins mitgegeben?“
Wenige Tage zuvor hatte die Kanzlerin sogar in bis dahin nicht gekannter Offenheit über ein Szenario fürs Karriere-Ende gesprochen. „Alle Versuche, dass diejenigen, die heute oder in der Vergangenheit tätig waren, ihre Nachfolge bestimmen wollten, sind immer total schiefgegangen. Und das ist auch richtig so.“ Es klang lakonisch. Und doch — womöglich wird sie diesen Satz nicht mehr los. Denn es klang auch wie eine Aufforderung: Wer ihr Erbe antreten wolle, der könne auf Protektion nicht hoffen. Er oder sie muss rechtzeitig selbst nach der Macht greifen.
War das der Startschuss? Fünf Wochen sind es nur noch bis zum entscheidenden Parteitag der CDU in Hamburg, auf dem die Wiederwahl Merkels ansteht — oder ihr Rückzug. Abschied und Anfang. Und die Frage, was zählt.
Es gibt sogar schon Gegenkandidaten. Randfiguren nur, wie den Bonner Staatsrechtler Matthias Herdegen, der etwa eine Einwanderungs- und Flüchtlingsstrategie fordert, in welcher der Staat „seine Autorität bei der Durchsetzung des Rechts zurückgewinnen“ solle. Herdegen hat keine Chance. „Die Frage ist allerdings, ob eine Figur mit Gewicht aus der Deckung kommt“, sagt ein CDU-Präsidiumsmitglied . „Dann kann es eng werden.“
Eine Niederlage Merkels bei einem offenen Rennen in Hamburg — es wäre ein Beben. Tatsächlich sind die Positionskämpfe potenzieller Nachfolger bereits im Gange. Gesundheitsminister Jens Spahn gibt sich wenig Mühe, seine Ambitionen auf den Job im Kanzleramt („Klar will ich gestalten“) zu verklausulieren. Ein Anlauf in Hamburg könnte für ihn noch zu früh kommen. Armin Laschet, der Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, ist allein qua Amt im Rennen. Laschet will, sagen politische Beobachter. Auch das wäre neu: Bislang galt der stets verbindliche Aachener als Merkel-loyal. Ganz vorn im Rennen mit dabei: Annegret Kramp-Karrenbauer aus dem Saarland, die ihr Ministerpräsidentenamt im Februar dieses Jahres aufgab, um der Partei als Generalsekretärin in schwieriger Lage zu „dienen“, wie sie selbst formuliert. „AKK“ versteht es wie sonst keiner in der CDU-Spitze, ihr Streben nach mehr als selbstloses Engagement zu tarnen. Doch ihre Machtansprüche werden immer deutlicher. Als eine ihrer ersten Aktionen startete die Generalin im Frühjahr eine deutschlandweite „Zuhör-Tour“ durch die CDU. Jedes Parteimitglied konnte sich den Frust, die Enttäuschung über die Politik der Kanzlerin von der Seele reden. Kramp Karrenbauer lauschte. Stundenlang. Dass die 56-Jährige diese kräftezehrende Tour durchgezogen hat, ist für sie von unschätzbarem Wert. Sie konnte dabei ein feines Sensorium für die Stimmung in der Partei entwickeln — und gleichzeitig ein Bündnis mit der Basis schmieden. Viele CDU-Mitglieder hatten seit Jahren das Gefühl, nicht mehr ernst genommen und gewürdigt zu werden. Bis „AKK“ auftauchte — der leibhaftige Kummerkasten. Geschickt hat es Kramp-Karrenbauer verstanden, in dieser Zeit mehr und mehr aus dem Schatten von Merkel zu treten — ohne sich bei offenen llloyalitäten erwischen zu lassen.
