Seattle. Es gibt das alte Sprichwort welches besagt, dass du nur reich wirst, wenn du ab und zu vom geraden Weg abgehst. Und links und rechts des Weges finden sich immer wieder Möglichkeiten, die ungeahnte Einnahmequellen offenbaren. So wie bei Amazon, der sich als E-Commerce-Gigant den Weg nach ganz oben über Umwege erobert hat. Indem Händler und Lieferanten übers Ohr gehauen werden oder Warenlieferungen vermeintlich unvollständig waren, so dass man von einer Bezahlung nach Vereinbarung gerne mal absieht. Das bringt hier und dort auch eine Menge Geld ein, zumal Jeff Bezos mit einem Marktanteil von 62% sich das größte Stück vom Kuchen abschneidet. Und da will der reichste Mann der Welt dann immer mehr: Ob auf krumm oder über juristische Auseinandersetzungen – Bezos ist in der Beziehung mit allen Wassern gewaschen.
Weltweite Beschwerden
Auch deutsche Produzenten können davon ein Liedchen singen. Gerhard Gollnest (62) produziert mit Goki putziges Holzspielzeug für Kinder, kann aber auch ein harter Knochen sein. An Amazon liefert er gar nicht mehr, weil er sich regelmäßig betrogen fühlt. Immer wieder, so erzählt Gollnest, habe der Handelskonzern an ihn gelieferte Ware nur unvollständig bezahlt. Amazons Begründung: Die Ware sei nicht komplett angekommen. Also führte Gollnest bei Lieferungen an den US-Konzern das Vieraugenprinzip ein, jede Aussendung wurde peni
bel geprüft. Trotzdem behauptete Amazon immer wieder, dass Holzspielzeug fehlt. Goki ist kein Einzelfall. Das Thema begegne ihm bei „nahezu jedem Gespräch“ mit Herstellern und Händlern, sagt Felix Gassmann (38), Geschäftsführer der E-Commerce-Agentur Avantrado und früher selbst jahrelang bei Amazon. In manchen Fällen addieren sich die angeblichen Fehlmengen auf mehrere Hunderttausend Euro oder sogar Millionensummen, berichten Manager betroffener Unternehmen. So soll bei einem japanischen Kamerahersteller der Warenverlust „die gesamte Marge aufgefressen“ haben. Bei Beschwerden lässt der Konzern von Jeff Bezos gern seine Anwälte sprechen. Die erklären dann, dass Lieferbelege nicht als Beweis dafür taugten, dass eine Palette vollständig angekommen sei. Darüber hinaus gibt es genügend andere kleine „Schweinereien“ die sich Amazon-Mitarbeiter ausdenken, um den Umsatz weiter zu steigern. Zum Beispiel werden alle Händler genau beobachtet und analysiert. Sticht einer heraus, dessen Produkte sich generell bestens verkaufen lassen, werden diese von Amazon kopiert und in China in großen Stückzahlen als „Raubkopie“ hergestellt, um sie dann den weltweiten Kunden als Qualitätsprodukt zum Preis des ursprünglichen Händlers anzubieten. Kunden-Reklamationen laufen ins Leere, denn ein Rechtsstreit mit Amazon kann niemand bezahlen…
Amazon kennt alle Tricks
Zurück zum Thema „unvollständige Lieferungen“: Die Ursache des Problems vermuten Amazon-Kenner wie Gassmann in Fehlern, die bei der Warenannahme passieren. Der Schwund nehme „saisonal stark zu“, sagt der E-Commerce-Experte — immer dann, wenn viele Hilfskräfte eingesetzt werden. Packen die Amazon-Mitarbeiter die Waren nicht komplett aus, sondern scannen lediglich den Barcode, der auf einer Umverpackung ist, buchen sie zum Beispiel statt acht Kameras in einem Paket nur eine einzige in Amazons System ein. Die anderen sieben meldet der Handelsriese als fehlend. Fehler passieren überall. Doch die Lieferanten ärgert, dass dabei fast immer Amazon profitiert. Dass der Konzern aus Seattle sein Kontrollsystem verbessert, sei unwahrscheinlich, sagt ein Insider. „Wieso sollte Amazon Ressourcen und Kapital dafür verschwenden, um am Ende weniger zu verdienen?“ Zwar informiert Amazon seine Lieferanten nach Beschwerden schon mal, dass bei Nachforschungen ein Teil der Waren entdeckt worden sei, berichtet ein Betroffener. Aber überwiesen werden dann oft bloß Kleckerbeträge, 10 Prozent der ausstehenden Rechnung. Der Rest ist verloren.
Inzwischen sind mehrere Hersteller dazu übergegangen, Waren für Amazon komplett neu zu packen, Barcodes zu entfernen und mit Anweisungen in Polnisch, Tschechisch und anderen Sprachen zu versehen, die dazu auffordern, die Pakete weiter auszupacken. Das zeige schon „enorme Wirkung“, sagt Gassmann. Amazon lässt erklären, dass die Warenannahme „den Standards in der Branche“ entspreche und man bei Problemen „direkt mit den Lieferanten“ an der Lösung arbeite. Wie die dann aussehen könnte, schildert ein betroffener Hersteller. Amazon habe ihn in einem Meeting dazu gedrängt, den „unzuverlässigen“ Paketdiensten zu kündigen und stattdessen zu Amazons hauseigenem Logistiker zu wechseln. Dann komme die Ware auch vollständig an.