Stuttgart. Ein Bauprojekt, das seit seiner Planung vor etwa 25 Jahren bis heute nicht realisiert worden ist und über das Fachleute und Sachverständige sagen, dass es zu gefährlich sein, um es umzusetzen, steht bestimmt unter keinem guten Stern. Zumal die Baukosten des Stuttgarter Tiefbau-Bahnhofs das Budget um Milliarden überschritten haben und es mittlerweile mehr Gegner als Fürsprecher gibt. Mittlerweile wird bereits öffentlich gewarnt, dass S 21 ein Risiko für Leib und Leben der Fahrgäste darstellen könnte.
Sind Sie Vater oder Mutter und haben kleine Kinder? Sind Sie behindert und auf den Rollstuhl angewiesen? Sind Sie gebrechlich, nicht mehr schnell zu Fuß? Oder jung und gut trainiert, aber Sie haben sich beim Sport den Fuß verstaucht? Dann lesen Sie diesen Text. Es geht um Sie. Konkret geht es um Stuttgart 21, dieses Mega-Tiefbahnhofsprojekt in der badenwürttembergischen Landeshauptstadt, das unendlich teuer wird. Schlimmer noch: Es wird gefährlich. Das ist der eindeutige Befund nach Gesprächen über das neue, Ende März vorgelegte Brandschutzkonzept zu S 21 mit gut einem Dutzend Fachleuten, mit Ingenieuren, Feuerwehrmännern, mit Spezialisten für Rauchentwicklung in Tunneln und Fluchtwegen. Manche wollen ihre Namen in dieser Geschichte nicht sehen, weil die Bahn ein mächtiger Auftraggeber Ist, aber ihr Urteil ist eindeutig: „Es ist Wahnsinn, was die da machen!“ Einer sagte: „Es ist ein Staatsverbrechen, was hier geschieht.“ Hans-Joachim Keim sagte das. Er ist ein international renommierter Brandschutzexperte, der gerufen wird, wenn passiert ist, was eigentlich nie hätte geschehen dürfen — etwa die Tunnelkatastrophe von Kaprun, bei der 155 Menschen ums Leben kamen. Keim hat das Brandschutzkonzept anaIysiert: „Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Im Unglücksfall haben Sie die Wahl: Will ich ersticken? Oder zerquetscht werden? Oder verbrennen?“ Dieses neue Brandschutzkonzept, meint hingegen S 21-ChefManfred Leger, sei „ein großer Gewinn für die Sicherheit und die Ästhetik“. S 21, das sagen die Verantwortlichen bei der Bahn und der Politik noch immer, sei ein sehr sinnvolles und überaus wichtiges Werk. Kanzlerin Angela Merkel machte S 21 sogar zur Chefinnensache, als sie im Herbst 2010 vor dem Bundestag erklärte, dass sich an S21 „die Zukunftsfähigkeit Deutschlands“ entscheide.
„Zukunftsfähigkeit? Es ist menschenverachtend, was die da machen“, sagt Keim. Man trifft den Brandschutzexperten an einem heißen Frühsommertag in seinem Stuttgarter Ingenieurbüro. Vom Balkon aus hat er einen unverstellten Blick auf die riesige S21-Baustelle mitten in der City. Keim ist ein nachdenklicher Mensch, einer, der gründlich analysiert, bevor er sich äußert. Vor ihm liegt das S -Dossier (übrigens der 18. Versuch der Bahn, die Dinge in Stuttgarts Untergrund in den Griff zu bekommen), und Keim hat sehr viele Passagen darin unterstrichen, und es bricht nun in Ausrufesätzen aus ihm heraus: „Wenn ich das lese, bebe ich! Es ist ein Staatsverbrechen.