Afrika. Rücksichtslos gehen die Menschen gegen Tiere und Natur vor, wenn es um Profit, industrielle Ausdehnung oder Gewinnung von Bodenressourcen geht. Das Schicksal der Raubkatzen wie Löwe und Tiger scheint schon so gut wie besiegelt, nun haben Tierschützer größte Sorge, dass auch der Jaguar bald zum Aussterben verurteilt ist. Obwohl die „goldene Katze“ an der Spitze der Nahrungskette steht, ist ihr einziger Feind der Mensch, und der sorgt durch Wilderei und Verdrängung dafür, dass diese wunderbaren Raubkatzen bald ausgerottet sein könnten, wenn nicht irgendwie Hilfe naht.
Jenseits der Lagune sinkt die Sonne hinter einem hochgewachsenen, knotigen Feigenbaum. Eine Stunde ist es her, dass wir dort Fera gesichtet haben, ein Jaguar-Weibchen, dreieinhalb Jahre alt. Die stämmige Katze erklomm den Baum, kletterte hinauf in sein dichtes Grün und verschmolz gänzlich mit dem Muster seines Blattwerks: verborgen, um zu sehen und nicht gesehen zu werden. Für potenzielle Beute ist die Chance gering, die Jägerin auszumachen, unserem Blick verrät allenfalls die herabhängende Spitze ihres Von Day Schwanzes, dass die Katze geduldig auf ihrem Ast ausharrt. In der nun einsetzenden Dämmerung endet die Lauer dennoch ohne Fang. Ein Schatten gleitet herab, verschmilzt mit der Umgebung; der Jaguar ist fort.
Doch nicht für unsere Ohren. Im Geländewagen lauschen wir dem Tock-tock-tock eines kleinen Empfängers, während wenige Meter vor uns sechs Capybaras vorüberziehen, übergroß anmutende Verwandte des Meerschweinchens. Sie sind verbreitete Bewohner südamerikanischer Feuchtgebiete. Bis über 60 Kilogrammwerden sie schwer und wären eine perfekte Großkatzen-Mahlzeit. Doch wir brauchen keine Köder: Unser Fahrzeug, bemalt mit Jaguar-Mustern, ist mit einer Peilantenne ausgestattet, Fera (portugiesisch: „Biest“) trägt ein Sender-Halsband. Wir sind ihr gefolgt, durch das Grasland, über rumplige Pisten, durch dichte Wälder. Denn dieses schöne Tier ist ein Forschungsobjekt: Fera ist ein Waisenkind, wie ihre Zwillingsschwester
Isa, von Menschen aufgezogen und ausgewildert — niemand wusste, ob dies glücken würde. Das Projekt Oncafari hat es gewagt. Onca (gesprochen: Onsa) ist das portugiesische Wort für den Jaguar. Die goldene Katze ist hier in Brasilien nach einer historischen Münze benannt, die eine Unze wog. Wissenschaftler benannten sie entsprechend auf Latein „Panthera onca“,und Oncafari wiederum ist ein Wortspiel aus Onca und Safari: Das Schutzprojekt finanziert sich durch Öko-Tourismus. Es ist der Versuch, die menschliche Neugier auf die Wildnis in das Wohl Higgs der Tiere umzumünzen. Jaguare, die Einnahmen ins Land bringen, leben sicherer als solche, die als Bedrohung der lukrativen Rinderherden gelten. Es ist ein Geschäftsmodell, das sich in Afrika bewährt hat. Sein Import nach Südamerika soll verhindern, dass es der nach Löwe und Tiger drittgrößten Raubkatze der Welt ebenso ergeht wie der Verwandtschaft: zurückgedrängt in kleine Reservate, aufs Blut gejagt, verarbeitet zu exotischer Wundermedizin. Dank unserer drehbaren Antenne können wir Fera leicht folgen, kennen die Richtung und die Entfernung unseres Fahrzeuges von ihr. Mehrfach hören wir Feras Stimme, ein Grollen und gedämpftes Brüllen. „Ich würde sagen, sie ist auf Partnersuche“, sagt Carlos Eduardo Fragoso, ein junger Biologe in Diensten von Oncafari. 2014 machte er sein Examen, seither hat er sich auf den Schutz der südamerikanischen Raubtiere spezialisiert. Neben den großen Katzen haben ihn hier der Mähnenwolf und mehrere Fuchsarten nötig. Obwohl wir nicht auf Beute aus sind, spüren wir die fokussierte Konzentration des Jägers, folgen jeder Bewegung unseres Jaguars und bemerken, wie die Wahrnehmung dabei die gewaltige Geräuschkulisse der Wildnis ausblendet. Dabei entfaltet sich im „Ökologischen Schutzgebiet Caiman“ im Südwesten Brasiliens der Zauber einer außerordentlich artenreichen Landschaft, die machtvolle Magie der Natur. Stimmen, überall Stimmen. Leuchtend blaue Hyazinth-Aras fliegen in Formation durch die Dämmerung, die größten Papageien der Welt, einen Meter sind sie lang. Ihre Rufe klingen wie Familienpalaver. Ganze Scharen ihrer kleineren Verwandtschaft, die Blaustirnamazonen, stieben von den Bäumen auf, sie sind Stimmtalente, die mit ihrer Fähigkeit, die menschliche Sprache nachzuahmen, dem hochbegabten Graupapagei gleichkommen. Ein flaches Gewässer kommt nun in den Blick. Dort dümpeln ohne jede Deckung einige Kaimane, enge Verwandte des Alligators. Ihnen verdankt das Reservat seinen Namen.
