Neapel. Irgendwann hatte die italienische Mafia wie die berühmt-berüchtigte Cosa-Nostra oder die Camorra den entscheidenden Einfall, dass der Raub hochwertiger Kunstwerke, also Skulpturen, Bilder und Vasen, viel mehr einbringt als herkömmlicher Drogenhandel zum Beispiel. Denn Kunst kann man lagern und in Ruhe die Wertsteigerung abwarten, man kann im Tausch mit gestohlenen Kunstwerken Gefangene frei pressen oder wunderbar Geld waschen. Das ist sozusagen ein kriminelles Geschäft mit vielseitigen Facetten, die gewinnbringend genutzt werden können. Im Durchschnitt werden durch die Handlanger der Mafia 17 Kunstwerke pro Tag gestohlen und geldwert „vermarktet“. Die Mafia greift nicht nur in Museen zu, sondern auch in Privatwohnungen und Häusern von Sammlern, selbst wenn diese gesichert und bewacht werden. Europaweit und mit brutaler Konsequenz. Dabei fallen ihnen die teuersten Werke von van Gogh, Caravaggio, Pieter Breugel, Goya oder Picasso in die Hände – um nur einige zu nennen.
Es war im Februar, als die Beauftragten der italienischen Anti-Mafia-Kommission einen erstaunlichen Bericht vorlegten und die Öffentlichkeit erfuhr, dass eines der meistgesuchten Kunstwerke der Weltvermutlich doch nicht zerstört worden war. Rund 50 Jahre nach dem Raub der „Geburt Christi mit den Heiligen Laurentius und Franziskus“ des italienischen Malers Caravaggio erzählte ein Cosa-Nostra-Kronzeuge der Kommission, dass die sizilianische Mafia das Bild in den 70er Jahren an einen schweizerischen Kunsthändler verkauft hatte.
Seit dem Verschwinden aus einem Gebetshaus in Palermo im Jahre 1969 hatten sich um das Gemälde wilde Legenden gerankt: Die Führungsspitze der Cosa Nostra habe es bei wichtigen Treffen als Symbol der Macht aufgestellt, erzählten einige. Der verstorbene Cosa-Nostra-Oberboss Toto Riina habe es als Bettvorleger benutzt, schworen andere. Und dann gab es einen Mafioso, der behauptet hatte, er habe das Bild zerstört. Durch die Erzählung des Kronzeugen erhielten nun die Anti-Mafia-Experten neue Erkenntnisse zu einem alten italienischen Problemfeld: Kunstraub. 2017 wurden in Italien 6255 Kunstwerke gestohlen — aus Museen, Privathaushalten, Kirchen. Das sind durchschnittlich 17 Objekte pro Tag. Neben Gemälden werden immer wieder auch Statuen und Vasen geraubt, sogar Teile von Fresken aus Pompeji wurden gestohlen. Und immer wieder steckt ein ähnliches Täterprofil dahinter: die Mafia.
„Mit illegalem Kunsthandel ernähren wir die Familie: schrieb der untergetauchte Cosa-Nostra-Oberboss Matteo Messina Denaro in einem Pizzino, einem handgeschriebenen Zettel, mit dem er mit seinen Handlangern kommuniziert. Sein Vater Francesco war ein sogenannter Tombarolo, ein Kunstdieb, der antike Gräber plünderte und damit Geld verdiente. Neben dem bloßen Raub macht sich die Mafia den Schwarzmarkt, aber auch den legalen, allerdings vielerorts intransparenten Kunstmarkt auf weitere Arten zunutze. Kunstwerke sind eine sichere Investition für Mafia-Gruppierungen. Sie verlieren nicht an Wert und werden meist bar bezahlt — ideale Konditionen für Geldwäsche. „Oft steigt sogar der Wert eines Gemäldes mit der Zeit. Kriminelle sehen den Kauf also nicht nur als Geldwäschemöglichkeit, sondern auch als Investition“, sagt Fabrizio Parrulli. Er leitet die Dienststelle zum Schutz des Kulturgutes, eine Sondereinheit der italienischen Carabinieri, die sich mit Kunstraub beschäftigt. Oft erwerben Kriminelle Kunststücke auf dem legalen Markt: So wurden 2016 in Reggio Calabria über 100 Gemälde italienischer und ausländischer Meister des 20.Jahrhunderts, etwa De Chirico und Dali, ausgestellt. Die Sammlung hatte einem Unternehmer gehört, der der kalabrischen Mafia ‚Ndrangheta nahegestanden haben soll. Das Ausstellen der beschlagnahmten Bilder war nur deswegen möglich, weil der Geschäftsmann sie ganz legal erworben hatte — sodass die Bilder nicht an die eigentlichen Eigentümer zurückgegeben werden mussten.
