London. Vielleicht ist alles eine Frage der Wahrnehmung und ein großes Missverständnis, der ganze Brexit sowieso, die zähen Verhandlungen danach, ein Schrittvor, einer zurück. Und vielleicht steht der finale Auftritt der britischen Premierministerin Theresa May beim Parteitag in Birmingham symbolisch und sinnbildlich für dieses Dilemma. Wie sie zu „Dancing Queen“ von Abba mit roboterhaften Schritten auf die Bühne stelzte und damit auf dem Kontinent Kopfschütteln und Fremdscham auslöste und wie die Briten das völlig anders sahen. Sie kennen ja ihre May und deren hölzerne Art, Maybot heißt sie hier. Gewiss, sie lachten auch, aber sie lachten anders. Sie erkannten in Maybots Stunt eine urbritische Kernkompetenz. Nämlich die Fähigkeit, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen, mit eigenen Schwächen zu jonglieren und über sich lachen zu können.
Das ist das Problem: Europäer und Briten verstehen einander einfach nicht, die kulturellen Differenzen sind breiter als der Kanal. Dahinter liegt dummerweise noch ein weiteres Problem: Für Missverständnisse größerer und kleinerer Art ist keine Zeit mehr. Die Uhr tickt gnadenlos.
May mag den Parteitag der Konservativen einigermaßen unbeschadet überstanden haben. Das von vielen erwartete Blutbad blieb aus, selbst die notorischen Beckmesser hielten sich zurück. Sie hat eine für ihre Verhältnisse kräftige Rede gehalten, ihren Landsleuten sogar das Ende der harten Sparpolitik versprochen, ohne indes zu verraten, wie das zu bewerkstelligen wäre. Sie versucht, die Tories Richtung Zentrum zu manövrieren und warb am Wochenende im liberalen „Observer“ um die Unterstützung von Labour-Wählern. Sie sammelte Punkte und Selbstvertrauen. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass der echte Stress-Test erst bevorsteht. In Brüssel beim wichtigen EU-Gipfel in der kommenden Woche, hernach in London. So geht das noch bis Ende März. Mindestens. Es ist allerdings auch vertrackt. Wer sich in diesem Herbst auf Tour durchs Königreich begab, um Witterung aufzunehmen, kam einigermaßen ratlos wieder zurück. Selbst nach der Parteitagssaison weiß niemand genau, wohin die Nation ein knappes halbes Jahr vor dem offiziellen EU-Austritt steuert- Ein Brexit dem Geschmack von May, Chequers-Plan genannt nach dem Landsitz der Regierung, wo das Papier im Juli präsentiert wurde?
Ein Freihandelsvertrag nach kanadischem Muster, den die favorisieren? Kein Deal gar? Nichts ist unmöglich. Der Brexit erstickt obendrein die innenpolitische Agenda, Reformstau überall, das Gesundheitssystem bettlägerig, die Wirtschaft schwindsüchtelt im europäischen Vergleich und wächst seit 2017 pro Quartal lediglich noch um magere 0,3 Prozent. Das Alarmierendste aber ist, dass die Briten das Zutrauen in die politische Klasse verlieren —und offenbar auch langsam Geduld und Interesse. Der auf Nachrichten fokussierte Radiosender BBC büßte binnen eines Jahres fast 800000 Hörer ein. Sie haben vom politischen Chaos die Nase voll. Und das liegt vor allem an den Parteien.
