Sao Paulo. Es wird eine Entscheidungswahl Ende Oktober geben, um den neuen Präsidenten von Brasilien mit seinen etwa 145 Mio. Wahlberechtigten bzw. Wahlpflichtigen, zu küren. Ein mutiger Richter namens Sergio Moro will sich als neuer Präsident mit aller Macht gegen die Korruption stemmen, aber sein ärgster Konkurrent Jair Bolsonaro hat bis jetzt 46% der Wählerstimmen bekommen, in Wahlgang eins. Ein klarer Sieg für Rechtsaußen, wo man ohne Korruption offensichtlich nicht leben will. Grund genug, um sich Moro einmal aus der Nähe anzusehen und seine Mission zu analysieren – wenn man denn einen Termin bei ihm bekommt.
Der Weg zu dem Mann in Grau ist so kompliziert wie kaum ein zweiter in Brasilien. Er führt zunächst durch eine Sicherheitsschleuse in den gläsernen Vorhofeines fünfstöckigen Gebäudes in der Stadt Curitiba. Von dort geht es in Begleitung eines Wachmanns die Treppe hinaufdurch einen zweiten Körperscanner zu einem Saal, vor dem eine weitere Wache mit Maschinenpistole steht. Hinter der dicken Tür, kontrolliert mit Kameras, sitzt kein Staatspräsident oder Drogenboss, sondern Sérgio Moro, 46, der bekannteste Richter Brasiliens.
Die Tür öffnet sich, und ein Mann in grauem Anzug und grauer Krawatte streckt einem zackig die Hand entgegen. Er ist weder klein noch groß, nicht dick oder dünn, das Markanteste an ihm ist seine helle Stimme — und dass er nicht einmal lächelt. „Willkommen“, sagt er knapp. „Sie haben 20 Minuten.“ Er blickt auf die Uhr, als tickten bereits die Sekunden. Moros Arbeitszimmer ist größer als mancher Gerichtssaal. Überall verteilt liegen Aktenberge, Urkunden, Einladungen. Er bekommt derzeit Auszeichnungen in der ganzen Welt. Er hält Vorträge in Argentinien, Mexiko und Deutschland darüber, wie man ein Netzwerk korrupter Politiker und Unternehmer zerschlägt.
Er ist so etwas wie der beliebteste Richter des Kontinents. „Wenn ich Restaurants betrete, klatschen die Leute schon mal“, sagt er nüchtern. Legt man aber die Proteste vor seinem Gericht zugrunde und Plakate wie „Moro — Putschist“, ist er eher der unbeliebteste. „Das sind nur wenige Demonstranten“, sagt er ebenso nüchtern. Das ist das Paradoxe: Sérgio Moro ist gleichzeitig der beliebteste und der unbeliebteste Richter. In jedem Fall der wichtigste. Die eine Version, die seiner Unterstützer, geht so: Mafiajäger Moro hat es durch seine unerbittlichen Urteile gegen ein Kartell aus Politikern und Unternehmern geschafft, dass Brasilien nach all den Skandalen wieder Ansehen gewinnt, ja dass ganz Südamerika eine Lösung finden könnte für die größte Plage des Kontinents: die Korruption.
