München. Sie wird kommen, die Zeit, in der man nicht mehr arbeiten muss und dann in Rente geht. Dann sollte der finanzielle Hintergrund für einen angemessenen Lebensstandard gewährleistet sein. Das ist er aber bei vielen Berufstätigen nicht. Besonders Frauen haben laut einer aktuellen Bertelsmann-Studie nicht genügend Rentenansprüche, so dass bis 2030 etwa jede 3. Frau auf die Grundsicherung angewiesen sein wird. Bedeutet, dass die Rente vom Amt aufgestockt wird, da weniger als 780 Euro monatlich zur Verfügung stehen. Eine bedenkliche Entwicklung, die europaweit mehr Frauen als Männer in Altersarmut sieht. Das hängt mit der Mutterzeit zusammen als auch mit geringeren Entlohnungen im Job und mit einer Vielzahl von Minijobs, die hauptsächlich von Frauen verrichtet werden.
Und dann kommt es so weit, dass die Kinder irgendwann den Eltern finanziell unter die Arme greifen müssen. So wie in unserem Beispiel: Neulich hat die Tochter ihr Schuhe gekauft. Niemals hätte Gerlinde Hauser ihre Tochter darum gebeten, auch wenn die neuen Schuhe dringend nötig waren. Ihr ganzes Leben hat sie als Köchin gearbeitet, fast 3O Jahre lang ein eigenes Hotelrestaurant in dem kleinen Kurort am Rhein geführt, mit großer Außenterrasse, im Sommer waren stets alle Tische besetzt. Daneben hat sie zwei Kinder allein großgezogen, ihr Mann war früh verstorben. Sie hatte Angestellte, jeden Monat hohe Betriebskosten. Da blieb für die Altersvorsorge nicht viel übrig. Dann ging das Hotel pleite. Als Gerlinde Hauser alle Schulden abbezahlt hatte, waren ihre Ersparnisse aufgebraucht. Heute lebt die 79-Jährige von rund 450 Euro Rente und 300 Euro Grundsicherung, so nennt sich die Sozialhilfe für Rentner. „Wenn sie durch die Stadt geht, sehen die Leute immer noch die erfolgreiche Restaurantchefin in ihr“, erzählt ihre Tochter Ute Selig. Niemand im Ort weiß, wie arm ihre Mutter ist. Dass sie sich regelmäßig als Bittstellerin auf dem Sozialamt „nackig ausziehen muss“, so zitiert ihre Tochter sie, um die Grundsicherung zu erhalten. Und dass sie nur deshalb einigermaßen zurechtkommt, weil ihre Tochter ihr auch noch jeden Monat Geld gibt. Deshalb wollen die beiden auch ihre richtigen Namen nichtnennen. Und auch das vereinbarte Treffen sagen sie kurz vor dem Termin ab. „Meine Mutter schämt sich dafür, es nicht geschafft zu haben. Dabei war sie so eine starke, mutige Frau. Und jetzt hat sie diese Minderwertigkeitsgefühle.“ Ob da nicht etwas verkehrt laufe in dieser Gesellschaft, fragt Ute Selig am Telefon. Sie selbst sei 57 und erwarte übrigens auch nur 650 Euro Rente, weil sie als nicht fest angestellte Chefassistentin stets zu wenig eingezahlt habe. „Ich kenne dieses Gefühl, versagt zu haben. Und dass ich selbst schuld daran bin, wenn ich irgendwann unter der Brücke liege. Weil ich zu naiv war, zu sehr in der Gegenwart gelebt habe. Und weil das, was ich verdient habe, einfach nie genug war.“
Ja, da läuft etwas verkehrt. Und zwar eine ganze Menge. Zwei Frauen aus zwei Generationen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, sind arm in Deutschland. Und beide empfinden deshalb Scham — höchstwahrscheinlich geht es den meisten Frauen so, die im Alter zu wenig Geld haben. Aber warum eigentlich? Offenbar haben wir die Leistungslogik des neoliberalen Zeitgeistes so verinnerlicht, dass wir es selbstverständlich finden, dass unser Rentensystem nur die Erfolgreichen trägt. In dieser Logik sorgt die Rente für Arbeitnehmer, die ein Leben lang gut verdient haben. Die können im Alter ein würdiges Leben führen. Und nicht jeder Mensch, der alt und schwach ist. Denn das deutsche Rentensystem ist erwerbszentriert. So heißt das im Fachjargon. Nur wer konsequent 45 Jahre lang möglichst Vollzeit gearbeitet hat und dabei den jedes Jahr durchschnittlichen Bruttolohn verdient hat, nach heutigen Maßstäben wären das rund 3000 Euro monatlich, hat genug sogenannte Entgeltpunkte sammeln können, um im Alter die gesetzliche Standardrente von derzeit rund 1200 Euro (nach Abzug von Kranken- und Pflegeversicherung) zu erhalten. So sieht es