Sao Paulo. Ein teilweise armes Land, mit hoher Arbeitslosen- und Kriminalitätsrate hat ein einzige Chance, an dem weltweiten finanziellen Aufschwung zu partizipieren: Wenn der staatliche Konzern PETROBRAS weiterhin gigantische Mengen an Rohöl fördern kann. Davon hängen tausende Arbeitsplätze und auch der Wohlstand für die Ärmeren im Land ab. Nach der Wahl geht nun die Angst um, dass PETROBRAS privatisiert wird und tausende Ihre Arbeit verlieren. Wie korrupt sind die neuen Machthaber, dass sie den Verkauf von PETROBRAS zulassen? Und damit dem ganzen Land mehr schaden als nützen.
Schon am Anfang der Stadt grüßt ein gewaltiges Schild: „Macaé – Erdöl- Hauptstadt.“ Die ersten Gebäude, die dann auftauchen, sind die Bürotürme der Raffinerien. Und am schönsten Strand der malerischen Atlantikbucht im Norden des Bundesstaates Rio de Janeiro sitzt kein Hotel – sondern ein Industriegelände aus Öltanks, Piers und dem gelb-grünen Schriftzug: Petrobras. Dort demonstrieren an diesem Tag schon zu Schichtbeginn zwei Gruppen vor dem Tor des Werksgeländes. Die größere trägt Transparente mit dem Schriftzug: „Wir Arbeiter kämpfen gegen den Putsch! Keine Privatisierung!“ Die kleinere, kaum leisere, verteilt Handzettel mit der Botschaft: „Keine Verstaatlichung von Petrobras! “ Es sind — unverkennbar — heiße Zeiten nach den Präsidentschaftswahlen im Oktober.
Jahrelang war das staatlich kontrollierte Unternehmen Petroleo Brasileiro S.A. (Petrobras) mit seinen fast 100 000 Angestellten der größte Konzern Lateinamerikas. Zu besten Zeiten produzierte er 2,5 Millionen Barrel Erdöl am Tag und erwirtschaftete mehr als zwei Prozent von Brasiliens Bruttoinlandsprodukt. Mit dem Aufstieg Petrobras‘ während des Rohstoffbooms vor zehn Jahren wuchs auch Brasiliens Wirtschaft um jährlich bis zu zehn Prozent. Genau wie Macaé. Das einstige Fischerdorf wurde zur Offshore-Basis für die Bohrinseln vor der Küste — und zur Boomtown des Landes.
Und gleichzeitig zu einer Art Symbol: Ein Schwellenland kann es bis ganz nach oben schaffen. Anfang 2014 aber setzte der Absturz ein. Der Ölpreis fiel, dazu geriet Petrobras ins Zentrum des größten Korruptionsskandals der Geschichte, genannt „Lava Jato“ – Waschanlage. Der Konzern stand bald am Abgrund, genau wie Brasiliens Wirtschaft und in der Folge Macaé. Nun, nach vier langen Krisenjahren, gibt es immerhin Anzeichen einer Erholung. Bloß kommen jetzt die Wahlen.
PUTSCH ODER VENEZUELA?
Die Nervosität unter den Arbeitern vor den Werktoren ist spürbar. Das bisher Undenkbare nämlich steht mit zur Wahl: die Privatisierung des staatlich kontrollierten Ölriesen — das, was sie als Teil eines „rechten Putsches“ sehen. Die anderen hingegen, vor allem Manager und Ingenieure, befürchten die Verstaatlichung — das, was sie den Beginn einer „Venezuelanisierung“ nennen, mit fürchterlichen Folgen: Hyperinflation, Industrieflucht, Bürgerkrieg.
Inmitten der Demonstranten steht Macaés Bürgermeister, Aluizio dos Santos Junior, ein hagerer Mann mit sanfter Stimme. Sie haben ihn 2012 als Outsider gewählt, weil sie Politiker satthaben. Eigentlich ist er Arzt. Aluizio spricht täglich mit den verängstigten Bürgern. Die ArbeitsIosigkeit liegt bei 25 Prozent. 40 000 der 160 000 Arbeitsplätze sind verschwunden. Seit vier Jahren ist er täglich im Krisenmodus. Schon 2015 hat er sein Gehalt und das der Stadtangestellten um 20 Prozent gekürzt. „Wir haben nichts mehr“, beschimpft ihn ein ehemaliger Bohrinsel-Arbeiter, und andere fallen mit ihren Klagen ein. Sie wollen bei den Wahlen etwas Neues, Radikales. Das Establishment tut’s nicht mehr. Das gehört zu den heutigen Widersprüchen Brasiliens: Die Arbeiter misstrauen niemandem so wie dem Staat, wollen Petrobras aber nicht aus den Händen dieses Staates geben.
