München. Über ihn gab es schon eine Menge Schlagzeilen: Gute und weniger gute. Denn der Mann hat Ecken und Kanten und muss einen Großkonzern durch die tosende See aus Börsengeschäft und technologischer Weiterentwicklung lotsen. Joe Kaeser ist der Name des Kapitäns, der sich dieser Herausforderung stellten muss. Mit einer neuen Strategie „Vision 2020+“, die nicht überall auf Zustimmung stößt, will er nun den Großkonzern mit seinen vier Geschäftsfeldern Energie, Medizintechnik, Industrie und städtische Infrastruktur auf einen neuen Kurs bringen. Eine Mammutaufgabe, der nicht jeder gewachsen ist.
Neulich, im Ballsaal des „Grand Hyatt“ mitten in New York, gab Joe Kaeser (60) dem versammelten Investorenpublikum einen kleinen Einblick in seinen „Operationssaal“, wie er es nannte. Das künftige Siemens solle nicht mehr über „110 000 Rundschreiben“ für jedes einzelne Geschäft gesteuert werden. Stattdessen wolle er mit seiner neuen Strategie „Vision2020+“ ein Umfeld kreieren, in dem die Businessunits des Industriemultis flink wie Spezialisten agieren und damit so gut wie der Wettbewerb seien, erklärte der Konzernchef. „Vorzugsweise besser.“ Klingt super, doch schon der Start der Zukunft ist verzögert. Anfang August will Kaeser seinen Plan endlich präsentieren, drei Monate später, als ursprünglich avisiert. Erst musste der Personalvorstand Janina Kugel (48) den Streit mit den Betriebsräten und Gewerkschaftern um den Stellenabbau im kriselnden Kraftwerksgeschäft beilegen. Denn ohne die Mithilfe der Arbeitnehmervertreter wird die neue Strategie nicht gelingen. Dann aber soll es Schlag auf Schlag gehen. Schon zum 1. Oktober will Kaeser seinen als „Flottenverbund“ firmierenden Konzern wieder komplett umbauen: aus fünf Divisionen, die nach dem Zuwasserlassen der Boote Wind (Fusion mit Gamesa), Züge (Fusion mit Alstom) und Medizintechnik (Börsengang) im Konzern verblieben sind, sollen nach Zusammenlegung drei werden.
Die mit Abstand wertvollste Sparte „Digitale Fabrik“, ohne die weite Teil der Autoindustrie noch im prädigitalen Zeitalter fertigen würden, soll mit der Automatisierung von Prozessindustrien (Chemie, Zement) wiedervereint werden. Siemens-Veteranen kennen diese Struktur noch unter dem Label „Automation & Drives“, sie wurde erst 2008 auseinanderdividiert. Das „Energy Management“ dagegen will Kaeser zerschlagen. Die Stromverteilnetze inklusive der hochprofitablen „intelligenten“ Netze werden mit der prosperierenden Gebäudetechnik zusammengeführt, die Hochspannungsnetze (über Land) mit der fossilen Kraftwerkstechnik. In Teilen kehrt Kaeser damit zur Aufstellung seines ungeliebten Vorgängers Peter Löscher (60) zurück, mit drei und später vier Sektoren, die ja er als CEO gleich nach seinem Amtsantritt 2013 zerhackte. Um die Kursfantasie für die zuletzt lustlose Aktie neu zu entfachen, der Siemens-Chef den Geschäften deutlich höhere Margenziele abverlangen. Investoren fordern, dass der Konzern bis zum Geschäftsjahr 2020, mit dem sich Kaeser verabschiedet, 13 bis 14 Prozent operative Marge schafft. Für das laufende Jahr sind 11 bis 12 Prozent angepeilt.
Hatte Kaeser nach seinem Aufstieg an die Konzernspitze zunächst stark zentralisiert und das Headquarter aufgebläht, sollen viele der Funktionen nun wieder in die operativen Geschäfte wandern. Eine Milliarde Euro Einsparungen seien dabei mindestens drin, glauben Analysten. In der Zentrale am Wittelsbacher Platz fürchten manche Siemensianer gar eine Halbierung der 1200 Stellen. Weitere Abspaltungen soll es zunächst nicht geben, auch auf einen Umbau zur Holding verzichtet Kaeser, nachdem er Widerstand gespürt hatte. „Die Diskussion darüber ist nach der Kontroverse vor einem Jahr komplett verstummt, auch intern“, berichtet ein Aufsichtsrat. Wo also bleibt Kaesers großer strategischer Wurf, den er vor Investoren immer mal wieder angedeutet hat? Die fossilen Turbinen, präzisierte er im Ballsaal des „Hyatt“ frühere Aussagen, „sind für mich nicht die Zukunft von Siemens“. Laut Konzerninsidern hofft er, bis Dezember ein Joint Venture für die Großkraftwerke präsentieren zu können. Als möglicher Partner gilt Mitsubishi Heavy Industries aus Japan.
Die zuständige Vorständin Lisa Davis (54) dürfte dies kaum stören, sie wird ihren im August 2019 auslaufenden Vertrag voraussichtlich nicht verlängern. Ihr Ehemann ging voriges Jahr in Pension, und die Amerikanerin mit Dienstsitz im texanischen Houston habe die Reiserei zu den Kunden überall in der Welt und zu den vielen Sitzungen nach München unterschätzt, sagen Kollegen. So mancher glaubt, sie wollte nie länger als fünf Jahre bleiben. In ihrem Vorstandsvertrag hatte sie sich ausbedungen, dass sie bei einer Nichtverlängerung von ihrer Seite alle Aktienoptionen behalten darf — ein Novum bei Siemens. Der Schmerz über Davis‘ bevorstehenden Abschied hält sich indes in Grenzen. Zu den Arbeitnehmern fand sie nie einen Draht, blieb bei den Verhandlungen über die zunächst geplanten (und inzwischen revidierten) Werksschließungen komplett außen vor. Der Iangjährigen Ölmanagerin fehlt es bis heute an Verständnis für das schwierige Kraftwerksgeschäft. Und bei der Auswahl ihrer Manager bewies sie oft kein glückliches Händchen. Selbst wenn es Kaeser gelingt, auch das Kraftwerksboot separat zu Wasser zu lassen — der Flottenverbund ist für ihn nur ein Übergangskonstrukt. In fünf Jahren, eröffnete er den Investoren in New York, „könnten die Boote so gut sein, dass sie alleine überleben“. Dann könnte es nur noch das industrielle Siemens mit Fokus auf Fabrik und Gebäudeautomation geben und die Siemens Healthineers: Aus fünf mach zwei. Kaeser selbst wird dann nicht mehr CEO sein. Aber im Aufsichtsrat werden ja ständig Stellen frei.