München. Die einen leiden darunter, für andere ist es völlig fremd: Das ständige Zischen, Rauschen oder Klingeln im Ohr, welches man am deutlichsten wahrnimmt, wenn es leise ist, oder wenn man konzentriert über einer Arbeit sitzt. Wer diese Begleitgeräusche ständig hört, der kann davon ausgehen, dass er sie auch nie wieder los wird. Das liegt in der Natur der Sache. Nur ist die Frage, wie der einzelne damit klar kommt. Das kann sehr unterschiedliche Wahrnehmungen bedeuten, mit unterschiedlichen Konsequenzen. Bis zum Gefühl, verrückt zu werden, oder diesen „Quälgeist“ auf immer loswerden zu wollen, aber nicht wissen , wie.
Es handelt sich hierbei um einen medizinischen Fachbegriff für Ohrgeräusche unterschiedlichster Art (abgeleitet vom Lateinischen tinnire = klingeln, klimpern, schellen). Sprich, er bezeichnet keine Primärerkrankung, sondern ein Symptom. Wichtig zu wissen: „Der Tinnitus wird nicht im Ohr erzeugt, sondern im Gehirn“, erklärt Prof. Berthold Langguth, Leiter des Tinnitus-Zentrums in Regensburg. Tatsächlich hört nur der Betroffene den Dauerton, es gibt keine externe Schallquelle. Einbildung ist das Ohrgeräusch trotzdem nicht- „Bei Tinnitus-Patienten sind einzelne Hirnareale deutlich aktiver, als sie es sein dürften“, erläutert Prof. Birgit Mazurek, HNO-Ärztin und Leiterin des Tinnitus-Zentrums an der Berliner Charité. Ein Tinnitus entsteht streng genommen durch das Bemühen unseres Gehirns, eine Hörstörung auszugleichen.
Wann sollte man zum Arzt gehen?
Ohrgeräusche sind zunächst mal nichts Ungewöhnliches. In absolut stillen Räumen etwa hat fast jeder ein Rauschen im Ohr. Nur wird uns das meist nicht bewusst, weil unser Gehirn die Töne filtert. Selbst sekundenlanges Brummen, Klopfen und Piepen ist (meist) harmlos. Hält ein Ohrgeräusch jedoch über Stunden an oder kommt es häufig wieder, sollte man das beim HNO-Arzt abklären lassen Findet sich keine Ursache, ist eine Überweisung an ein Tinnitus-Zentrum sinn voll. Dort klären Mediziner verschiedener Fachrichtungen ab, was genau für den belastenden Dauerton verantwortlich ist. Oft kommen mehrere Faktoren zusammen. Häufigste Ursache: Hörverlust. Immer wieder stecken auch neurologische Erkrankungen, Stress, Depressionen, Kiefergelenksbeschwerden oder Muskelverspannungen dahinter. In Deutschland haben etwa zehn Millionen Menschen einen Tinnitus- Etwa ein bis zwei Millionen fühlen sich davon stark beeinträchtigt. In vielen Fällen lässt sich keine eindeutige Ursache identifizieren. Therapiert werden in der Regel erst einmal die Begleiterkrankungen des Tinnitus wie Depressionen, Schlafstörungen oder Ängste. Und nicht der Ohrton selbst.
Zunächst wird nach dem Auslöser gesucht. Körperliche Erkrankungen wie Durchblutungsstörungen oder Mittelohrentzündungen müssen ausgeschlossen werden. Nach drei Monaten gilt ein Tinnitus als chronisch, bei der Mehrheit der Patienten verstummt der Lärm im Ohr nicht mehr. In einem nächsten Schritt wird überprüft, welche anderen Krankheiten das Dauerpiepen bedingt: Schläft der Betroffene schlechter? Ist er depressiv? Hat er Ängste? Parallel dazu versucht man, die Töne zu drosseln: „Bei manchen überlagert das Rauschen eines Radios den Ohrton, bei anderen hilft ein Zimmerspringbrunnen“, sagt Berthold Langguth. Arzt und Patient müssen gemeinsam herausfinden, was am besten hilft. Die Akustik-Therapie versucht, den Tinnitus gezielt mit Geräuschen zu dämpfen. Strategien aus der Verhaltenstherapie sollen Betroffene dabei unterstützen, besser mit der Erkrankung umzugehen. Erforscht werden derzeit auch verschiedene Formen der Elektro- und Magnetstimulation: Dabei soll die erhöhte Hirnaktivität durch elektrische Ode! magnetische Impulse normalisiert werden. Diese Reize werden inzwischen auch mit Tönen kombiniert, die auf den Tinnitus individuell zugeschnitten sind.
