Dortmund. Was man im Fernsehen und bei Bildern oder auch Besuchen von Bauernhöfen und Milchhöfen zu sehen bekommt, sind gesunde, munter fressende Tiere in großen Ställen oder auf saftigen Weiden und Wiesen. Ein paar niedliche Kälbchen laufen ebenfalls drum herum und es entsteht der Eindruck einer heilen Welt in der Landwirtschaft. Aber irgendwann erreichen unsere Milchkühe ein Alter, da werden sie wie die Menschen auch schwach, manchmal krank und unproduktiv. Doch dann beginnt das eigentliche Martyrium dieser Tiere, wenn sie von der Herde getrennt, getötet oder zu Schlachthöfen abtransportiert werden. Dann ist die einst wertvolle Milchproduzentin nichts mehr, und rein gar nichts mehr wert und wird entsprechend schlecht behandelt. Bilder von geheimen Filmen und Fotos zeigen, wie das traurige Sterben unter unwürdigen Bedingungen seinen Lauf nimmt. Bilder, die entsetzen und nach ethischen Regeln und menschlichem Anstand fragen.
Mehr als vier Millionen Milchkühe leben auf deutschen Höfen, die Bundesrepublik ist Europameister in der Produktion. Aber was passiert mit Tieren, die nicht mehr nützlich sind — altersschwach und ausgemolken? Dürfen sie in den letzten Wochen auf saftigen Wiesen weiden? Oder kommt der Tierarzt mit dem Bolzenschussgerät? Die traurige Wahrheit ist: Ein Gnadenschuss auf dem Hof wäre ein Glücksfall. Denn offensichtlich werden lahme und kranke Tiere von Viehhändlern illegal in Schlachthöfe transportiert. Und zuständige Veterinäre gucken dabei weg. Erstmals wird nun ein Fall dieser tierquälerischen Praxis publik: Wie es heißt liegen den Reportern von Stern TV verdeckt gefilmte Aufnahmen aus einem niedersächsischen Schlachtbetrieb vor. Sie dokumentieren erschreckende Zustände im Umgang mit ausgezehrten Tieren. Kühe, die nicht mehr laufen können, werden bei Bewusstsein per Seilwinde über die Lkw-Rampe und den Stallboden gezerrt, bevor sie der Schlachtung zugeführt werden. Ein krasser Verstoß gegen Tierschutzbestimmungen. Kai Braunmiller ist Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft für FIeischhygiene, Tierschutz und Verbraucherschutz. Der Veterinär aus Bayreuth kennt die Auswüchse in der industriellen Tierhaltung, aber als er die Aufnahmen sieht, ist auch er schockiert: „So etwas darf es in Europa nicht mehr geben“, sagt Braunmiller, „ich hätte mir nicht vorstellen können, dass das hierzulande möglich ist.“
Das Unvorstellbare geschieht in Bad Iburg im Süden Niedersachsens, gut 30 Autominuten von Osnabrück entfernt. Am Rande eines Gewerbegebiets zwischen Kinderspielpark und Autohändler befindet sich der Schlachthof der Vieh- und Fleisch Karl Temme GmbH. Eine Halle mit geweißten Außenwänden und akkurat bepflanztem Grünstreifen davor. Temme ist keine Branchengröße im Vieh- und Schlachtgewerbe, aber auch keine Klitsche: Hier laden Lieferanten aus dem weiten Umland ihre Ware ab, rund 150 Rinder schlachtet das Unternehmen pro Woche, beliefert mit dem Fleisch regionale Metzgereien und Gastronomien wie auch Händler etwa aus Belgien. Ein Traditionsbetrieb, lizenziert auch für die Produktion von Biofleisch.
Mehr Schein als Sein
Wie es bei Temme hinter den geweißten Wänden zugeht, filmten die versteckten Kameras zwischen dem 20. August und dem 25. September dieses Jahres aus bis zu fünf verschiedenen Blickwinkeln. Es ist das erste Mal, dass in Deutschland ein Betrieb aus der Fleischindustrie über einen derart Iangen Zeitraum nahezu lückenlos beobachtet werden konnte. Angestoßen wurden die Recherchen von der Tierrechtsorganisation Soko Tierschutz aus Planegg bei München. Vereinsgründer Friedrich Mülln hat die Filmaufnahmen ausgewertet. „Im Überwachungszeitraum haben wir mindestens 168 Tiere gezählt, die lebendig von der Ladefläche in den Schlachtbetrieb geschleift wurden“, sagt er. „Dazu kommen acht, die wahrscheinlich schon tot waren.“ Ob es sich bei den reglosen Tieren tatsächlich um Kada verhandelte, kann anhand der Videos allerdings nicht zweifelsfrei geklärt werden.
