Hamburg. Der Laufsport hat viele empfehlenswerte Komponenten. Das ist kein Geheimnis, sondern eine Tatsache, die man sich immer wieder mal ins Gedächtnis rufen sollte, wenn es zu entscheiden gilt: Soll ich laufen, oder nicht. Denn der Mensch ist von Natur aus aufs Laufen ausgerichtet, nur degeneriert diese Eigenschaft mehr und mehr. Dabei ist das Laufen gerade in der heutigen Zeit ein wunderbares Gegengewicht zu Stress, Bewegungsarmut und falscher Ernährung. Der Kopf wird frei, die Psyche wird stabilisiert, die Stimmung steigt und der Mensch wird selbstbewusster und dynamischer, wenn er regelmäßig läuft. Die Lebenserwartung steigt sogar und man beugt Arterienverkalkung und Demenz vor. Das Schwierigste beim Laufen ist, den inneren Schweinehund zu überwinden und regelmäßig loszurennen. Auch bei Regen und Schnee.
Laufen kann heilsam sein
Die Sonne steht tief und taucht die Oberbaumbrücke in warmes Licht. Knapp 20 Läufer beschleunigen jetzt ihre Schritte am Ufer der Spree, ihr feuchter Atem vermischt sich in Wölkchen mit der kalten Berliner Abendluft. Tobias Singer gibt das Tempo und die Lauf-Intervalle für alle vor. Er ist Coach bei den Adidas Runners, einer Sport-Community in mehr als 50 Städten weltweit. In Berlin gehören über 4000 Läufer dazu, im ganzen Land mehr als 12 000.
Start- und Zielpunkt ist meist die „Runbase“ am Schleusenufer, an der Nahtstelle zwischen Kreuzberg und Friedrichshain. Wenn Sport ein Ersatz ist für Religion, dann ist dies hier der entsprechende Tempel: Ein loftartiger Raum mit langem Tresen und offener Küche, die sogenannten Lab Kitchen, Duschen und Umkleiden im rauen Industriedesign. Die Runbase ist ein Symbol dafür, was Sport heutzutage ist; wie unter dem Brennglas lässt sich hier der Wandel der urbanen Laufszene beobachten. Alles verschmilzt: Körperkult und Konsum, Leibesübung und Lifestyle.
Der Mensch läuft, seit er sich aufgerichtet hat. Das kann man nicht wirklich neu erfinden. Wohl aber kann man es kulturell einbetten, es ästhetisch aufladen oder intellektuell; kommerziell ausschlachten oder im Sinne der Selbstoptimierung funktionalisieren. Laufen ist Haltung, eine Lebenseinstellung. Und im Zeitalter der Digitalisierung findet nicht zuletzt per Social Media zusammen, wer zusammengehört.
Ungefähr so wie diese bunte Truppe hier an der Spree. Das ist ja das Schöne am Sport, am Laufen zumal: Es zählt nicht, was du machst, was du bist, was du hast. Hauptsache, du hast Spaß. Und bleibst nicht allzu oft stehen. Adidas Runners sind deutlich jünger als 30 Jahre. Die Männer tragen gern Bart, Brille, Tattoos. Wie man das ebenso macht in Berlin. Die Frauen sind bemerkenswert durchtrainiert und rennen in bunten Tights und leuchtenden Tops durch die Hauptstadt.
Im Prozess der Evolution haben sich lediglich die Motive für das Laufen geändert: jagen nicht mehr einer Beute hinterher, sondern laufen zu uns selbst, suchen Sinn oder zumindest Gesundheit. Wollen uns auf der Strecke messen oder wenigstens stählen für andere Wettbewerbe, im Job zum Beispiel. Wir rennen vor etwas davon oder auf ein Ziel zu. Und das Ziel ist es auch, so sagt man, was richtige Läufer von Joggern unterscheidet.
Laufen macht sexy
Mehr als fünf Millionen Menschen hierzulande laufen (oder joggen) regelmäßig. Vom Schwimmen einmal abgesehen, gibt es auch keine Sportart, für die man weniger Ausrüstung braucht. Es ist die schlichteste Trainingsform überhaupt — vor allem kann man sie immer und überall betreiben. Man muss bloß vor die Tür gehen. Laufen, sagt Deutschlands prominentester Sportwissenschaft1er Ingo Froböse, „ist die Sportart mit dem Heiligenschein der Gesundheit“. Sie stärkt das Herz-Kreislauf-System, optimiert das Lungenvolumen und den Zuckerstoffwechsel. Und ist dazu noch ein grandioser Fettkiller. Gute 600 Kalorien verbrennt ein Läufer pro Stunde; bei Athleten, die in dieser Zeit zwölf Kilometer und mehr zurücklegen, liegt der Energieumsatz noch wesentlich höher.
In Kombination mit kleineren Work-outs kräftigt Laufen die sogenannte Core-Muskulatur, sprich: die Körpermitte. Es lässt die passiven Strukturen wachsen, also Bänder und Sehnen, und versorgt das Gehirn zusätzlich mit Sauerstoff. Studien legen nahe, dass sich Dauerläufer mit dem Lemen leichter tun. Sogar die Libido wird gepusht.