Die Krise hat Brasilien und Macaé schwer zugesetzt, erklärt Aluizio später. „Bis 1978 waren wir ein Fischernest“, sagt er. „Dann kam Petrobras. Vorher gab es nur Fischerei und Tourismus, dann nur noch Öl und Gas. Ein Job in der Industrie zog acht andere nach sich. Wir waren dabei, Houston zu werden oder zumindest Aberdeen. Aber wir sind eben Brasilien. Die Korruption killt uns.“ Die Öl- und Gasindustrie allein macht 30 Prozent der Wirtschaftsleistung des Bundesstaates Rio aus. Nach dem Einbruch 2014 aber blieben vor der Küste nur noch 19 von 110 Bohrsonden in Betrieb. Macaés Einnahmen waren weg, aber all die neuen Einrichtungen — Schulen, Krankenhäuser — kosteten weiter. Die Kriminalität geriet außer Kontrolle.
„Gerade erholen wir uns etwas“, erklärt der Bürgermeister und führt ins Rathaus, wo er sich auf den Besuch künftiger Investoren vorbereitet. Die ersten Erdöl-Auktionen sind nach einer fünfjährigen Pause wieder über die Bühne gegangen, allein Exxon MobiI hat sich acht Offshore-Blocks gesichert. Die Lizenzgebühren haben sie halbiert. „Um Unternehmen zu halten“, sagt Aluizio. 4 500 Firmen aus der Öl- und Gasindustrie seien noch in Macaé, darunter Baker Hughes, Halliburton, Schlumberger. „Wir sind die einzige Stadt der Welt, wo alle 42 Big Player vertreten sind. Aber wir werden nie wieder das Niveau der Vorkrisenjahre erreichen. Brasilianisches Öl ist besser als das aus Mexiko oder Venezuela, aber Houston werden wir nicht mehr. Vor allem nicht mit solchen Politikern.“ Er blickt hinaus auf das Meer, als versuche er, die Bohrinseln 200 Kilometer vor der Küste zu sichten. „Unsere großen Fragen sind: Was macht Petrobras? Was passiert nach den Wahlen? Und was macht der Neue dann mit Petrobras?“
Der Bürgermeister verdreht die Augen angesichts der Kandidatenliste bei den Wahlen. In den Umfragen führt mit großem Vorsprung Luiz Inåcio Lula da Silva, Staatspräsident während der Boomjahre bis 2010. Bloß darf er nicht bei den Wahlen antreten, nachdem er im Zuge des Lava-Jato-Korruptionsskandals zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Lula und sein möglicher Statthalter Fernando Haddad sprechen sich gegen eine Privatisierung von Petrobras aus, ebenso wie gegen die des Flugzeugbauers Embraer und des angeschlagenen Energieunternehmens Eletrobras.
Zweiter in den Umfragen ist Jair Bolsonaro, Ex-Armeeoffizier und Verteidiger der Militärdiktatur, ein Rechtspopulist vom Schlag Donald Trumps. Er ist nun Präsident geworden. Er bringt eine Privatisierung von Petrobras ins Spiel, bleibt aber — ähnlich wie Trump — oft vage und schwankend. Auf den weiteren Plätzen folgen die ehemalige Umweltministerin Marina Silva, die stärkere Auflagen für die Industrie fordert, und der Linkspopulist Ciro Gomes, der Petrobras komplett verstaatlichen und Privatisierungen rückgängig machen will. Sowie einige Pro-Business-Kandidaten, Säo Paulos Ex-Gouverneur Geraldo Alckmin und Finanzminister Henrique Meirelles, die aber in diesen polarisierten Zeiten mit ihren moderaten Botschaften kaum durchdringen.
GELÄHMT IN DER WM
„Alles ist offen. Und alles steht auf dem Spiel“, sagt Aluizio: für Petrobras. Für die Wirtschaft. Für Macaé. Der Präsident kann eine Kopie Donald Trumps werden oder ein neuer Hugo Chåvez. Er selbst war mal in der Partei des jetzigen Präsidenten Michel Temer, PMDB, trat aber aus Enttäuschung über die korrupte Führung aus. „Das war nicht mehr zu ertragen“, sagt der Mediziner.