Die andere Version, die seiner Feinde, geht so: Der geltungssüchtige Moro hat aufgrund dürftiger Beweise Ex-Präsident Lula da Silva überhastet zu einer hohen Haftstrafe verurteilt und damit verhindert, dass das Volk Lula am Sonntagwieder zum Präsidenten wählen kann. Die einen sprechen von Heilung, von einer Stützung der Demokratie. Die anderen von einem Putsch, von einem Sturz der Demokratie. „Ich habe mit Politik nichts zu tun“, sagt Moro. „Ich spreche nicht über Lula. Nur so viel: Die fundamentale Idee unserer Demokratie ist, dass keiner über dem Gesetz steht. Wenn in einem transparenten Prozess hohe Amtsträger verurteilt werden, ist das Ausdruck eines funktionierenden Rechtsstaats.“ Seine Kritiker sagen, er habe damit die Wahl entschieden, womöglich zugunsten des Rechtspopulisten Bolsonaro, der mit der Militärdiktatur sympathisiert. „Ich halte mich nur ans Gesetz. Leute unterstellen uns politische Ambitionen, aber wir haben Politiker von links wie rechts verurteilt.“
Er zählt nun lange Haftstrafen für Kongressabgeordnete, Gouverneure und Minister auf. In der Tat sitzen Politiker aller Parteien für insgesamt 1809 Jahre ein, die halbe politische Klasse Brasiliens. Der bedeutendste — Lula, 72 — sitzt nur fünf Kilometer entfernt von Moros Amtssitz im Gefängnis Curitibas, dieser 1,9-Millionen-Stadt in Südbrasilien. Er lebt in einer Einzelzelle mit Fernseher, eigenem Bad und täglichem Zugang zu seinem Anwalt und auserkorenen Nachfolger Fernando Haddad, 55, ehemaliger Bürgermeister von Sao Paulo. Kein Zweifel: Lula führt die Arbeiterpartei auch aus der Zelle weiter. Sollte Haddad gewinnen, ist Lula de facto wieder Präsident. „Es wäre die demokratische Rache an Moro: sagen Lulas Anhänger. Sie stehen als Mahnwache vor dem Gefängnis, in roten T-Shirts mit dem Logo „Freiheit für Lula“. Viele Studenten und einfache Leute, Anhänger seiner Arbeiterpartei PT. Sie erinnern sich mit Wehmut an seine Präsidentschaft 2003 bis 2010, als er 35 Millionen Brasilianern aus der Armut half. In den Umfragen führte Lula mit 20 Prozentpunkten Vorsprung, bis das Oberste Gericht seine Kandidatur vor vier Wochen untersagte.
Richter Moro hat Lula wegen Korruption und Geldwäsche 2017 zu neun Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. In zweiter Instanz wurden daraus zwölf Jahre und ein Monat. Ein dubioses Urteil, sagen Kritiker. Eine drastische Strafe wegen einer von einer Baufirma renovierten Wohnung im Wert von 1,15 Millionen Dollar. Und aufgrund eines einzigen Kronzeugen, auf den sich die Anklage stützte.
Moro ärgern diese Verschwörungstheorien. Er verweist auf Lulas Mitwissen von Schmiergeldzahlungen in dreistelliger Millionenhöhe. „Das ganze System funktionierte so“, sagt er. „Wenn man einen Auftrag vom staatlichen Ölunternehmen Petrobras haben wollte, musste man Politiker und Manager schmieren. Es herrschte systematische Korruption und Straflosigkeit.“ Zeigen die Verurteilten Reue? „Nein. Sie sagen, dass das ganze System so funktionierte und sie sich dem nicht entziehen konnten. Aber sie sind vorsichtiger geworden. Dass jetzt selbst die Mächtigsten verurteilt werden, sendet eine starke Botschaft an alle.“
Könnte es tatsächlich das Ende der allgegenwärtigen Korruption sein?
„Ich glaube, dass es in Zukunft weniger Korruption geben wird- Aber wir brauchen noch mehr Reformen. Das Volk will diesen Wandel. Nur die politische Klasse nicht. Die politischen Führer sind — wie soll ich sagen — noch etwas schüchtern.“ Bei dem Wort huscht zum ersten Mal doch ein Lächeln über sein Gesicht. Aber vielleicht ist es nur aus Abscheu.
Sérgio Moro ist ein ernster Mann, der mit jedem Blick Unnachgiebigkeit demonstriert. Sein Kampf gegen das organisierte Verbrechen Brasiliens wird oft verglichen mit dem Kampf gegen die Mafia in Italien. Der Vergleich gefällt ihm. „Meine Inspiration ist Richter Falcone. Auch damals dachte keiner, dass jemand die Mafia Cosa Nostra bezwingen würde. Falcone wagte es und setzte sich durch. Leider wurde er ermordet. Aber heute sitzen die Mafiosi im Knast“. Er weist mit einem Nicken auf die Wachen vor der Tür, als wollte er sagen: Nicht umsonst arbeiten wir hier in einer Festung.
Moro spricht meist im Plural. Er als Richter fällt die Urteile, aber die eigentlichen Helden seien die 13 Staatsanwälte der Sondereinheit Lava Jato, zu Deutsch Waschanlage. Sie haben vor vier Jahren die ersten Fälle bekommen— Geldübergaben in einer Waschanlage in Brasilia — und seitdem im Eiltempo einen Skandal nach dem anderen aufgedeckt. Derzeit sind die Mafiajäger in Phase 55 der Ermittlungen — nach 2476 Verfahren, 962 Durchsuchungsbefehlen, 236 Haftbefehlen,45 rechtskräftigen Urteilen. Ein Ende ist nicht in Sicht.