Tierschützer haben den Schlachtbetrieb mit den Vorwürfen konfrontiert. Die Geschäftsleitung sah sich einige der Aufnahmen an, eine Stellungnahme lehnte sie aber zunächst ab. In einem späteren anwaltlichen Schreiben werden Missstände bestritten. Zudem behauptet man, Temme sei für eine detaillierte Stellungnahme nicht hinreichend konkret konfrontiert worden. Das Verfrachten kranker Tiere ist kein Kavaliersdelikt. Das Tierschutzgesetz gebietet, dass Tieren keine unnötigen Leiden zugefügt werden. Außerdem setzt auch die EU-Tierschutztransportverordnung klare Grenzen: Danach dürfen Rinder nur verladen werden, wenn sie transportfähig sind. Kriterium dafür ist, dass die Tiere es aus eigener Kraft, ohne den Einsatz sogenannter schmerzhafter Treibhilfen, etwa Elektroschockgeräte, auf den Transporter und wieder hinunterschaffen. Ausnahmen gelten für den Weg zum Tierarzt.
Der Sachverhalt ist also eindeutig: Dass Tiere wie bei Temme per Kette an ihren Gliedmaßen aus den Viehtransportern gezogen werden, sei ganz klar verboten, sagt Experte Braunmüller. „Der Stress und die Schmerzen, die mit dieser Prozedur verbunden sind, sind nicht hinnehmbar.“ Kühe, die blutig über den Boden geschleift werden; Tiere, die zu viert hilflos auf einem Haufen liegen; ein-Rind, das zusammenbricht und mit Elektroschock-Treibern traktiert wird, damit es einen Meter vorwärts kriecht — es sind grausame Szenen. Was aber noch mehr schockiert: Diese Misshandlungen geschehen nicht vereinzelt. Ihre Häufigkeit offenbart ein bewusst organisiertes System. Der Anteil von ,schlechten‘ Tieren hier ist überdimensional“, sagt Braunmiller, „das hat man gezielt so betrieben.“ Die verstörenden Aufnahmen sind also kein Zufall. Die gesamte Lieferkette hat sich beim illegalen Viehhandel offenbar abgestimmt. Schon die Landwirte hätten derart malade Tiere nicht auf die Reise schicken dürfen. Die Unternehmen hätten den Transport verweigern müssen. Und der Schlachthof hätte die Kühe in diesem Zustand nicht annehmen dürfen. Doch niemand griff ein. Nicht einmal die amtlich bestellten Kontrolleure, die bei jedem Tier eine Schlachterlaubnis erteilen müssen, ahndeten die krassen Verstöße. Stattdessen zeigen die Bilder, wie eine Kontrolleurin sogar danebensteht und dabei zusieht, wie eine Kuh an der Kette hängt.
Als hätte man vorher nichts gewußt
Mit den Aufnahmen aus dem Schlachthofkonfrontiert, bestätigt der zuständige Veterinärdienst Osnabrück: „Die Bilder zeigen in der Tat schwerwiegende Tierschutzverstöße.“ Der Landkreis habe verfügt, dass in dem Betrieb zunächst nicht mehr geschlachtet werden darf. Auch die bei Temme amtlich beauftragten Tierärzte dürften vorerst „nicht mehr eingesetzt werden“. Auch ob eigene Versäumnisse vorliegen, will das Amt nun „in den Blick nehmen“. Doch wer profitiert von diesem zynischen System? Einige Tiere sind augenscheinlich derart abgemagert, dass sie kaum mehr saftige Steaks hergeben. Bei ihnen handelt es sich um sogenannte – Downer — „verbrauchte“ Milchkühe aus der Intensivhaltung, aus denen man in nicht einmal fünf Lebensjahren das Letzte herausgeholt hat. Ihr Fleisch geht zu niedrigen Margen an die Wurstindustrie, manchmal auch-ins Hundefutter. Ein Landwirt erhält kaum einen Cent für eine solche Kuh. Doch darum geht es für ihn auch nicht. Er kalkuliert anders: Für ihn zählt, dass das Tier nichts mehr kostet — kein Futter und keine Gebühr für die Entsorgung des Kadavers, die anfiele, wenn das Rind auf dem Hofgetötet würde. Zur Weiterverarbeitung und Fleischqualität der altersschwachen Tiere geben die Filmaufnahmen aus dem Betrieb zwar keinen Aufschluss. Wohl aber offenbart sich, dass allein der Ausweis regionaler Herkunft kein Zeichen für besseres Tierwohl und Verbraucherschutz sein muss.
Unter Verdacht geriet der Schlachthof Temme übrigens durch eine frühere Recherche von Soko Tierschutz. Im Mai dieses Jahres hatte der Verein gravierende Missstände bei einem Milcherzeuger mit rund 700 Kühen bei Stendal in Sachsen Anhalt aufgedeckt. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen gegen den Großbetrieb auf. Nebenbei war aufgefallen, dass von dem Hof immer wieder Kühe zur Schlachtung in andere Bundesländer verbracht wurden. Aktivist Friedrich Müller ging dem nach. Es kam ihm merkwürdig vor, dass ein Viehbetrieb seine Kühe durch halb Deutschland karren lässt, wenn doch ein Schlachthofbei Stendal gleich um die Ecke liegt. Eine Spur führte ins 320 Kilometer entfernte Bad Iburg. Zu Temme. Jetzt ist beklemmend klar, welches System dahintersteckte.