Mafiosi handeln jedoch auch mit geraubter Kunst. 2016 fanden Ermittler beispielsweise zwei Van-Gogh-Bilder im Wert von 100 Millionen US-Dollar bei einer Hausdurchsuchung in Castellamare di Stabia bei Neapel. Das Haus gehörte der Familie eines wichtigen Drogenhändlers der Camorra, der Mafia aus Kampanien. Zwei Diebe hatten die Bilder „Meer bei Scheveningen“ und „Reformierte Kirche in Nuenen“ 2002 aus dem Van-Gogh-Museum in Amsterdam geklaut. Zwei Jahre nach der Tat hatte die Polizei die Täter verhaftet, die jedoch keine Angaben zum Verbleib der Bilder machten. Es ist unwahrscheinlich, dass der Drogenbaron vorhatte, die gestohlenen Bilder auf den legalen Markt zu bringen. Beim Kauf von Kunstwerken geht es allerdings oft auch darum, das eigene Image zu pflegen: „Der Besitz von wichtigen Kulturgütern ist ein Weg, um das Klischee des blutigen Kriminellen durch das Bild eines gesellschaftlich Angekommenen zu ersetzen“, sagt Fahnder Fabrizio Parrulli. Mit dem Kauf einzigartiger Kunststücke könne man außerdem Macht zeigen. Gestohlene Kunst wird von der Mafia auch als Druckmittel gegen den Staat eingesetzt: Ermittler haben kürzlich Pläne der Cosa Nostra aus den 90er Jahren publik gemacht, geraubte Kunst einzutauschen gegen bessere Haftkonditionen für inhaftierte Bosse.
Die Dienststelle zum Schutz des Kulturgutes genießt einen weltweit guten Ruf. Allein im Jahr2017 konnte diese Spezialeinheit der Carabinieri Gemälde, Skulpturen und Antiquitäten im Wert von mehr als 54 Millionen Euro zurückgewinnen. Die Ermittler haben auch eine Datenbank aufgebaut, in der rund 1,2 Millionen Kunstwerke aufgelistet sind — jene, die noch aufzuspüren sind.
Die Einheit, der heute Fabrizio Parrulli vorsteht, hat schon eine Iange Geschichte; sie wurde bereits 1969 gegründet, im selben Jahr, als das Caravaggio-Bild in Palermo gestohlen wurde. Das „Geburt Christi“-Gemälde steht mit einem geschätzten Wert von 20 Millionen Dollar auf der Fahndungsliste des amerikanischen FBI als eines der zehn meistgesuchten Kunstwerke weltweit. Durch die Aussagen des Kronzeugen konnten nun Ermittler zumindest den Raub rekonstruieren. Der Kronzeuge sagte gegenüber der Anti-Mafia-Kommission, dass Kleinkriminelle das Bild gestohlen hatten, aber die Wichtigkeit des Werkes die Cosa Nostra dann dazu brachte, das Bild für sich zu beanspruchen.
Durch Zeitungsberichte soll die sizilianische Mafia vom Wert des Bildes erfahren haben. Dann soll es an den damaligen Cosa-Nostra-Chef Gaetano Badalamenti überreicht worden sein. Der Boss habe das Bild an einen Kunsthändler aus Lugano verkauft. Auf dessen Idee sei das Bild in vier Teile zerlegt worden — um es leichter auf den Schwarzmarkt zu bringen. Mithilfe des Kronzeugen konnten die Ermittler rekonstruieren, um welchen Kunsthändler es sich handelte. Der Mann sei mittlerweile gestorben, dennoch hoffen die Beamten nun, das legendäre Gemälde aufspüren zu können. Allerdings fahnden sie nicht mehr nach einem einzelnen, sondern nach vier Bildern oder womöglich mehr.