Die Sondereinheit sitzt im Zentrum Curitibas. Sie hat ein Stockwerk in einem unverdächtigen Bürohaus angemietet, ohne Schild, ohne Hinweis. Nichts soll nach draußen dringen, auch in andere Abteilungen der Staatsanwaltschaft nicht. „Wir haben die besten Leute aus dem ganzen Land zusammengestellt“, sagt der Leiter Carlos Fernando Lima. „Vor allem unbestechliche das ist nicht immer leicht.“
Lima, 54, ist ein drahtiger Mann mit kurz geschorenem weißem Haar und er ist Moros Pendant auf der Seite der Anklage. Unnachgiebig. Hart. Preußisch. Seit 39 Jahren im Staatsdienst, nun in seinem letzten Jahr. Er will Geschichte machen. „Ich bin hier für die Strategie zuständig, sagt er. „Die Vision.«
An diesem Dienstag versammeln sich die 13 Staatsanwälte in einem Eckbüro zur Sitzung. Es gibt neue Fälle Nebenprodukte der großen Skandale: Bestechung bei der Mautbehörde, Korruption bei einer Öltransportfirma; Schmiergeldzahlungen an Straßenmeistereien. Schon nach einem Tag mit den Staatsanwälten entsteht der Eindruck: Das ganze Land ist korrupt.
Auf dem Konferenztisch liegt eine Zeichnung mit den Geldströmen: Unternehmen zahlen an Strohfirmen. Strohfirmen beauftragen Geldwäscher. Geldwäscher überbringen das Geld Parteifunktionären. Die Parteien stecken das Geld in den Wahlkampf und die Taschen einzelner Politiker. „So hat sich die PT unter Lula die Macht über Jahre sichern wollen“, sagt er.
„Schwachstelle im System ist der Geldwäscher“, erklärt er und malt ein paar Pfeile der Geldbewegungen hinzu. „Er muss mit beiden kommunizieren — Unternehmen und Politikern. Er arbeitet für viele Kunden. Unser Fokus liegt darauf, den Geldwäscher zu überwachen. Kriegen wir ihn, kriegen wir auch die anderen.“
Wenn die Täter überführt sind, kommen sie hierher in den achten Stock der Rua Marechal Deodoro in dieses uncharmante Büro, auf simple Plastikstühle. Es hat etwas von David und Goliath. Da sitzen auf der einen Seite Lima und ein paar unbekannte Staatsanwälte. Und auf der anderen mächtige CEOs und Politiker, die den Staat bislang berauben konnten, wie sie wollten. „Die sind plötzlich ganz klein und hoffen auf Straferlass im Tausch für Informationen. Erst am Vortag haben sie wieder die Manager einer Finanzfirma hochgenommen, die Schmiergelder im Umfeld der Olympischen Spiele in Rio organisierten.
Lima führt uns über die Etage in das, was er das Herzstück nennt, ein Großraumbüro, wo Datenexperten und Praktikanten eng beieinandersitzen und für die Operation Lava Jåto Anrufe abhören und Daten auswerten. Hacker im Dienst der Demokratie. Er führt weiter über einen Flur, wo Unmengen Pokale und Urkunden stehen, die die Sondereinheit seit März 2014 gewonnen hat. Und schließlich in die Räume seiner „Stars“, der 13 Staatsanwälte. Sie arbeiten stets zu zweit an den Fällen, damit sie sich gegenseitig kontrollieren.
Auf Tafeln an der Wand stehen reihenweise Zahlen: 20, 19, 18. „Die Deadlines für die Abgabe der Fälle“, erklärt Lima. „Ich bin knallhart. Ich konfrontiere sie: Warum bist du noch nicht fertig? Warum gibt es noch keine Ermittlung? Sie beschweren sich sehr.“ Die beiden Staatsanwälte im Raum grinsen. „Der Druck hilft“, gibt Jerusa Viecili zu, eine noch junge Staatsanwältin aus Porto Alegre, die den Job als große Chance sieht, ihr Land zu ändern. „Aber frag nicht nach Freizeit“, ergänzt ihr Kollege Athayde Ribeiro, ein Familienvater, der schon die Korruption beim Bau der WM-Stadien mit aufgedeckt hat. Aus allen Interviews mit fünf Staatsanwälten bleibt der Eindruck: Hier hat Brasilien eine Zukunft.
