Hamburg. Zähne bürsten mit Fluoriden in Zahnpasta ist nicht gefährlich, sondern ein Segen für die Zähne und ein echter Schutz vor Karies. Darin sind sich die Mediziner also neuerdings einig. Trotzdem ist das Internet voll mit abstrusen Theorien und himmelschreienden Behauptungen über die Schädlichkeit von Fluoriden. Was ist also dran am Mythos Zahncreme? Alles Quatsch oder berechtigter Horror?
Fluorid ist nicht Fluor. Zweites ist gefährlich, erstes nicht. Fluor ist ein giftiges Gas, Fluoride sind Salze, die nur in großen Mengen verzehrt gesundheitliche Probleme verursachen. Trotzdem sind die Behauptungen seit Jahren widersprüchlich und verunsichern tausende Konsumenten. Das Zeug ist hochgiftig. Tödlich. Frisst sich durch alle Materialien. Macht uns dumm und willfährig. Soll uns systematisch ausrotten. So viel Macht steckt angeblich in einem Klecks Creme, den wir uns zweimal am Tag auf die Zähne reiben und wieder ausspucken. Zumindest, wenn man jenen glaubt, die im Internet über Fluorid in Zahnpasta schreiben. Sebastian Hirsch kennt viele dieser Theorien. Er wird für die Stiftung Warentest aktiv, wenn dort mal wieder Zahnpasta getestet wurde und die fluoridfreien Pasten mit mangelhaft abschneiden, weil sie nachweislich nicht so gut vor Karies schützen wie die mit Fluorid. Vor allem nach solchen Tests werden er und seine Kollegen von Mails und Kommentaren überflutet. In seinem kleinen Büro am Ende des Ganges im Berliner Stiftungssitz macht sich Sebastian Hirsch dann daran, den Stimmen im sozialen Netz zu antworten. Fragt nach Belegen für die Theorien. Nach Studien. „Dann kommt oft nicht viel.“ Trotzdem: Man könne die Kommentare nichtunbeantwortet stehen lassen, sagt er, denn dann verbreiten sie sich immer mehr. Bei Fluorid scheint das schon fast zu spät. Im Netz finden sich massenhaft abstruse Theorien und Behauptungen.
„Fluoride gehören zu den giftigsten Substanzen der Erde. „In Wahrheit war und ist Fluor ein Mittel zur Bevölkerungskontrolle.“ „Denn die chronische Einnahme von Fluoriden lassen erwiesenermaßen den IQ sinken und führen zu schweren Krankheiten wie Krebs, weil Fluor Zellen schädigt oder sogar abtötet.“ Ein Teil der Fluorid-Angst, die da geschürt wird, beruhe auf einem simplen Missverständnis, so Sebastian Hirsch: der Verwechslung von Fluor mit Fluorid. Fluor ist ein aggressives, giftiges Gas, das bei minus 180 Grad flüssig wird, sich durch alle Materialien frisst. Im Gegensatz dazu ist Fluorid ein relativ harmloses Salz. In der Chemie kennt man ähnliche Paare, etwa das aggressive Chlor — und das dazugehörige Natriumchlorid, vulgo: Salz. Natürlich kann man sich im Extremfall mit hohem Salzkonsum umbringen, dennoch käme niemand auf die Idee, Salz als menschheitsauslöschenden Giftstoff zu verdammen.
Fluoride kommen überall in der Natur vor. Auch der menschliche Körper enthält Fluorid, in Knochen und Zähnen. Über die Ernährung, schwarzen oder grünen Tee, Fisch oder auch Mineralwasser gelangt Fluorid in den Körper. Giftig ist Fluorid in hoher Konzentration. Doch um wirklich in Gefahr zu geraten, müsste ein Mensch 20 Tuben Zahnpasta auf einmal essen. Denn in einer Zahnpastatube stecken nur Spuren des Stoffes, 1000 bis 1500 ppm, das bedeutet „parts per million“, Teilchen pro Million. Diese helfen, den angegriffenen Zahnschmelz zu reparieren, die Mineralien wieder ins Zahngitter einzubauen. Der Zahnschmelz bekommt dadurch wieder eine intakte Oberfläche, die Zähne werden gestärkt. Nicht zuletzt dem Putzen mit fluoridhaltiger Zahnpasta ist es deshalb zu verdanken, dass in deutschen Mündern heute gesündere Zähne stehen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Zahl der Füllungen reduzierte sich seit 1991von 84 Millionen im Jahr auf rund 51 Millionen, Karies ist bei vielen Kindern und Jugendlichen heute kein Problem mehr.