Die größten Risikofaktoren?
Lärm, denn er ist der häufigste Auslöser für Hörstörungen. Und diese gelten wiederum als häufigste Tinnitus-Ursache. Aber auch Verspannungen werden zunehmend als Trigger identifiziert. Dr. Christian Sturm, Orthopäde an der Medizinischen Hochschule Hannover, forscht zu kleinen Muskeln, die tief im Nacken und nah an den Ausläufern des Stammhirns sitzen. Seine Beobachtung: „Sind diese dauerhaft verspannt, senden sie zu viele elektrische Signale, und diese Überaktivität im Stammhirn kann zu Tinnitus Oder Schwindel führen.“ Dies gelte übrigens auch für die Kau- und Zungenbodenmuskeln. Schon eine spezielle Physiotherapie mit Dehnübungen, so Sturm, könne den Tinnitus bei der Hälfte der Patienten stark lindern. „Bei etwa zehn Prozent verstummt das Geräusch
Ist jeder Tinnitus anders?
Die eine hört ein Rauschen, der andere ein Brummen, nur rechts, nur links oder in beiden Ohren — auch Lautstärke und Frequenz unterscheiden sich. Jeder Betroffene hat sein ganz eigenes Tinnitus-Geräusch sagt Prof. Birgit Mazurek. Wie beim Kopfschmerz gibt es viele verschiedene Subtypen, die jeweils eigene Behandlungen verlangen. Jede Therapie zielt darauf ab, den Patienten trotz seiner Ohrgeräusche zur Ruhe kommen zu lassen. Die gute Nachricht: Auch ein chronischer Tinnitus kann spontan wieder verschwinden. Und auch wenn er bleibt, gewöhnen sich zwei Drittel der Patienten im Laufe der Zeit an ihn.
Was sagt eine Betroffene?
Es gibt eine ganz einfache Prävention, und die lautet: Lärm meiden. Also die Ohren bewusst vor ständigem Krach schützen — bei der Arbeit und in der Freizeit. Das bedeutet: Beim Ausgehen in Clubs oder auf Konzerten besser Ohrstöpsel tragen. Laute Musik nur selten und lieber nicht über Kopfhörer hören. Viele Betroffene wie Heike Simon nennen Stress als Hauptursache ihrer Erkrankung. Mit Entspannungstechniken kann man gegensteuern. Lichttherapie, Ohrenkerzen, Ginkgo-Präparate und Klangschalen auf dem Rücken. Simon: Ich habe schon alles probiert. Nichts davon hat geholfen. Seit 20 Jahren lebe ich nun mit einem Ohrgeräusch, ein hohes Pfeifen, wie man es vom Fernsehen früher kennt — das Signal nach Sendeschluss. Es hat alles mit einem harmlosen Knacken im Ohr begonnen – ich war auf einem Festival und tanzte zu ziemlich lauter Musik. Ein paar Tage später saß ich beim HNO-Arzt. Irgendwann fiel das Wort „Tinnitus“. Ich wusste nicht viel darüber, aber in meinem Kopfraste das Panikkarussell: Werde ich jetzt taub? Kriege ich einen Schlaganfall? Hört das bitte, bitte jemals wieder auf? Erst in einer Selbsthilfegruppe der Tinnitus-Liga lernte ich, dass ein Tinnitus zwar selten verstummt, dass es aber Strategien gibt, damit zu leben: raus in die Natur, am besten ans Meer. Wenn ich den Wellen lausche, ist der Ton fast weg. Ganz schlecht: absolute Stille. Da schlägt der Tinnitus gnadenlos zu. Deshalb läuft bei uns zu Hause immer das Radio, auch im Büro geht’s ganz gut, das Hin und Her im Flur, die Gespräche der Kollegen, das Blubbern der Kaffeemaschine dämmen den Ton im Ohr. Schwierig wird es bei extremem Stress und Druck. Ich habe deshalb sogar einmal einen Job gekündigt — das Pfeifen wurde zu massiv. Heute würde ich sagen: Der Tinnitus ist eine Art Frühwarnsystem. Er zeigt mir, was mir guttut. Und was nicht.