Köln. Die Recherchen zum BAMF-Skandal (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) werden und dürfen nicht aufhören. Zu unglaublich sind die personellen Verstrickungen, die gegenseitigen Schuldzuweisungen und Lügen innerhalb aller Beteiligten, vor allem ranghoher deutscher Politiker. Es ist eine große Mauschelei, ein Versteckspiel und ein großer Akt von Denunzierung der immer deutlicher zutage tritt, je intensiver geforscht und recherchiert wird. Frei nach dem Motto: „Rette sich wer kann“ versuchen die Verantwortlichen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Auch Angela Merkel, Peter Altmaier, Ex-Bamf-Präsident F-J. Weise und Ex-Innenminister Thomas de Maiziere sind Teil der „Schmierenkomödie“ rund um das Thema Einwanderung und Asyl. Dass bis heute nur ein „Kopf gerollt“ ist, nämlich der von Jutta Cordt, der BAMF-Cheffin, ist äußerst rätselhaft. Typisch „Vetternwirtschaft“ wird der ein oder andere von uns zu Recht denken.
Der langjährige Innenminister Thomas de Maiziere könnte ganz viel sagen zum Skandal um das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Tat er aber über Wochen nicht. Der ehemalige Kanzleramtsminister und Flüchtlingskoordinator Peter Altmaier, inzwischen Wirtschaftsminister, weiß auch sehr viel. Und redet sich heraus. Kanzlerin Angela Merkel selbst hat es bisher ebenfalls nicht geschafft zu sagen: Leute, ich hatte euch versprochen, dass wir das schaffen mit den Flüchtlingen, aber dann war das BAMF überfordert, und wir haben lieber schnell gemacht als gründlich; es waren so viele Wahlen damals, und die AfD wurde immer stärker.
Doch es geht jetzt nicht um Wahrheit, sondern darum, die eigene Haut zu retten. Es ist brandgefährlich für Politiker, wenn herauskommt, wie sie ihr Geschäft betrieben haben: indem sie in Kaufnahmen, dass einiges schieflief mit den Asylbescheiden. Genauso ist es gewesen. 2015, zweite Jahreshälfte, als immer mehr Menschen nach Deutschland flohen, holte Merkel einen Krisenmanager: Frank Jürgen Weise sollte das BAMF führen, ein Oberst der Reserve, schneidig und erfahren, jahrelang schon Chef der Bundesagentur für Arbeit. Weise bekam Tausende neuer Mitarbeiter, die das Innenministerium seinem Vorgänger noch versagt hatte. Er durfte für Dutzende Millionen Euro Unternehmensberater buchen. Weise durfte sagen, dass alles schlecht sei im BAMF, Teil eins seiner Botschaft, dass aber nun, Botschaft Teil zwei, alles gut werde. Die Wunderwaffe Weise legte los. Alles war jetzt anders im Amt, mit Weise und seinen Vertrauten, mitvielen Soldaten und vielen McKinsey-Beratern. Da war jetzt Schwung drin. Weise wirkt, das war die Wahrnehmung von außen. Im Inneren erging von der BAMF-Leitung in Nürnberg ein Erlass nach dem anderen, der die neue Priorität verkündete: die Zahlen unerledigter Asylverfahren abzubauen. Ein Beispiel, Sommer 2016, die AD ist zuvor in drei Landtage eingezogen, mit Wahlergebnissen bis in die Nähe von 25 Prozent. Das Ziel seien jetzt für einen Mitarbeiter „durchschnittlich je vier Anhörungen pro Tag/20 pro Woche“. Eine Anhörung, das bedeutet für den BAMF-Mitarbeiter, zuerst die vorliegenden Daten des Asylbewerbers zu lesen, ihn dann — meist mithilfe eines Dolmetschers — zu befragen und schließlich einen Bericht zu verfassen, auf dessen Grundlage das BAMF entscheidet. Viermal am Tag sollte ein Anhörer diesen Prozess durchziehen. Natürlich war das absurd viel und in der Regel unmöglich, zumindest wenn man gewisse Standards einhalten wollte. Aber das BAMF konnte so die hohen Zahlen ausstehender Asylverfahren drücken. Kinderzimmer aufgeräumt, sieht doch gut aus, Mutter. Nur dass in Wirklichkeit die Spielsachen unterm Bett liegen und die dreckigen T-Shirts zerknittert im Schrank.
Lieber schnell als gründlich
Nichts anderes ist es, wenn man in einer Behörde, die über Asyl entscheidet, konsequent auf Geschwindigkeit setzt. Wenn man Leute ohne Fachwissen einsetzt, Schulungen verzögert und verkürzt, wenn man auf Qualitätsmanagementverzichtet. So arbeitete das BAMF unter Weise. Und so ist es möglich und leider auch nicht allzu unwahrscheinlich, dass Gefährder ohne größere Prüfung ins Land gelangten, Extremisten, außerdem Betrüger, die kein Recht auf Asyl besaßen. Dass zugleich auch viele Menschen zunächst zu Unrecht abgelehnt wurden mit schlampigen Entscheiden, die dann vor Gericht recht bekamen. Vor diesem Hintergrund hält der frühere Flüchtlingskoordinator und heutige Wirtschaftsminister Peter Altmaier es offenbar für eine gute Idee, die Sache Thomas de Maiziere in die Schuhe zu schieben. Formal hat Altmaier wohl recht. Der neue BAMF-Chef Weise gab seine „Leistungsversprechen“ für 2016 damals dem Bundesinnenminister ab. Das Dokument liegt uns vor, neben Weises Unterschrift steht die von Emily Haber, Innenministerium, damals de zuständige Staatssekretärin. Auch wurde dem Innenminister nicht die Fachaufsicht für das BAMF entzogen, als Merkel im Herbst 2015 die Flüchtlingspolitik im Kanzleramt verankerte. Aber „die politische Gesamtkoordinierung“, so bekam es Regierungssprecher Steffen Seibert auf seinen Sprechzettel geschrieben, „obliegt dem Chef des Bundeskanzleramts“. Auch im „Lenkungsausschuss Bewältigung der Flüchtlingslage“ war das Kanzleramt vertreten. Altmaier höchstpersönlich schrieb, dass der ständige Vertreter von Emily Haber sein Staatsminister Helge Braun sei.