Für eine Untersuchung der University of Arkansas befragten Wissenschaftler 408 junge Studenten. Das Ergebnis: Fast 80 Prozent der Männer und 60 Prozent der Frauen, die zwei- bis dreimal pro Woche laufen, fanden sich sexuell begehrenswerter als eine nicht laufende Vergleichsgruppe. Das hat sicher auch damit zu tun, dass beim Blick auf die Waage und in den Spiegel ähnlich viele Glückshormone ausgeschüttet werden wie beim Laufen selbst. Narzissmus ist beim Sport eine gute Motivation.
Die ersten Schritte sind schwer
Aber was hilft rationale Einsicht, wenn der Geist blockiert? Die ersten Schritte fallen immer schwer. Man muss sich das nur bewusst machen, findet auch Michael Despeghel. Der Sportwissenschaftler bietet Sport & Lifestyle Coachings an, und in seinen Workshops ist er oft mit übersteigerten Erwartungen konfrontiert: „Wer das Ziel hat, nach vier Wochen ein fitterer, schlankerer, attraktiverer und sexuell aktiverer Mensch zu sein, ist zum Scheitern verurteilt. “ Erfolg ist auch bei Freizeitathleten eine Frage der Einstellung. Deshalb empfiehlt Despeghel: „Überfordern Sie sich nicht, sondern versuchen Sie, kleine Ziele in machbaren Schritten zu erreichen. “
Es klingt wie eine Binse, aber gerade Männern mittleren Alters, die wieder einsteigen, kann man es nicht oft genug sagen: Wer noch nie oder lange nicht gelaufen ist, für den ist anfangs ein Mix aus Gehen und Laufen sinnvoll. Wer noch nie einen Wettkampf bestritten hat, sollte nicht gleich einen Marathon wählen, sondern mit einem kurzen Rennen starten. Despeghels Tipp: „Beschreiben Sie Ihr Wunschziel so genau und realistisch wie möglich, bevor Sie loslegen. “ Denn nur Ziele, die wir erreichen, verankern sich als positive Erfahrung im Gehirn und steigern das Selbstwertgefühl.
Wenn Sport eine Schule fürs Leben ist, dann ist die erste Lektion für Läufer. Demut. Man bewegt sich wie ein eiliger Spaziergänger an anderen federleichtfüßig vorbei; man selbst blickt auf die Pulsuhr und kann es gar nicht fassen, dass die Herzfrequenz bereits gegen 130 geht. Laufen macht am Anfang nicht unbedingt Spaß, mitunter fühlt es sich sogar erniedrigend an. Aber die Entwicklungskurve, das ist der Trost, geht innerhalb weniger Wochen steil nach oben. Das Interessante ist, dass man, sobald man selbst mal angefangen hat, überall sportliche Leute sieht. Vermutlich ist das eine Wahrnehmungsfalle, denn in der Realität sind 59 Prozent der Männer und 37 Prozent der Frauen in Deutschland übergewichtig. So viele wie noch nie. Jeder sechste Deutsche ist fettsüchtig. Daraus ließe sich eine Art körperliche Verelendungstheorie ableiten: Die Fitten werden immer fitter, die Fetten immer fetter.
Die Entwicklungskurve ist steil
Jan Fitschen wurde 2006 Europameister über die 10000 Meter, inzwischen ist er Cheftrainer des Nike + Run Club, dem Pendant zu den Adidas Runners. Er rät: „Wenn die Ziele klar definiert sind, muss man im nächsten Schritt einschätzen, wie viel Zeit man investieren kann, um diese zu erreichen.“ Daraus lässt sich ein Trainingsplan erarbeiten, den man möglichst präzise einhalten sollte.
Exklusiv für FOCUS hat Fitschen drei exemplarische Trainingspläne entwickelt. Für Einsteiger, die nach vier Wochen 30 Minuten am Stück laufen möchten. Für erfahrene Läufer, die in acht Wochen ihre Ausdauer und Fitness verbessern und bis zu vier Kilo abnehmen möchten. Und für angehende Wettkämpfer, die nach sechs Wochen ihr erstes 10-Kilometer-Rennen unter 50 Minuten bestreiten wollen.
Egal, auf welchem Level — Läufer müssen sich Zeit nehmen. Nicht nur für das Work-out selbst, sondern vor allem im Sinne von Geduld. Die Magie der SchwereIosigkeit bei jedem Schritt, der gern zitierte Flow, den man empfindet, stellt sich erst nach vielen, vielen Trainingskilometern ein. Bei Spitzensportlern wie Fitschen hat sich über Jahrzehnte eine ganz spezifische Kraft aufgebaut. Von den Sprunggelenken, über den Sehnenapparat bis in jede einzelne Muskelzelle, die dafür zuständig ist, Energie zu liefern.
Der Wettkampf ist die Belohnung
Aus eigener Erfahrung weiß Fitschen, dass Laufen nicht immer Vergnügen ist: „Manchmal muss man sich zwingen oder braucht jemanden, der einem in den Hintern tritt. “ Das kann ein Laufpartner sein, mit dem man verbindliche Termine abmacht, ein Coach oder eben der Lauftreff.