„Unsere Strategie ist der Blitzkrieg“, sagt Lima, „angewandt von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Jeden Monat machen wir neue Polizeiaktionen, neue Anzeigen, kriegen neue Beweise, neue Kronzeugen.“ Blitzkrieg ist ein sehr belasteter Begriff, wenden wir ein. „Es ist ein ständiges Vorrücken. Der Gegner darf nicht zur Ruhe kommen. Politiker haben Ermittlungen in der Vergangenheit immer abwürgen können, aber bei uns kommen sie nicht hinterher. Im Fall Lula hat das sehr geholfen.“ Er meint die schnelle Verurteilung Lulas noch vor den Wahlen. Wäre der Ex-Präsident angetreten, hätte sich bei einem Wahlsiegkeiner mehr an ihn herangewagt.
„Im Fall Lula haben wir dem Land gezeigt: Die meinen es ernst. Brasilien wird eine echte Republik. Wir haben keine Unternehmerprinzen und Politikerkönige mehr. Das Gesetz ist jetzt für alle gleich.“ Nach kurzer Pause fügt er verbittert hinzu: „Leider gilt das noch nicht für Politiker mit Amt und Mandat; die genießen Immunität.“ Er meint damit auch den Präsidenten Michel Temer, der in allerhand Korruptionsskandale verwickelt sein soll. Aber ist Temer erst mal aus dem Amt, könnte er als Nächster im Gefängnis landen.
Auch an Lima geht die Frage: Gibt es Morddrohungen? „Nein, das versucht man in Brasilien anders zu lösen: mit Rufmord. Aber da kommen sie nicht weit.“
Um Punkt zwölf Uhr gehen die Staatsanwälte gemeinsam Mittag essen. In Curitiba sind sie längst bekannt. Auf dem Weg dahin veranstalten Autofahrer Hupkonzerte. Beim Lunchbüfett gibt es spontanen Applaus. Als sich vor zwei Jahren andeutete, dass die Politik ihre Ermittlungen erschweren wollte, ging eine Million Menschen auf die Straßen. Die Sondereinheit Lava Jato ist — in Abwesenheit einer starken Fußballnationalmannschaft — derzeit der Stolz des Landes.Beim Mittagessen kommt das Gespräch auf die Wahlen am Sonntag und die Frage: Was bleibt nach vier Jahren Lava Jato? Führt ihr Kampf gegen Korruption auch zu einem Antikorruptionspräsidenten?
Es ist eigenartig, haben sie festgestellt. Korruption ist ein Hauptthema der Wahlen neben der hohen Kriminalität und der schlechten Wirtschaftslage. Die Kandidaten sprechen sich vehement gegen Korruption aus, aber keiner hat ein Programm.
In Führung liegt wenige Tage vor dem ersten Wahlgang Rechtspopulist Jair Bolsonaro, der den Bruch mit dem System verspricht und: „Brasilien über alles“. So planlos, wie er gegen Korruption poltert, hetzt er auch gegen Schwarze, Homosexuelle und Frauen, die er schon mal als Idioten bezeichnet und „zu hässlich, um vergewaltigt zu werden“. Zweiter ist derzeit Haddad, der die Wiederkehr Lulas verspricht und rosige Zeiten wie einst. Gewinnt Bolsonaro vor Haddad, kommt es am 28. Oktober im zweiten Wahlgang zum Showdown zwischen den beiden. Der Rechtspopulist gegen den Linkspopulisten. Gemäßigte Stimmen dringen in diesen aufgeheizten Zeiten kaum durch.
Die Staatsanwälte der Sondereinheit Lava Jato wollen sich politisch nicht äußern. Aber ihren Blicken ist zu entnehmen, dass die beiden Führenden alles andere als ideal sind für ihre Arbeit und die Zukunft Brasiliens. Eine letzte Frage an Lima: Wird die Korruption je enden? „Nie“, sagt er. „Aber wir können sie erschweren. Darauf hoffe ich. Doch das ist die Aufgabe einer Generation.“