Und dort ist sie wieder. Fera. Aus dem Schatten der Bäume löst sich die schattenhafte Katze, schleicht völlig lautlos ins Wasser und durchschwimmt es, von den mächtigen Reptilien völlig ungerührt. Durch die Oberfläche brechen nun nur noch Feras Augen, die Ohren und die Schwanzspitze, der Jaguar ist getaucht wie ein U-Boot auf geheimer Spähfahrt. Unter den Katzen zählt der Jaguar zu den geschicktesten Schwimmern: Panthera onca liebt das Wasser, denn es maskiert nicht nur die Sicht auf den geschmeidigen Jäger, sondern vor allem auch seinen Geruch, der am Ufer trinkende Beute aufschrecken könnte. Das Opfer der Wahl, so sehen wir jetzt, wäre ein Capybara gewesen, hätte nicht das kollektive Alarmsystem der reichen Fauna Fera in letzter Minute ausgemacht. Schlagartig Schreie überall, ein synchrones Aufschrecken, Flucht. Die Jagd ist gescheitert, Fera steigt ans Ufer, schüttelt eine Wolke aus Tropfen aus ihrem Fell und starrt lange zu uns herüber, als wollte sie sagen: Seht her, bin ich nicht grandios?
Trotz seiner Eleganz und Majestät hat der Jaguar in den vergangenen 50 Jahren die Hälfte seines Lebensraums eingebüßt. Einst jagte er von Arizona bis tief nach Argentinien hinunter; dieses immense Revier hat ihm der Mensch genommen. Vergiftet, erschossen, in Fallen gefangen und mit Jagdhunde-Rotten gejagt, wird die Katze nun seit Generationen bedrängt. Weil sie, wie wir mit eigenen Augen sehen, eine Meisterin der Tarnung ist, fallen Bestandszählungen schwer. Alan Rabinowitz, ein Jaguar-Experte von Weltrang und der Gründer der Großkatzen-Schutzvereinigung „Panthera“, schätzte die Zahl der verbliebenen Exemplare auf bis zu 30 000. Der WWF fürchtet, dass sie bereits 16000 unterschritten haben könnte. Die Weltnaturschutzunion IUCN, welche die globalen Roten Listen erstellt, führt den Jaguar bislang als „potenziell gefährdet“ auf, aber noch nicht akut vom Aussterben bedroht; andere Organisationen beurteilen seine Lage deutlich düsterer. Sie gehen davon aus, dass sich die Wilderei auf Jaguare in naher Zukunft ausweiten wird, da die auf dem asiatischen Markt nachgefragten Klauen, Knochen und Zähne des Tigers immer seltener und teurer werden. Die heilsamen Wirkungen, die der Volksglaube ihnen zuschreibt, lassen sich auch den sehr ähnlichen Körperteilen des Jaguars andichten. Und seit Alan Rabinowitz — Spitzname „Indiana Jones des Artenschutzes“ — am 5. August mit 64 Jahren starb, ist ein energischer und bestens vernetzter Fürsprecher der südamerikanischen Raubkatzen verstummt.