Doch sie wird mutiger. Auch das zeigten die letzten Tage vor der Wahl in Hessen. Der Seismograf vermeldete neue Ausschläge. Die Flüchtlingsentscheidungen der Kanzlerin aus dem Herbst 2015 seien für die CDU ein Einschnitt gewesen, wie ihn die SPD mit Gerhard Schröders Agenda 2010 erlebt habe, bemerkte die Generalsekretärin. Zwar verband sie diese Feststellung mit dem üblichen Appell zur Geschlossenheit, die gezogene Paralelle aber bleibt bemerkenswert. Offenbar findet die Generalsekretärin, dass Merkels Migrationspolitik die CDU ebenso nachhaltig traumatisiert hat wie die Schröder’schen Sozialreformen die SPD. Stellt sich die Frage: Wer macht Frau Merkel eigentlich verantwortlich für diesen generationenübergreifenden Alleingang – dann wenn die Bundes-Mutti beizeiten in ihrem heimischen Garten werkelt und den lieben Gott einen guten Mann sein läßt?
Kramp Karrenbauer drängt sich auf
Außerdem spekulierte AKK wenige Tage vor der Wahl ohne erkennbares Bedauern über einen möglichen Bruch der Großen Koalition durch die SPD und über Neuwahlen. Ihre Worte können nicht nur vordergründig als Drohung gegenüber dem Koalitionspartner SPD verstanden werden. Sie lassen sich auch werten als vorsichtige Absetzbewegung zu ihrer Chefin. Denn in der CDU gilt als ausgemacht: Noch einmal kann Merkel, selbst wenn sie wollte, unmöglich als Kanzlerkandidatin antreten. So weit hergeholt ist ein Bruch nicht. Im Willy-Brandt-Haus trat noch am Wahlabend die leichenblasse SPD-Chefin Andrea Nahles vor die Kameras und stellte der Groko so etwas wie ein konditioniertes Ultimatum. Es müsse nun einen „verbindlichen Fahrplan geben“, sagte Nahles. Und weiter: „An der Umsetzung des Fahrplans können wir dann ablesen, ob wir in dieser Regierung noch richtig aufgehoben sind.“ Es klang nach Exit. Lieber früher als später.
Und es sieht so aus, als ob sich Kramp Karrenbauer nicht vergebens bereit machte für den großen Karrieresprung. Sie hätte das Zeug dazu. Denken hartgesottene CDU-Leute. Doch aufmerksame Beobachter der politischen Szene wissen, sie macht wahrscheinlich die gleichen Fehler wie Merkel. Obwohl: Für Merkel ist die CDU immer nur ein Vehikel zur Machtausübung gewesen. Für Kramp-Karrenbauer ist sie das Leben. Katholisch, verheiratet, drei Kinder, Eintritt in die CDU mit19 Jahren — die Frau mit dem Saar-Singsang in der Stimme kommt aus dem Bauch der Partei. Ohne sich zu weit vom Modernisierungskurs Merkels abzusetzen, setzt Kramp-Karrenbauer wiederholt konservative Akzente, als wolle sie die hypernervös gewordene Partei beruhigen: Sie stützte Merkels Flüchtlingspolitik, sorgte aber dafür, dass abgelehnte Asylbewerber rigoros aus dem Saarland abgeschoben wurden. Sie sprach sich für die Frauenquote aus, bezog aber vehement Position gegen die „Ehe für alle“. Spricht man „AKK“ auf die nähere Zukunft der Großen Koalition an, sagt sie: „In allen drei Parteien herrscht eine ungeheure Dynamik. Wie die nächsten Wochen verlaufen werden, ist schwer vorhersehbar.“ Also doch — Abschied und Anfang?
Merkel repräsentiert nur noch
Nach wie vor fliegt Merkel rastlos durch die Welt, am vergangenen Samstag Istanbul, an diesem Donnerstag ist sie in der Ukraine, am Freitag in Polen. Es gibt immer was zu tun. Aber womöglich findet sie auf ihren vielen Dienstreisen die Gelegenheit, ihren eigenen, mittlerweile legendären Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ nachzulesen, mit dem sie das Signal gab zur Loslösung der Partei vom Patriarchen Helmut Kohl.
Damals, am 22. Dezember 1999, schrieb Merkel: Vielleicht sei es nach einem so Iangen politischen Leben zu viel verlangt, von heute auf morgen alle Ämter niederzulegen und sich aus der Politik zurückzuziehen. Die CDU müsse sich „wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen“. Dann schrieb Merkel noch: „Ein solcher Prozess geht nicht ohne Wunden, ohne Verletzungen.“