Am Anfang ging alles gut. Weise hatte als ein „Versprechen“ unterschrieben, er werde das Vertrauen auch „der Medien und der Öffentlichkeit wiederherstellen“. Der BAMF-Präsident beruhigte in Interviews, er sei „gut darin, für schlankere und effizientere Prozesse zu sorgen“. Er behauptete, das BAMF „qualifiziere die Leute mehrere Wochen intensiv“. Er vermeldete, man „hole den Rückstand täglich weiter auf“. Gute Nachrichten aus Nürnberg also, und die Zahlen offener Asylverfahren sanken ja auch. Die Kanzlerin konnte nachlegen. Angela Merkel hielt sich allerdings erst mal zurück, bis zum 3. September 2017, als ihr Herausforderer Martin Schulz sie im Fernsehduell anging. Drei Wochen vor der Bundestagswahl lederte Schulz gegen das BAMF, wenn da doch „endlich schneller gearbeitet würde, in diesem Bundesamt für Migration“. Da war er nun, der Vorwurf, Merkel habe zu viel versprochen mit ihrem „Wir schaffen das“. Vier Sender übertrugen. Merkel parierte. Sie habe sich das extra noch mal angeschaut, sagte sie. „Im Jahre 2017 sind die Bearbeitungsfristen auf zwei Monate gesunken.“ Und: „Damit sind wir im Übrigen in Europa auch führend.“ Führend in Europa: Die Kanzlerin verwandelte das Großproblem mit zwei Sätzen in ein Gewinnerthema. Das ging, weil Weise und seine Nachfolgerin Jutta Cordt die Zahlen offener Asylverfahren ohne Rücksicht auf Qualität gesenkt hatten. Die Saat war aufgegangen — zur besten Sendezeit. Auch Frank-Jürgen Weise erntete zu dieser Zeit. Er hatte die Leitung des BAMF, die er nebenbei ausübte und für die er als Spitzenbeamter nicht extra bezahlt werden durfte, Anfang des Jahres an Jutta Cordt abgegeben. Dann hatte er vor Thomas de Maiziere einen Anschlussjob bekommen, als Beauftragter des Innenministers für Flüchtlingsmanagement. Da saß Weise nun in einem Nebengebäude seiner langjährigen Dienstvilla in Nürnberg, das eigens renoviert wurde, und leitete einen Stab. Als Berater des Innenministers engagierte er weitere Berater. Und kassieren durfte er diesmal auch, er warja im Ruhestand und bekam 83000 Euro. Zur Situation im BAMF hörte man von ihm kein böses Wort. Im Mai 2018 noch, die krummen Geschäfte in der BAMF-Außenstelle Bremen erregten die Republik, versuchte Weise zu beruhigen. Er wollte jetzt seine Vertraute Cordt schützen. In einer E-Mail schrieb er einer BAMF-Mitarbeiterin: „Ich möchte nicht, dass Frau Cordt beschädigt wird.“
Das Ende der Loyalität
Jutta Cordt wurde aber beschädigt, und den Bundestagsabgeordneten im Innenausschuss ging zudem langsam auf, dass nicht nur Cordt, sondern auch deren Vorgänger die Arbeitsweise des BAMF geprägt hat. Sie kündigten vorige Woche an, ihn in den Innenausschuss vorzuladen und dort ausgiebig zu befragen. Das war wohl der Moment, in dem für Weise Schluss mit loyal war. Er hatte sich als Reformer und Krisenmanager inszenieren können. Er hatte sich stets tadellos verhalten. Er hatte nach seinem Ausscheiden einen schönen Posten erhalten. Er hatte dann brav die „viele Unterstützung“ gelobt, die er „von der Politik, auch aus der Opposition“ bekommen habe. Als er um ein Fazit seiner Arbeit gebeten wurde, sagte Weise, dieses sei „positiv“, denn: „Nach meinen anderthalb Jahren war das Thema BAMF nicht mehr so sehr in den Medien wie zuvor. In der Politik sehe man das Amt „weniger kritisch“, und der Auftrag sei „weitgehend erfüllt worden“.
Aber dieser Tage, da es auch um ihn geht und um seine Leistung, tauchten plötzlich zwei Weise-Berichte aus dem Jahr 2017 auf. Die „Bild am Sonntag“ zitierte üppig daraus, es entstanden zwei Botschaften, beide nicht zum Nachteil des angegriffenen Weise: Die erste lautet, dass das Innenministerium sich in vielerlei Hinsicht schlecht um das BAMF gekümmert und dass Weise das angeprangert habe. Die zweite Botschaft betrifft die Kanzlerin: Auch sie sei 2017 von Weise über die Missstände im BAMF informiert worden. „Die Kanzlerin wusste vom Asyl-Versagen“, konnte die Zeitung schreiben. Das Schwarzer-Peter-SpieI geht weiter. Der Innenausschuss wird tagen, vielleicht gibt es einen Untersuchungsausschuss. Jeder will aufklären, niemand trägt die Schuld. Und vielleicht wird sich jemand an die Pressekonferenz der Kanzlerin im turbulenten Spätsommer 2015 erinnern. Sie sagte: „Deutsche Gründlichkeit ist super. Aber es wird jetzt deutsche Flexibilität gebraucht.“