“ „Meinen Sie das im Ernst, Herr Keim? Staatsverbrechen?“ „Ich wäre froh, wenn ich übertreiben würde, das tue ich aber nicht. Schreiben Sie: Staatsverbrechen! Für Leute, die so etwas planen, habe ich kein Verständnis. Sie haben kein Gefühl für Paniksituationen, sie können sich nicht vorstellen, wie man unter Stress und Angst reagiert.“ „Was halten Sie denn für besonders gefährlich ? „Wo soll ich bloß anfangen?“ „Zum Beispiel bei den Tunneln.“ „Die sind unterdimensioniert, ziemlich eng und oft recht steil. Im Brandfall breitet sich Rauch daher besonders schnell aus. Außerdem gibt es in den Tunneln viele Engstellen. Die Fluchtwege sind an diesen Stellen gerade mal 90 Zentimeter breit. Ein Fluchtweg ist aber nur so gut wie an der engsten Stelle. Wie wollen Sie da mit einem Rollstuhl durchkommen? Es wird dort Staus geben. Sie werden zerquetscht.“ „Die Bahn sagt: Was wir hier machen, entspricht den Normen, wir erfüllen die Sicherheitsstandards!“ „Ja, ja, ich weiß, dass die das sagen – Aber bei diesem Bau bewegt sich sicherheitstechnisch vieles unverantwortbar am untersten Rand des Erlaubten. Manches wurde ja auch nur durch Sondergenehmigungen möglich — und noch unter das Vertretbare gedrückt! Es ist bizarr.“ „Die Bahn weist das zurück. Alles sei genehmigt, alles sei durch Gutachten abgesichert. Immer wieder hat sie außerdem auf Kritik reagiert und Dinge nachgebessert. Deshalb sind beispielsweise nun in den Tunneln Löschleitungen vorgesehen, die ständig mit Wassergefüllt sind, also schnell einsatzbereit sind. „Züge mit Wasser löschen zu wollen, das ist schlichtweg irre. Im Unglücksfall läuft Öl aus, heißes Öl. Wenn das mit Wasser in Berührung kommt — gute Nacht! Außerdem: Die modernen ICE-Loks sind rollende Chemiefabriken, wissen das die S21Macher nicht? Wenn die hochkomplexen Triebköpfe mit ihren Transformatorenölen, Dichtstoffen im Brandfall mit Wasser besprüht werden, entsteht ein unheimlicher Cocktail: unter anderem Senfgas, Phosgen, Blausäure.“ „Was Sie hier sagen — das übersteigt meine Vorstellungskraft.“ „Ich verstehe ja auch nicht, warum ein Staatsunternehmen so agiert. Die obersten Maximen unseres Staates, grundgesetzlich garantiert, sind: Schutz von Gesundheit und Leben. Dagegen wird aber bei S 21 prinzipiell verstoßen! Die Belüftungsmaschinen, die sie jetzt im Tiefbahnhof zur Entrauchung einbauen, erzeugen im Brandfall einen Kamineffektwie der Schmied in der Esse! Sie blasen riesige Mengen Sauerstoff ins Feuer, sodass selbst ein kleiner Brand blitzschnell ein richtiger, ein hochenergetischer Brandwird, das hat dann ganz rasch 1000 Grad! Stellen Sie sich mal vor, da fliehen Tausende. Wohin?“ „In die Sicherheit, hoffe ich.“ „Ins Verderben! Die Fluchtwege führen nach oben — genau dahin, wo Rauch, Gase am schnellsten hingehen! S21 hat das Potenzial, Europas größtes Krematorium zu werden.“ „Nochmals: Die Bahn erklärt, sie habe die Sache im Griff. Gerade, dieses Entrauchungskonzept‘ gewährleiste eine sichere Entfluchtung.