Theresa May schwächelt im Prinzip bereits, seit sie das Amt übernahm, und lässt sich von einer kleinen, aber lauten Truppe von konservativen Hardlinern vor sich her treiben; die Opposition von Labour müsste schon deshalb nach Analysen unabhängiger Meinungsforscher den Konservativen um15 Prozent enteilt sein. Ist sie aber nicht, weil sich deren Boss Jeremy Corbyn monatelang nicht für antisemitische Exzesse in seiner Partei entschuldigte und es bis zur Konferenz in Liverpool brauchte, ehe er sich verhalten distanzierte. Am liebsten wäre Labour aber eine baldige Neuwahl — in der nicht unbegründeten Hoffnung, Corbyn in die Downing Street zu katapultieren. Schatten-Schatzkanzler John McDonnell postulierte Labours Mantra fatalistisch ehrlich: „Je größer die Schlamperei, desto radikaler dürfen sein.“
Und die Tories? Zermürben sich, weil May viel zu selten Führungsstärke zeigt. Charles Grant, Chef des Thinktanks „Centre for European Reform“, hält sie „in vielen Bereichen für inkompetent“. Er kann nicht nachvollziehen, warum sie ihren Brexit-Plan nicht vernünftig vor den Bürgern präsentierte — von denen „nicht mal die meisten Tory-Mitglieder wissen, was das ist“. Grant kann aber auf der anderen Seite den Groll der EU-Granden nachvollziehen, die Zeuge wurden, wie sich ihre britischen Verhandlungspartner „monatelang verbarrikadierten und ihre Psychodramen statt mit halbwegs praktikablen Vorschlägen zu kommen“.
Sagenhafte zwei Jahre brauchte es für Chequers in seiner noch embryonalen Form, den die EU maximal als Verhandlungsbasis einordnet, weil das Papier gegen die vier unteilbaren Grundpfeiler des Binnenmarkt verstößt. Und in genau dieses Vakuum stießen die Extremisten um den früheren Außenminister Boris Johnson und den kauzigen Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg, der mit seinem näselnden Eton-Englisch lange als eine Karikatur seiner selbst galt, von derBrexit-Welle aber in den Mainstream gespült wurde, den er und ein paar Dutzend weiterer Anti-Europäer seither kaperten. Sie betrachten „keinen Deal mit der EU als kein Problem“, verteilen T-Shirts mit dem Slogan ;Chuck Chequers“, Chequers entsorgen, und meinen damit eigentlich „May entsorgen“.
Der frühere Außenminister Boris Johnson zieht unter dessen sein Solo durch .Jede Woche feuert er eine Kolumne für den „Daily Telegraph“ ab, geißelt darin die EU und insbesondere seine ehemalige Chefin und streicht für seine Giftpfeile satte 275 000 Pfund pro Jahr ein. Er mag den größten Unfug reden und schreiben und beispielsweise darüber fabulieren, eine Brücke über die irische See zu bauen. Eine Idee aber, wie die knifflige irische Grenzfrage nach dem EU-Austritt zu regeln sei, hat auch er nicht. Es götterdämmert um ihn. Nach Birmingham schmierte er in den Umfragen ab, und die schottischen Konservativen riefen die hübsch unverdeckte „Operation Arse“, Operation Arsch, ins Leben, um zu verhindern, dass Johnson seinen Lebenstraum verwirklicht und May beerbt. Selbst die knallkonservative „Mail“ straft Boris neuerdings mit Kommentar auf der Titelseite als „zutiefst illoyal und hochgradig unrealistisch“ und prophezeit, dass der einzige Profiteur seiner Sticheleien ausgerechnet der „halbgare Marxist Jeremy Corbyn sein könnte“.
