Freiburg. Die Deutschen werden derzeit einer harten Probe ausgesetzt, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem Begriff „Heimat“ geht. In Zeiten, in denen immer mehr Zuwanderer, Flüchtlinge und Boatpeople nach Europa drängen und hier integriert werden sollen, obwohl ein soziales Miteinander in vielerlei Hinsicht schwierig bzw. unmöglich scheint. Diese Bereitschaft zur Anerkennung neuer Einflüsse und Religionen fällt nicht jedem leicht und viele spüren, dass etwas wie Heimatverbundenheit, Identifikation mit der Heimat oder nationales Bewusstsein verloren gehen könnte. Begriffe wie Multikulti, eine neue Weltoffenheit und „Gutmenschentum“ decken sich nicht mit dem Begriff von Heimat, wie wir ihn kennen und gelernt haben.
Heimat, altes Haus, bist ja immer noch da, einfach nicht totzukriegen, sprießt wie Unkraut im Frühling, überlebst alles, Glyphosat und Gotthilf Fischer, Missbrauch und Häme. Erinnerst du dich an die Zeit, als die Menschen, kaum fiel dein Name, Heino im Ohr hatten und das Bellen eines Schäferhunds? Als sich bei „Heimat!“ eine Alpenkulisse auf die Hirnrinde brannte und Fischernetze von der Schädeldecke hingen? Und jetzt, altes Haus, wird man sich plötzlich deiner bewusst, mit ungeahnter Vehemenz. Viele finden dich sogar cool. Politiker halten dich für ministrabel. Selbstjene, die dir stets vorwarfen, ewig gestrig zu sein, geraten ins Sinnieren. Über dich. Was hat sich hier verändert? Du, Heimat? Die Menschen? Oder nur ihr Blick auf dich? 77 Prozent der Deutschen fühlen sich nach einer Allensbach-Umfrage stark oder sehr stark mit dir verbunden. Sie denken an Kindheit und Familie (87 Prozent), an Freunde (84 Prozent) und alte Zeiten (75 Prozent). Heimat, das gilt heute nicht mehr als Ausweis folkloristischer Spießigkeit (20 Prozent), sondern als Ausdruck eines diffusen Wunschs nach Vertrautheit und Zugehörigkeit, nach verlässlicher Wiedererkennung und Vergewisserung der eigenen Wurzeln. Sagen Soziologen. Das Wort lässt sich auch deshalb so schwer in andere Sprachen übersetzen, weil es so viel mehr bedeutet als nur den Ort, an dem man das Licht der Welt erblickte. Sagen Sprachwissenschaftler. Man könnte auch sagen: Heimat, das ist vor allem ein Gefühl.
Es befällt nicht nur Oma, die im Sommer 45 mit dem Bollerwagen aus dem Osten kam, es befällt auch den Opa, der imWinter 68 mit dem Zug aus Istanbul anreiste. Es infiziert den Vater, sobald er Möwen kreischen hört, die Mutter, wenn sie das Harz des Kiefernwalds riecht, und irgendwann beschleicht es auch jene Söhne und Töchter, die gerade per Flixbus aus der Enge ihrer Heimstattfliehen. Noch mögen sie glauben, Heimat sei da, wo sich ihr Handy automatisch mit dem WLAN verbindet. Aber sie tragen schon diese T-Shirts der Bekenntnis, auf denen „Deichkind“ steht, „Sons of Ruhrpott“ oder „Straight outta Neukölln“. Ach, Heimat, irgendwann erwischst du jeden.
In Grimms „Deutschem Wörterbuch“ hieß Heimat schlicht „das Land oder auch nur der Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat“. Dieser bis dato ganz und gar nüchterne Begriff wird im Lauf der Geschichte in mehreren Wellen immer wieder pathetisch, bisweilen pathologisch aufgeladen. Und jeder dieser Wellen, so schreiben die Jenaer Wissenschaftler Edoardo Costadura und Klaus Ries in „Heimat — gestern und heute“, jeder dieser Wellen geht ein Schock voraus, ein historischer Umbruch, eine Phase tief greifender Transformation, die die Gesellschaft nur schwer verkraftet, die Menschen überfordert und zurückwirft auf ihren überschaubaren Lebensraum.
Ist diese neue Sehnsucht nach Heimat also nicht weniger als das Symptom einer mentalen Krise? Die erste Heimat-Welle bricht sich ab Anfang des 19. Jahrhunderts in der Romantik Bahn. Je stärker die Spätfolgen der Französischen Revolution an den Festen des Kontinents rütteln, je mehr Auswanderer die Schiffe Richtung Amerika besteigen — desto lieblicher wird das heimatliche Idyll besungen, bedichtet und vor allem idealisiert. Und das ist erst der Anfang.