Bei wenigen Dingen sind sich Wissenschaftler heute so einig wie bei der Wirksamkeit von Fluorid gegen Karies. An Hunderttausenden von Patientenwurde sie auch in Studien nachgewiesen. Nicht zuletzt eine Metastudie der renommierten Cochrane Collaboration, eines Instituts, das sich vor allem um nachprüfbare und wissenschaftlich haltbare Ergebnisse bemüht, hat gezeigt: Wer mit Fluorid seine Zähne putzt, ist deutlich besser geschützt als mit einer fluoridfreien Creme.
Trotzdem — immer wieder hört Sebastian Hirsch die These, Fluorid sei Abfall und werde über die Zahnpasta entsorgt. Auch sie beruht auf einem Missverständnis. Sebastian Hirsch: „Das ist definitiv totaler Humbug.“ Denn Fluorid wird als sogenanntes Flussmittel in der Metallgewinnung eingesetzt, um bei niedrigeren Brenntemperaturen die Schlacke besser herauszulösen. „Die Metallindustrie wäre ja schön blöd, wenn sie einen Stoff, den sie braucht, um überhaupt Metall aus den Erzen zu gewinnen, in Zahnpasta verklappen würde. Außerdem werden in der Industrie ganz andere Fluoride verwendet als die, die man in Zahnpasta findet.“
Das Argument, Fluorid mache uns dumm, beruht auf Studien aus China und Mexiko. In Mexiko wurde bei Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft stark fluoridhaltiges Wasser getrunken haben, ein geringerer IQ gemessen. Doch diese Situation ist nicht mit Deutschland vergleichbar. Bei uns wird kein Wasser mit Fluorid angereichert, so Sebastian Hirsch. „Da wird teilweise mit Studien argumentiert, die überhauptnichtrichtig gelesen wurden, in denen es vor allem darum geht, dass eine chronische Überdosierung im Trinkwasser an manchen Orten in der Welt existiert. Aber diese Überdosierung ist so massiv, so viel Fluorid können wir in Deutschland im Normalfall gar nicht zu uns nehmen.“
Dennoch wird Fluorid in Netz permanent dämonisiert als „Gift aus dem Supermarkt“, als „Angriff auf die Volksgesundheit“, als Verursacher von Alzheimer oder Krebs.
Was dagegen hilft? „Aufklären“, sagt der Stiftung-Warentest-Mann, „Fluorid ist giftig —ja, aber erst in hohen Mengen. Und in geringen Mengen hat es positive Effekte. Unser Ziel ist es, dass wir die stillen Mitleser davon abhalten, selber Opfer solcher Verschwörungstheorien zu werden.“
Dass solche irrationalen Ängste und Zweifel weiter geschürt werden, liegt durchaus im Interesse der Hersteller fluoridfreier Zahncremes, die sich von dem Streit einen höheren Absatz erhoffen.
„Da passiert sicherlich einiges aus Werbezwecken“, sagt Sebastian Hirsch. Aber er glaubt auch an eine psychologische Komponente. „Menschen, die glauben, eine bessere Alternative gefunden zu haben und gegen den Mainstream zu agieren, haben oft ein gewisses Elitedenken, sind mit einer Menge Emotionalität unterwegs, um ihren Glauben zu propagieren. So wird für sie der Kampf gegen Fluorid zur Glaubenssache, um nicht zu sagen, zu einer Art Religion. „Häufig treten multiple Zweifel auf. „Jemand, der glaubt, dass Fluorid schädlich ist, der glaubt häufig auch, Impfen sei schädlich, oder hängt an deren abstrusen Verschwörungstheorien an.“
Solche Gedanken haben über die sozialen Netze eine so massive Verbreitung erfahren, weil die Kommentarspalten viel zu lange unwidersprochen genutzt werden konnten. „Dann wird halt der Link reingesetzt zu irgendeinem dubiosen Blog, in dem steht, wie giftig Fluorid ist und dass die Medien die Wahrheit verheimlichen“, sagt Hirsch. Mit solchen Botschaften gewinnt man Anhänger. Wer vielleicht noch skeptisch oder unsicher ist, findet in den entsprechenden Gruppen 24 Stunden Selbstbestätigung. Das sei bei Fluoriden noch vergleichsweise harmlos, aber wenn sich Impfgegner gegenseitig bestärken oder selbst ernannte Experten Therapien mit Chlortropfen im Netz verbreiten, bei denen sich Leute dann Speiseröhre oder Darmverätzen, kann das lebensgefährlich werden.