Der kleinste gemeinsame Nenner von Mays Gegnern liegt in der Downing Street. Rechts am Zaun rüttelt Johnson, links Corbyn. Beide stellen Ego vor Gemeinwohl, und das ausgerechnet in Zeiten des Brexit, der drohend über allem hängt und Großbritannien bis zu 500 Millionen Pfund pro Woche kostet. Und also werden die Stimmen für ein zweites Referendum lauter, choreografiert von der überparteilichen Graswurzel-Bewegung „People’s Vote“, die eine abermalige Abstimmung fordert — sehr wohl ahnend, dass eine Wiederholung, falls überhaupt, nur marginal anders ausfallen würde als das Original. Kaum wäre ein solches Votum über die Bühne, würde subito der Wahlkampf über ein drittes einsetzen, der Beginn einer unendlichen Geschichte, eines Neverendums, und nicht nur der kluge Politikwissenschaftler Anand Menon fleht: „Bitte, bitte nicht.“ Anand, Professor am Londoner „Kings College“ und Chef der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“, hat ein feines Gespür für die Menschen da draußen jenseits der Londoner Blase, das vielen Parlamentariern dramatisch abhanden gekommen ist. Er reist viel durchs Land, sitzt in öffentlichen Meetings, hört den Leuten zu und filtert daraus eine Grundbefindlichkeit, die er in vier Worten bündelt: „Get on With it“, nun zieht es auch durch. Ein weiteres Referendum, sagt er, würde das ohnehin lädierte Vertrauen in die Politik vollends zerrütten. Er glaubt immer noch an die Kräfte der Vernunft auf beiden Seiten des Kanals und ergo an einen wie auch immer gearteten Deal, „alles andere, machen wir uns nichts vor, wäre eine Katastrophe“. Einerseits. Andererseits kennt er seine Landsleute und deren Hang zur imperialen Romantik. „Wir neigen nun mal zu Wahnvorstellungen, glauben aber zugleich, das rationalste Volk auf Erden zu sein und wundern uns darüber, dass das andere nicht so sehen.“
Das in etwa ist die Lage im Vereinten Königreich im Herbst 2018. Laut, gespalten, verunsichert. Aber nicht hoffnungslos. Wer sucht, findet in all den Wirren sehr wohl die Besonnenen, die sich fernhalten von Horrorszenarien, die Realpolitiker, geerdet durch die Basis. Menschen wie Stephen Kinnock, Sohn des einstigen Labour-Chefs Neil, verheiratet mit der früheren dänischen Premierministerin Helle Thorning-Schmidt, dessen Wahlkreis im walisischen Aberavon liegt. Kinnock hat im September das Buch „Spirit of Britain — Purpose of Labour“ herausgegeben, und darin beschäftigt er sich mit dem seelischen Befinden der Briten. Er sagt, Großbritannien sei „gleichermaßen polarisiert wie paralysiert“ und gibt die Schuld daran seiner Kaste, die das Zuhören verlernt habe. Er unterteilt die Briten in zwei Stämme: die „Communitarians“, die Menschen vom Land und aus kleineren Städten. Und die „Cosmopolitans“. Wobei der erste Stamm die klare Mehrheit stellt, der zweite aber den Diskurs bestimmt, weil wohlhabender, machtvoller, man könnte auch sagen: arroganter. Die Communitarians, sagt Kinnock, an einem sommerlichen Herbsttag, „fühlen sich in ihren Werten nicht mehr repräsentiert, sie verstehen die in Teilen aber schwülstigen Debatten um politische Korrektheit nicht mehr“. Sie schütteln den Kopfüber vermeintlich lustige Aktionen wie „Wooferendum“, bei dem Londoner Hundebesitzer ihre Köter ein zweites Referendum kläffen lassen. Sie fühlen sich an den Rand gedrängt und übergangen.
Es sind, und Kinnock wird wütend, genau diese Menschen, die jetzt schon wie der nicht gehört werden und die am Ende als die großen Verlierer des Brexits dastehen. Er fürchtet, dass Populisten das Brachland zwischen den beiden Stämmen besetzen könnten, Linke wie Rechte. Sieht die Fragilität seines Landes mit den Augen des Mannes, der lange im Ausland lebte, Afrika, Russland und Brüssel, und versteht mithin nur zu gut, dass sich die Europäer zuweilen die Augen reiben über das entfesselte Treiben auf der Insel. Sagt aber auch, fast tröstlich: „Es ist nie zu spät für einen Konsens. Einen Konsens mit Brüssel und einen Konsens im Land selbst.“ Man müsse nur wollen und endlich anfangen. Und mit diesen Worten verabschiedet er sich. Kinnock muss zu einem Vortrag über die geteilte Nation.