Blut und Boden, Rasse, rein und gleich
Als dann in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das Zeitalter der Industriemoderne anbricht, setzt ein regelrechter Heimat-Hype ein. Während immer mehr Menschen aus ihren Bauernkaten in die Mietskasernen ziehen, sammeln sich Naturfreunde, Wandervögel, auch der Bund Heimatschutz entsteht. Schon dessen Gründungsaufruflässt erkennen, dass man sich als Gegenbewegung versteht gegen den allumfassenden Wandel der modernen Zeit. Dort heißt es: „Ja, die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges haben nicht so verheerend gewirkt, so gründlich in Stadt und Land mit dem Erbe der Vergangenheit aufgeräumt wie die Übergriffe des modernen Lebens mit seiner rücksichtslos einseitigen Verfolgung praktischer Zwecke.“
Klingt irgendwie vertraut? Heutige Klagen über die Folgen von Neoliberalismus und Globalisierung lesen sich nichtwesentlich anders. Doch so weit sind wir noch nicht, denn in der Heimat-Historie folgt auf den Hype zunächst die völkische Welle, deren sumpfbraune Ränder bis heute immer wieder neu gewässert werden. Es ist die dunkle Seite der Heimat, die während der NS-Zeit in ihrer ganzen Brutalität ans Licht tritt: Aus der radikalen Überhöhung des Eigenen, aus Blut und Boden, Rasse, rein und gleich, folgt die bedingungslose Ablehnung des Fremden bis zum Hass. Es endet im Massenmord, in der Katastrophe, die wiederum schon in den ersten Nachkriegsjahren die vierte Welle an schiebt und sich in einer Flut aus Heimatkitsch ergießt.
Inmitten ganz realer Trümmerberge mutiert die heile Welt des Heimatfilms zum imaginären Rückzugsort einer traumatisierten Gesellschaft, die am liebsten alles vergessen würde. Während „draußen vor der Tür“ (Wolfgang Borchert) die Kriegsheimkehrer nichts vergessen können und Millionen Vertriebene nichts vergessen wollen. Heimat, das ist fortan kontaminiertes Gelände. Ein blütenweißer Ersatz für die blutbefleckte Nation — und steht genau darum für lange Zeit unter Verdacht.
Wer auf sich hielt, wollte weg, raus aus dem Mief des Hinterwalds, der nicht nur am Dorfrand stand, hinaus in die weite Welt. Heimat? Nur ein andres Wort für Provinz. Es sei der „schönste Name für Zurückgebliebenheit schrieb Martin Walser. Das war Ende der 60er Jahre, als man, im doppelten Sinne, genug davon hatte. Heute, 50 Jahre später, verhält es sich genau umgekehrt.
So erklären sich Anthropologen, Kulturwissenschaft1er und Soziologen den neuen Lokalpatriotismus: Je stärker die real existierende Heimat unter den Druck von Veränderung und Verdrängung gerät, desto stärker wird die Sehnsucht nach ihr, nach der Geborgenheit im Vertrauten. Und je weniger diese real existierende Heimat noch mit dem heimeligen Idyll gemein hat, desto größer die Nachfrage nach Janker und Dirndl und Äpfeln aus dem Alten Land — handgenäht und mit Liebe geerntet. Von einer „Selbstvergewisserungsindustrie“ spricht die Soziologin Cornelia Koppetsch. Die Darmstädter Professorin hält diese neue Konjunktur für keineswegs verwunderlich, denn „die Idee der Heimat so schreibt sie in einem aktuellen Aufsatz, „befindet sich gewissermaßen am mentalen Verkehrsknotenpunkt von Globalisierung, romantischem Neo-Konservatismus und neuen politischen und gesellschaftlichen Konfliktlinien“. Heimat, der Anker in stürmischer See.
Sehnsucht nach Halt in haltlosen Zeiten
Und so ist der Auslöser des Heimat-Booms auch heute wieder ein Bruch, eine Phase der Transformation. Diese jüngste Welle rollt schon in den 90er Jahren an. Sie schwappt zunächst als „Ostalgie“ durch die neuen Länder, wo sich die Heimattatsächlich „schön gemacht“ hat, wie es einst im DDR-Pionierlied hieß, „und Tau blitzt ihr im Haar“, doch so viele fühlten sich in dieser durchsanierten Heimat nicht mehr heimisch. Es ist diese Sehnsucht nach dem Vergangenen, die Menschen überall davon spüren, wo der Strukturwandel durch die Regionen fegt. Eine Sehnsucht nach Halt in haltlosen Zeiten, in denen ein jeder mobil und flexibel sein soll. Sie befällt nicht nur jene, die mit Fortschritt und Veränderung wenig Positives verbinden. Auch die Mutigen, die den Herausforderungen bei Tageslicht trotzig ins Auge blicken, beschleicht in der Dämmerung bisweilen Furcht — vor furchterregenden Hauptwörtern wie Digitalisierung, Eurokrise, Flüchtlingskrise. Die ganz Ängstlichen mutieren zu „besorgten Bürgern“, die sich bei jedem Kopftuch fragen: Ist das noch mein Land?