Von den Präsidentschaftskandidaten macht ihm keiner Hoffnung. Er gibt damit die Haltung in weiten Teilen des Landes wieder: „Die Stimmung ist desaströs, Hoffnungslosigkeit und Lähmung. Sie hätten Brasilien während der WM sehen sollen: Es gab keine Euphorie nach Siegen, keine Enttäuschung nach dem Ausscheiden. Das Volk ist deprimiert.“
Brasilien, 208 Millionen Einwohner, ist weiterhin der wichtigste Staat Lateinamerikas, die mit Abstand größte Wirtschaft, an deren Wahlausgängen sich der Rest oft orientiert hat. Ein Trend aber ist auf dem chronisch volatilen Kontinent nur schwer auszumachen. Nach Jahren der Linksregierungen wählten Argentinien, Chile und Kolumbien zuletzt konservative Kandidaten des Establishments ins Amt. Mexiko entschied sich für den Linkspopulisten L6pez Obrador. Wirtschaftlich wirkt Südamerika orientierungslos. Venezuela zeigt abschreckend, wie ein sozialistisches Regime ein reiches Land zugrunde richten kann. Argentinien zeigt abschreckend, wie eine von einem Unternehmer geführte bürgerliche Regierung Inflation und Schulden nicht in den Griff bekommt.
Auch alte Links- und Rechtsschemata funktionieren kaum mehr. Der linke Lula war in Brasilien ein Beispiel dafür, dass ein Land mit einem Arbeiterführer an der Spitze nicht wie Venezuela oder Kuba enden muss. Der rechte Temer ist ein Beispiel dafür, dass eine vermeintlich businessfreundliche Regierung alles tut, um die so notwendige Korruptionsbekämpfung zu blockieren. Als ein Streik der Lkw-Fahrer kürzlich außer Kontrolle geriet, machte Temer sofort Konzessionen und beschloss in venezolanischer Manier eine staatliche Intervention beim Benzinpreis. Petrobras‘ CEO Pedro Parente, der das Unternehmen in zwei Jahren wieder auf Kurs gebracht hatte, trat daraufhin zurück. Das steigerte die Unsicherheit im Land nur: Was will der Staat mit dem Nationalheiligtum Petrobras? Und was will Petrobras selbst?
Die ikonische Zentrale des Ölgiganten, ein unverkennbarer Würfel aus den 60er-Jahren, befindet sich im Zentrum von Rio, nahe den weltberühmten Stränden. Hier schlägt das Herz Brasiliens. Zum Interview empfängt Vorstand Nelson Luiz Costa Silva im Keller, in einem fensterlosen Konferenzzimmer ohne Charme, das auch als Lagerraum dienen könnte. Die Botschaft ist eindeutig: Wir sind bescheiden geworden. „Petrobras ist heute ein völlig anderes Unternehmen als vor vier Jahren“, beginnt er eine Art „Mea-culpa-Rede“, obwohl er erst 2016 zum Unternehmen stieß. Auch ihn holte man von außen, als Sanierer, Strategen, Reformer — keiner aus dem System. „Wir waren am Rand des Untergangs, davon haben wir uns erholt. 2018 haben wir schon 20 Mrd. Euro Einnahmen an den Staat überwiesen“, rattert er die Erfolge herunter. „Die Gewinne sind in der ersten Jahreshälfte auf 4,5 Mrd. Dollar gestiegen, 257 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.“ Der Aktienkurs hat sich zwischenzeitlich versechsfacht – nach dem Streik der Lkw-Fahrer im Mai aber auch kurzzeitig fast wieder halbiert. Noch heute ist Petrobras das Erdölunternehmen mit den meisten Schulden weltweit. Und was ist überhaupt mit der Korruption bei Petrobras, die im Lava-Jato-Skandal detailliert ans Licht kam? „Wir haben überall Kontrollen eingeführt, einen Zehn-Punkte-Plan. Jeder Leiter braucht für wichtige Entscheidungen nun mehrere Unterschriften.“ Ein Ende der Korruption will aber auch Costa nicht garantieren; immerhin ist Korruption fast schon Teil der Landeskultur und ein Haupthindernis für Investitionen aus dem Ausland. „Ich kann zumindest sagen, dass sie fast unmöglich geworden ist. Selbst wenn Bestechung vorkommen sollte, wird sie in nächster Instanz entdeckt.“ Costa sieht, so grotesk es klingen mag, Petrobras und Brasilien heute als Vorbild für den Kontinent: Korruptionsbekämpfung kann gelingen, wenn die Justiz langjährige Haftstrafen durchsetzt. In Argentinien zeichnet sich gerade ein ähnlicher Prozess ab. Costa sagt: „Manchmal muss man tief fallen, um sich neu zu erfinden.“