Die Szene der Natur- und Wildschützer ist vielfältig; umstritten ist auch, welche Ansätze Großwild am wirksamsten bewahren können. Mario Haberfeld, der Gründer von Oncafari, entschied sich, das Modell zu importieren, das etwa in Botsuana etabliert ist: Reisende aus wohlhabenden Ländern erleben die wilde Natur, finanzieren so Forschung und Fürsorge in den Schutzgebieten und machen die Bewahrung der Natur wirtschaftlich attraktiv. Ökonomie schafft Ökologie. Gerade in jenen Regionen Südamerikas, die sich traditionell auf Viehwirtschaft stützen, könnte sich das als funktionierendes Rezept erweisen. In Brasiliens Südwesten ist ein Großteil des Landes Privatbesitz, seit rund 250 Jahren sind Kultur und Identität der Region von den Ranchern geprägt. Zur Tradition gehört auch eine geschworene Feindschaft zum Jaguar: Kein anderes großes Raubtier vermag derartig immense Kräfte auf sein Gebiss zu übertragen wie der Onca — und das erklärt auch, warum Fera furchtlos Gewässer durch schwimmt, die von Kaimanen wimmeln. Deren Schädel könnte sie mühelos zermalmen. Oder ein fliehendes Rind aus dem Sprung heraus erlegen, um es dann in aller Ruhe auszuweiden.
Auf dem Territorium des Caiman-Schutzgebietes ist das binnen Jahresfrist 219-mal geschehen. Denn seine 53 000 Hektar sind zugleich Weideland. Dessen Besitzer, der Unternehmer Roberto Klabin, ist nicht nur Naturschützer, sondern auch ein kühler Rechner. „Normalerweise würden solche Beutezüge mit Gewalt beantwortet“, sagt Mario Haberfeld, „doch auf Klabins Land grasen mehr als 35 000 Rinder. Wir verlieren weniger als ein Prozent pro Jahr an die Jaguare. Und ein Gast, der eine Nacht bei uns verbringt, zahlt den Wert von drei Rindern oder mehr.“ Klabin ergänzt, dass die Jagd auf den Jaguar seit 1967 verboten sei: „Es scheint nur niemanden zu kümmern“, sagt er — stattdessen vergifte manch ein Nachbar die Raubkatzen und beseitige die Kadaver unauffällig. Das Oncafari-Team ist daher erkennbar angespannt, wenn eine „seiner“ Katzen über die Außengrenze des Caiman-Landes zieht. Etwa zu Paarungszeiten. Wie jetzt, im September, zum Ende der Trockenperiode, wenn die Luft flirrt und der Boden hart gebacken ist.
Zwei Tage nach der abendlichen Begegnung mit Fera bestätigt sich die Vermutung des Biologen Carlos Eduardo Fragoso: Wir treffen sie in Begleitung an. Brutus, ein zwölfjähriger Artgenosse und bekannt für seine leicht rüpelhafte Natur, teilt im Schatten von Palmen seine Mahlzeit mit Fera: einen mächtigen Kaiman. 120 Kilo bringt Brutus auf die Waage, es ist ihm ein Leichtes, mit imposanter Beute zu locken — das hilft, den von Oncafari gehegten Bestand von derzeit gut 100 Exemplaren mit eigenem Nachwuchs zu mehren. Kritiker sagen: Die Art, wie wilde Tiere durch Projekte wie Oncafari vermenschlicht werden, sei nicht artgerecht; sie gewöhnen sich an uns, der Mensch gibt ihnen Namen- Schon gegen die Veteranin der teilnehmenden Forschung an Affen, Jane Goodall, richtete sich einst dieser Vorwurf. Zu uns, den Besuchern und zeitweisen Beobachtern, aber baut sich eine Bindung auf, und schon nach wenigen Tagen fragen wir uns: „Was macht Fera heute wohl? Wie mag es Isa gehen?“ Auch die jungen Biologinnen und Biologen, die für Oncafari forschen und die Tiere regelmäßig untersuchen, motiviert dieser unmittelbare Bezug zum individuellen Tier anstelle einer abstrakten Spezies. Und die — da ist sich der unternehmerische Tierschützer Mario Haberfeld sicher — lässt sich auf diese Weise effektiver schützen. Wagnis und Konflikte ist er ohnehin gewohnt: Seine erste Karriere machte Haberfeld als Rennfahrer in der Formel 3.