Meins! Nicht deins! Es riecht schon wieder streng im Hinterhof der Heimat, es drängt hinaus auf die Marktplätze, hinein in die Parlamente. Es sind die Pegida Demonstranten mit ihren „Unsere Heimat bleibt deutsch!“-Transparenten. Es ist der Satz, den AfD-Chef Alexander Gauland am Abend der Bundestagswahl den gefühlten Heimatvertriebenen zurief: „Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.“ Wir! Unser!
Es war der Abend, an dem die „etablierte Politik“ endgültig zur Einsicht gelangte, diesen Kampfbegriff nicht kampflos den Rechtspopulisten überlassen zu können, denen also, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnte, „die Heimat konstruieren als ein ,Wir gegen die‘, als Blödsinn von Blut und Boden“. Seitdem herrscht eine Art Heimat-Krieg, die Schlacht um die politische Deutungshoheit, ein Überbietungswettbewerb in Heimatliebe. Und so hat inzwischen sogar die grüne Frontfrau Katrin Göring-Eckardt geschmettert: „Wir lieben dieses Land. Das ist unsere Heimat.“ Und: „Für diese Heimat werden wir kämpfen.“ Die Schlacht um die Frage, was und wie Heimat denn nun sein soll, ist keineswegs entschieden. Ein exklusiver Klub, Mitgliedschaft nur qua Geburtsrecht und der rechten Religion? Oder offen für alle, die sich an die Hausordnung halten und bereit sind, Wurzeln zu schlagen? Geht es um das konkrete Zuhause oder um eine imaginierte Idylle, überschau- und kontrollierbar wie die Modelleisenbahn in Horst Seehofers Keller?
Die Antworten auf diese Fragen sollte man besser nicht allein dem Heimatminister überlassen, der seit Amtsantritt zunehmend grantig sortiert, was zu Deutschland „gehört“ und was nicht. Schlimmer: Wer zu Deutschland gehört, und wer nicht. Das eigens für ihn geschaffene Monsterministerium „des Innern, für Bau und Heimat“ dient auch als eine Art Verteidigungsministerium gegen den weiteren Vormarsch der AfD, als quasi regierungsamtliche Antwort auf die oft gestellte Frage: „Und was tut ihr für mich?“
Der Innenminister antwortet: Wir schieben die Fremden ab, die nicht hierher gehören. Der Bauminister verspricht: Strukturprogramme, Raumplanung, Fördergelder! Und der Heimatminister schafft drei Abteilungen, 100 zusätzliche Mitarbeiter und eine Kommission, die bald schon eine Heimatstrategie vorlegen wird. Heimat verteilt auf drei Säulen, und ein Mann, der sie verkörpert wie die heilige Dreifaltigkeit. Und auch wenn dieser Herr Seehofer nach all seinen Volten und Rätselhaftigkeiten der vergangenen Wochen inzwischen weniger Herr als wirr erscheint, so bleibt doch eines wahr: Heimat, das ist mehr als Gemütspolitik irgendwo zwischen Leitkultur und Lederhose.
Hinter den diffusen Verlust- und Überfremdungsängsten stehen oft sehr konkrete Probleme, derer sich die Politik gern annehmen darf. Die Menschen fragen sich ja nic zu Unrecht, wie in Zeiten des Global Village ihre en Villages in Eifel oder Prignitz noch Heimat bleiben können — trotz Landflucht, Funkloch und Ärztemangel. Sie fragen sich, wie die Städte in Ost und West ihren Charakter behalten, wenn bald jede Innenstadt gleich aussieht und die Miete das Konto sprengt. Sie fragen sich, ob das, was sie ihre Heimat nennen, bald ein Fall fürs Heimatmuseum wird, in staubigen Vitrinen für die Nachwelt konserviert.
Ach, Heimat, die Menschenhaben nun mal Angst, dass du am Ende nur im Gestern weiterlebst. Als wohlige Erinnerung an kniebestrumpfte Sommertage und den ersten Kuss. An Menschen, die verstehen ohne große Worte. Denn ohne dich zu sein „heißt leiden“, wenn man Dostojewskij glaubt. Und darum bist du vielleicht das Einzige, was den fränkischen Jägerzaun-Rentner mit dem Hamburger Autonomen verbindet. Der eine beargwöhnt die Flüchtlinge in der Nachbarschaft, der andere kämpft im Schanzenviertel gegen die Gentrifizierung. Beide trennen Welten, und doch eint sie ein Seufzer: Kann nicht wenigstens ein bisschen so bleiben, wie, es ist? Ach, Heimat, früher oder später kriegst du sie alle.