„Die Bahn geht nur von kleinen Bränden oder Unfällen aus, das zeigen ihre Simulationen. Aber: Man muss immer vom schlimmsten anzunehmenden Unfall ausgehen. Loks können brennen. Ein Verrückter kann in der Rushhour , Allahu Akbar!‘ schreien, wild rumfuchteln, und schon ist die totale Panik da. Und an den Engstellen auf den Bahnsteigen, neben den Treppenaufgängen, spätestens bei den viel zu eng konzipierten Fluchttreppen werden sie sich gegenseitig zerdrücken — wie bei der Love-Parade! „Reden wir, Herr Keim, eigentlich vom gleichen Bahnhof? S21-ChefManfred Leger ist sehr glücklich über das, was er da macht: ,Keine Frage‘, sagt er, ,wir bauen einen Bahnhof, auf den die Welt blicken und auf den Stuttgart stolz sein wird.'“ „Er hat recht: Die Welt wird auf Stuttgart schauen — bei einem Unglück.“
Es klingt zynisch, was der Brandschutzexperte Keim sagt. Aber wer das 33-seitige Dossier durchliest, ist erstaunt über den Ton: Lakonisch wischt die oberste Prüfbehörde der Bahn, das Eisenbahn-Bundesamt (EBA), grundlegende Sicherheitsanforderungen zur Seite. Da heißt es beispielsweise einfach, dass „die erforderliche Fluchtweg-Mindestbreitevon1,20 Meter für Tunnelunterschritten werden muss“. Dass „vereinzelt keine Fluchtwege angeordnet werden können. Dass die „seitens mehrerer Behindertenverbände geäußerten Bedenken und Forderungen hinsichtlich der Fluchtwege und Fluchtwegbreiten (…) zurückzuweisen“ sind. Behindertenverbände hatten unter anderem moniert, dass es in dem Tiefbahnhofkeine barrierefreien Fluchtwege geben wird. Dazu heißt es nun in dem Dossier: „Eine Selbstrettung von rollstuhlgebundenen Personen (…) ist ohne die Unterstützung von Mitreisenden oder Zugpersonal ohnehin nicht möglich.“
Menschen, die in Panik sind, sollen also die Gelassenheit und Empathie aufbringen, Menschen in Rollstühlen, die sie vielleicht gar nicht kennen, auf den Rücken zu nehmen, um sie in Sicherheit zu schleppen? Werden sie das tun? Plötzlich klingt Keims Zynismus gar nicht mehr zynisch. Keim hat viele Brandunfälle analysiert, aber hier in Stuttgart, sagt er, „kulminiert der Wahnsinn“. Er sieht nur zwei Möglichkeiten für die Realisierung von S21: Wenn es gebaut wird wie geplant, „dann gibt es Sicherheit nur, wenn möglichst wenige Züge mit nur wenigen Reisenden in den Bahnhof fahren“.
Weit über acht Milliarden Euro für einen Bahnhof, den man nicht richtig nutzen kann? Wenn man ihn aber richtig, also mit voller Auslastung und vollen Zügen benützen möchte, müsste man ihn, meint Keim, auf die heute üblichen Sicherheitsstandards bringen: „Das heißt, man müsste ihn fundamental umplanen.“ Die Kosten würden explodieren. Keim schätzt: „auf gut 20 Milliarden Euro“.
Nicht nur Keim, auch die Stuttgarter Feuerwehr und das Regierungspräsidium Stuttgart, das geht aus dem aktuellen Dossier hervor, sehen das Ganze kritisch. Man spürt, sie würden es gern ablehnen, aber das wagen sie nicht. Weil da dieser politische Druck der Kanzlerin ist? Die Staatsräson? Fragen, die niemand beantwortet, auch diesmal nicht.
Eine andere, eine ungelöste Grundfrage: Wie viele Menschen müssen im Unglücksfall gerettet werden? Die Bahn sagt: 4041 Personen aus zwei Zügen pro Bahnsteig. Und die ließen sich, sagt die Bahn, rechtzeitig in Sicherheit bringen — das hätten ihre Simulationen gezeigt und Gutachter bestätigt. Aber: Die Bahn wird, so ist es geplant, auf einem Gleis oft zwei Züge halten lassen, also insgesamt vier Züge pro Bahnsteig — anders ließe sich der Verkehr auch gar nicht bewältigen. Dann sind fast doppelt—o so viele Menschen zu retten. Und das dauert, weil viel mehr Personen an den Engstellen eingezwängt werden, mehr als doppelt so lang. Für diese alltägliche Situation gibt es merkwürdigerweise keine Simulationen. Sie gibt es nicht, sagt Christoph Engelhardt, „weil sie allen offenbaren würden, – dass der Bahnhof aus Sicherheitsgründen nicht gebaut werden darf“. Engelhardt, promovierter Physiker, ehemals