jedenfalls das statistische Modell des „deutschen Eckrentners“ vor. Es ist ein Modell eines Durchschnittsverdieners, das in der Adenauer-Zeit geschaffen wurde, als die Menschen noch – damals waren das vor allem Männer — jahrzehntelang bei einem Arbeitgeber angestellt waren. Doch ein deutsches Frauenleben verträgt sich in der Regel — damals wie heute — nicht mit dem Idealbild des deutschen Eckrentners. Forscher haben für die Hans-Böckler-Stiftung 2016 errechnet, welche Lebensläufe in die Armut führen. Sie haben sich dafür die Biografien der zwischen 1938 bis 1947 Geborenen angesehen, der Generation, der auch die rheinische Köchin Gerlinde Hauser angehört, und festgestellt, dass vor allem Menschen mit einer „brüchigen Erwerbsbiografie“ heute zu wenig Rente beziehen. Und das sind neben Selbstständigen, Zugewanderten, Menschen mit Suchtproblemen oder anderen Problemen insbesondere Frauen: verwitwete, geschiedene, alleinerziehende, prekär beschäftigte. Wenn in ein paar Jahren die ersten Babyboomer in Rente gehen, werden noch mehr Frauen arm sein. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wird in den 2030er-Jahren nahezu jede dritte alleinstehende Frau auf Grundsicherung angewiesen sein, also weniger als 780 Euro Rente haben.
Man muss sich einmal klarmachen, was das bedeutet: Eines der größten Risiken für Altersarmut in Deutschland ist, eine Frau zu sein. Aus einer aktuellen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung geht hervor, dass Männer fast doppelt so hohe Einkommen aus der gesetzlichen, privaten und betrieblichen Alterssicherung bekommen wie Frauen. Mit Ausnahme von Luxemburg klafft die Höhe der Altersbezüge von Männern und Frauen in keinem anderen europäischen Land so weit auseinander wie hierzulande. Männer erhielten 2016 durchschnittlich 1127 Euro Rente, Frauen 673 Euro. Kein Wunder, könnte man sagen. Frauen verdienen ja auch viel weniger, weil sie in wichtigen, aber schlecht bezahlten Berufen Vollzeit arbeiten, als Altenpflegerinnen, Friseurinnen oder Erzieherinnen etwa. Oder weil sie irgendwann auf die, rentenperspektivisch gesehen, blödsinnige Idee kommen, zu heiraten, Kinder zu bekommen, und deshalb nur noch Teilzeit arbeiten.
All diese Lebensläufe von Frauen beruhen auf individuellen Entscheidungen. Aber sie werden in einem sozialen und gesetzlichen Rahmen getroffen, in dem einiges ziemlich falschläuft. Die Journalistin Kristina Vaillant hat darüber ein zorniges Buch geschrieben. Sie fragt darin, warum Altersarmut in Deutschland weiblich ist, und legt schlüssig dar, welche Rolle dabei ein veraltetes Rentensystem, eine vorgestrige Steuerpolitik und der moderne Arbeitsmarkt mit seinen prekären Beschäftigungen spielen. Vor allem das sogenannte Ehegattensplitting hält Kristina Vaillant für fatal. Es zementiert ein längst überholt geglaubtes Ernährermodell: Der Mann verdient, die Frau verdient mit. Laut einer aktuellen OECD-Studie tragen Frauen fast nirgendwo in Europa so wenig zum Familieneinkommen bei wie hierzulande. Das hat viele Gründe: weil sie als Mütter mehr Zeit für ihre Kinder haben wollen, weil sie in schlecht bezahlten Berufen arbeiten oder nur Minijobs haben. Aber durch das Ehegattensplitting werden sie eben auch dazu ermutigt, nur Teilzeit zu arbeiten; da es auf der einfachen Formel basiert: Je größer die Einkommensdifferenz der Ehepartner, desto höher der finanzielle Vorteil einer gemeinsamen Steuererklärung. Dabei ist das Splitting eine der kostspieligsten Besonderheiten unseres Steuersystems, das den Staat jährlich um bis zu 15 Milliarden Euro Steuereinnahmen bringt, wie das Deutsche Wirtschaftsinstitut DIW festgestellt hat. Es wird Zeit, dass sich die Verantwortlichen mit Konzepten beschäftigen, die auf eine Mindestrente hinauslaufen, vor allem, wenn die rentenpflichtigen Jahre immer eingezahlt wurde. Ansonsten erleben wir ab 2030 eine weibliche Bettelfront in Europa, die uns in Situationen der Nachkriegszeit zurückversetzt. Und das kann speziell in Deutschland nicht sein, wo so viel Geld für andere „soziale Projekte“ vorhanden ist.