Man begibt sich zurück nach London, wo die Reise begann, und trifft an einem Tag zwischen Labour- und Tory—Parteitag, zwischen Links und Rechts, einen weisen Mann aus der Mitte der sich in einen Sessel hat fallen lassen. Über ihm ein Ölbild des alten Winston Churchill. Der Mann heißt Kenneth Clarke und ist der Grandseigneur der britischen Politik. Clarke 78, trägt den Titel „Father of the House“ als dienstältester Abgeordneter. Er hat in diversen Kabinetten als Minister gedient schon unter Thatcher, mit der er sich wunderbar fetzen konnte und wieder versöhnen. Er hat in fast fünf Jahrzehnten Politik alle Höhen und Tiefen mitgemacht, die 70erJahre, als Großbritannien unter „sick man of Europe“ firmierte und nach langen Verhandlungen endlich der EU beitrat. Nun sieht er, wie es die Union wieder verlässt. Der Pro Europäer Ken Clarke hat viel, aber eben doch nicht alles erlebt. So was wie zur Zeit, sagt er, sei selbst für einen wie ihn Neuland, ein Tiefpunkt.
Wie konnte es so weit kommen, Sir?
Da sinkt er noch tiefer in den Sessel und atmet tief durch. Blickt auf die Themse und holt aus. Sagt, die Wurzeln der Krise reichten tief zurück in die 90er Jahre mit Wirtschaftswachstum und Turbokapitalismus, mit Superreichen, deren Lebensstil die kleinen und hart arbeitenden Leute verab- scheuten. Denn: „Schon damals wurde nicht vernünftig verteilt- derKardinalfehler“, der noch verstärkt wurde nach dem Crash mit der längsten Rezession seit dem Krieg, „und wir alle auch ich, haben zugeschaut, wie die gierigen Banken und rücksichtslosen Manager einfach so weitermachten wie bisher, während ganze Regionen brutal betroffen waren. Das war das Streichholz, das das Feuer entzündete“. So fing das an mit der Kluft im Land. Dann kam Cameron mit seinem „waghalsigen Referendum“, wie er es nennt, „und ergab den Unzufriedenen damit ein Werkzeug, die Parteien und Eliten abzustrafen.“ Er kann es den Leuten nicht mal verübeln.
Nun stünden sie in diesem Scherbenhaufen, der absorbiert darüber hinaus alle Kräfte, die politische Arbeit liegt brach. Clarke spricht: »Ich bin ratlos.“ In diesen 90 Minuten Gespräch umkreist er die Situation der britischen Politik mit wenig schmeichelhaften Begriffen wie „absurd“, „lächerlich und „grotesk“. „Absurd“, dass sich Theresa May in ihrer ersten großen progammatischen Rede zum Brexit vor eineinhalb Jahren selbst die Fesseln angelegt habe mit ihrer Ankündigung, Zollunion und Binnenmarkt bis Ende März zu verlassen, „ohne Not, warum in Gottes Namen?“ „Lächerlich“, überhaupt an ein weiteres Referendum zu denken, „das erste war schon verrückt, ein zweites noch verrückter.“ „Grotesk“, dass das politische Momentum auf beiden Seiten des Spektrums von extremen Ideologen“ getrieben werde „Labour unter Corbyn ist ebenso unattraktiv wie meine eigene Partei. Clarke ist zwar Konservativer, war aber immer ein Kompromissler, zuweilen Außenseiterin den eigenen Reihen. Boris Johnson als Premier? „Unvorstellbar: Der snobistische Volkstribun Jacob Rees Mogg? „Eine bizarre viktorianische Figur.“ Erst recht unvorstellbar. Theresa May, sein Verdikt, sei zur Zeit alternativlos, trotz ihrer Macken und Fehler. Clarke sagt das wenige Tage, bevor sie in Birmingham zur Musik von Abba auf die Bühne robotert. Sie hat ein wenig Zeit gewonnen und Selbstbewusstsein. Aber nun muss May auch liefern. Alles andere wäre Waterloo.