Analyst bei Siemens, ist einer der besten Kenner von S 21. Seit 2010 quält er Bahn und Politik mit seinem Wissen. Er ist in Archive gegangen, hat sämtliche Dokumente, Gerichtsurteile, Gutachten, Analysen zu S 21 ausgewertet, ein kühler Analytiker, der alles akribisch seziert wie ein Naturwissenschaftler Organismen. Seine Untersuchungen werfen ungewöhnlich viele Fragen nach der Sicherheit der Reisenden bei S 21 auf: Alle 500 Meter wird es in den Tunneln in Stuttgarts Untergrund Rettungsstollen — sogenannte Querschläge — geben. Im Ausland wird fürsorglicher gebaut: Im spanisch-französischen Perthus-Tunnel gibt es alle 200 Meter Querschläge, im spanischen Guadarrama-Tunnel alle 250 Meter, im Gotthard-Basistunnel alle 325 Meter. Engelhardt: „Die S21-Tunnel sind die gefährlichsten Tunnelneubauten Europas.“
Ende April konfrontierte man das Stuttgarter Regierungspräsidium, die Stuttgarter Feuerwehr und die amtliche Prüfbehörde der Bahn, das EBA, in einem umfangreichen Fragenkatalog mit all den Unzulänglichkeiten und Widersprüchlichkeiten. Das EBA reagierte schnell, aber bockig. Es beantwortete keine einzige Frage, erklärte nur begründungslos, die Bahn habe nun das Baurecht. Außerdem schickte die Behörde noch einen Link zum neuen Brandschutzkonzept — also zu jenem Dokument, das so viele Fragen aufwirft und Anlass für diesen Artikel ist. Das Regierungspräsidium teilte mit, man kommentiere „keine Entscheidungen anderer Behörden“. Und auch die Feuerwehr meldete sich: Sie habe „keine brandschutztechnischen Bedenken, die eine grundsätzliche Umsetzbarkeit und Machbarkeit infrage stellen würden“.
S 21 wird wohl ein Hochrisikobahnhof für alle Reisenden
Erinnern wir uns: „Das neue Herz Europas“ sollte Stuttgart dank S 21 mal werden, ein Musterbeispiel deutscher Ingenieurskunst. „Das am besten geplante Projekt“, wie es unter dem ehemaligen Bahnchef Rüdiger Grube hieß. In seiner Zeit als Bahnchef hat er sich vehement für das Projekt eingesetzt. Jetzt ist Grube nicht mehr Bahnchef. Jetzt ist er Berater für die Firma Herrenknecht. Die bohrt mit ihren Maschinen das gigantische Tunnelsystem für S 21 und die Neubaustrecke nach Ulm, alles in allem gut 90 Kilometer Tunnel — und verdient damit noch sehr viele Jahre lang sehr viel Geld.
Nun gibt es einen neuen Bahnchef, Richard Lutz heißt er, und an seinem ersten Arbeitstag vor gut einem Jahr erklärte Lutz, er sei „finster entschlossen“, S 21 fertig zu bauen. Finster entschlossen. Warum macht man weiter? Baut man weiter, weil man damit angefangen hat? Baut man weiter, weil man nicht zugeben will: Ja, wir haben einen fatalen Fehler gemacht? Oder baut man weiter, weil es den Verantwortlichen in Stuttgart und Berlin für diese Tat an Moral, Anstand, Einsicht mangelt? Noch ist Zeit zur Umkehr. Die Bahn sagt allerdings: „Nein!“ Ein Baustopp, behauptet sie, würde sieben Milliarden Euro kosten. Kritiker halten diese Zahl, die noch nie durch etwas belegt worden ist, für frei erfunden und bewerten sie als Einschüchterung. Aber ist das Weitermachen sinnvoll? Es ist sinnvoll: für die Ingenieure und die am Bau beteiligten Firmen.
Stuttgart 21 ist eine Art Schloss Versailles, es darf kosten, was es will, und der Staat kommt dafür auf.
Aber das muss nicht so bleiben. Wer kreativ denkt, findet auch Lösungen für die schon angebohrten Tunnel. In Stuttgart gibt es dazu konstruktive Pläne von Ingenieuren und Verkehrsexperten — man könnte Milliarden sparen. Aus einem Teil der Baugrube könnte man einen Busbahnhof machen, ein Parkhaus für Fahrräder ließe sich schaffen, den zerstörten Schlossgarten könnte man schnell wieder begrünen, einige der Tunnel könnte man als Lkw-Trassen zur Versorgung von Läden nutzen. Diese Pläne zu prüfen, wenn möglich zu realisieren — das wäre die Chance, die bleibt. Denn das ist es, was die Politik braucht: Fehler einsehen, Fehler eingestehen, aus Fehlern lernen. Es wäre ungewöhnlich. Es wäre kühn. Es wäre — zukunftsfähig.