Rein anthropologisch betrachtet, liegt das Laufen in der Gruppe in unserer Natur. Schließlich haben unsere Vorfahren auch gemeinschaftlich gejagt. Auf die Gegenwart übertragen, hilft kollektives Erleben, persönliche Leistungsgrenzen zu verschieben. Vor allem stellt es soziale Zugehörigkeit her. „In einer Gesellschaft, die ihre kommunikative Mitte und damit auch ihr Gemeinschaftsgefühl verliert, ist es mehr als naheliegend, Ersatzgemeinschaftsgefühle zu suchen“ schreibt der Schriftsteller und Marathonläufer Matthias Politycki in seinem Buch „42,195″. Für Politycki sind Wettkämpfe die Krönung dieses Erlebens. Das gemeinsame Herunterzählen der letzten Sekunden, die Weltgemeinschaft der Läufer beim Gebet schwärmt er, „und schon hörst du den Sound von 80000 Schuhen auf dem Asphalt.“ Das ist der erfrischende Gegenentwurf zum meditativen Allein-vor-sich hin-Rennen, das aber in seinen besten Momenten eine fast transzendentale Dimension besitzt.
Deutschlands schnellster Marathonläufer Arne Gabius (Bestzeit 2:08:33 Stunden) startet im April beim Boston Marathon und im August über 10000 Meter bei der Leichtathletik-EM in Berlin. Profi-Sportler strukturieren ihren Alltag anhand von Highlights. Auch das können Freizeitathleten von ihnen lernen. Ambitionierten Läufern empfiehlt Gabius daher: „Melden Sie sich mit Ihrem Laufpartner zum Event in einer fremden Stadt an, und verbinden Sie das Rennen mit einem lässigen Städtetrip. Da ist die Belohnung fürs Training gleich miteingeschlossen. “
Der Läufer als Käufer
Die großen Volksläufe, die spektakulären Marathons — für Politycki sind das sportliche Treffen einer „postmodernen Eventgesellschaft“. Für die Industrie sind sie wie die von fast allen Firmen gesponserten Lauftreffs ein Kommunikations-Tool: Sie ermöglichen Markenerlebnisse und können durchaus als Datenstaubsauger dienen. Denn die Athleten nutzen oft die entsprechenden Apps. Und letztlich ist ein Lauftreff auch ein Laufsteg: Will man wirklich jede Woche das gleiche Outfit tragen? Der Laufsport gehört für Sportartikelhersteller zu den wichtigsten Geschäftssäulen. Adidas und Nike erzielen rund die Hälfte des Jahresumsatzes (von 20 Milliarden beziehungsweise 30 Milliarden Euro) mit Schuhen. Die Hersteller profitieren auch davon, dass sich ihre Klientel um eine konsumfreudige Zielgruppe erweitert hat: junge Frauen. Eigene Laufserien wie der Women’s Run oder populäre Bloggerinnen verändern das Bild auf Laufstrecken und bei Wettkämpfen. Standen vor zehn Jahren fast nur Männer auf den Teilnehmerlisten, liegt der Frauenanteil beim New York City Marathon jetzt bei fast 42 Prozent, beim Berliner Marathon stieg die Quote von 16 Prozent im Jahr 2000 auf 28 Prozent im Jahr 2017.
Killt Kommerz Kreativität?
Nicht alle sind von der Kommerzialisierung der Laufkultur begeistert. Marc Suxdorf aus Hamburg zum Beispiel: „Sobald die großen Firmen die Lauftreffs vereinnahmen, geht meist die Kreativität flöten. “ Suxdorf ist in seiner eigenen Läufertruppe aktiv. Die Hamburger Tide Runners. „Es gibt keine Verpflichtungen, alles ist freiwillig.“ Vorbild New York Bridge Runners, die Ur-Laufcommunity, die seit 2004 einmal die Woche abends durch die Straßen und über die Brücken New Yorks rennt. Es war der erste Gegenentwurf zu den klassischen Lauftreffs in denen hagere und scheinbar spaßbefreite Jogger das Bild prägten. Suxdorf und seine Leute treffen sich einmal wöchentlich am Hostel „Superbude“ auf St. Pauli und laufen durch die City. Jeder kann mit. Die 8 oder 15 Kilometer langen Strecken folgen jedes Mal einer anderen Route, der Langsamste bestimmt das Tempo. Das Gesellige ist wichtiger, findet Suxdorf. Nach dem Lauf stehen alle zusammen und trinken ein oder zwei Bier. Wir haben sogar unser erstes eigenes Bier gebraut“ , erzählt der Initiator des Treffs. 2800 Flaschen Tide Runners Wave Breaker haben sie mit einem lokalen Brauer produziert. Und bereits geleert. Was das im sportwissenschaftlichen Sinne für die kalorische Bilanz bedeutet, ist eh wurscht. „Eigentlich“ , sagt Suxdorf „treffen wir uns zum Abfeiern.