Bloß ist die Reputation von Petrobras trotzdem im Keller. „Es ist schwer, einen guten Ruf aufzubauen. Und sehr leicht, ihn zu verlieren.“ Aber, glaubt er. Bei Investoren und Branchenkennern habe der Rufweniger gelitten. Die würden die Reformen sehen — und vor allem die sogenannten Pre-SaIt-Vorkommen vor Brasiliens Küste: Öl- und Gasfelder im Tiefseewasserbereich, unter einer gigantischen Salzschicht am Meeresboden. Die weltweit größten Ölfunde der vergangenen zehn Jahre. Die Zukunft von Petrobras hält Costa darum für rosig. Noch 2018 sollen vier neue Bohrinseln Öl aus dem Pre-Salt pumpen. Brasilien, ist er sich sicher, komme zurück. „Die alte Regel gilt immer noch: Geht es Petrobras gut, geht es Brasilien gut.“ Unverändert gilt Petrobras in Brasilien als Nationalheiligtum, ähnlich wie etwa Toyota in Japan. Eine komplette Privatisierung des halbstaatlichen Konzerns würde zum Aufstand führen. Aber eine volle Verstaatlichung womöglich auch — angesichts der Wut auf die Politik. Costa will sich politisch nicht äußern, auch zur Privatisierungsfrage nicht. Nur so viel gibt er preis: Eingriffe von Politik und Justiz ins Geschäft gefallen ihm nicht. Dass etwa das oberste Gericht Petrobras untersagte, Teile von Raffinerien ohne Zustimmung des Kongresses abzustoßen, sei nicht förderlich. So könnten sie das diesjährige Ziel beim Abbau der Gesamtschulden von 84 Mrd. Dollar nicht halten.
Vor der Wahl gab es Hoffnung: Für die Wahlen geht die Rechnung bei Petrobras und unter Brasiliens Managern wie folgt: Einer der Vernunftkandidaten muss es in die zweite Runde schaffen, in das Duell der beiden Erstplatzierten. Dann werden die Wähler den radikalen Kandidaten schon ablehnen. Schafft es aber der Rechtspopulist Bolsonaro gegen die Linkspopulisten Haddad oder Gomes in die Stichwahl am 28. Oktober – dann Gnade uns Gott. Und Bolsonaro hat tatsächlich gewonnen. Was nun?
In Macaé setzen die Stadtverantwortlichen derweil auf eine Wiedergeburt. Der neue Sekretär für Öl- und Gaspolitik, Sergio Coelho, hat ein Strategiepapier entwickelt, das er in seiner Schublade wie einen Schatz hütet. Petrobras, glaubt er, wird sich ganz von den bisherigen Bohrinseln zurückziehen und nur noch ins lukrativere Pre-SaIt gehen. „Mit den anderen Unternehmen — Schlumberger, Halliburton, Baker — haben wir einen Verbund geschlossen, um die Bohrinseln zu erhalten. 65 Prozent des Erdöls mögen abgepumpt sein, aber der Rest ist attraktiv genug. Die Großen gehen, viele Kleine kommen.“
Aberdeen in Schottland sei so sehr gut gefahren, sagt Coelho. Auch dort gehe es nicht mehr um die Erschließung neuer Ölfelder, sondern um die effiziente Nutzung der alten. Und um Erdgas. „Schon heute erzeugen wir hier 25 Millionen Kubikmeter pro Tag. Gas ist unsere Zukunft.“ Auch Coelho kam von außen — Ingenieur, Öl-Mann, in den frühen Tagen betrieb er 200 Bohrlöcher für Petrobras. Leute wie ihn brauche das Land jetzt, glaubt er: Pioniere, Manager, Visionäre — und zwar unbestechlich. Macaé sieht er nach vielen Reformen als Vorbild für Brasilien: Die Gehälter der Bürokraten — reduziert. Die Experten — aus der Wirtschaft. Die Kosten für Unternehmen — gesenkt. Die Bodenschätze — unendlich. Auch er sagt: „Man muss tief fallen, um sich ganz neu aufzustellen.“ Erst nach einer Weile setzt er hinzu: „Wenn die neue Regierung uns denn lässt.“