Hamburg. Das wird Fluggesellschaften nicht freuen, die sich oft um Entschädigungen von Fluggästen herumdrücken konnten, weil diese eine Rechtsberatung aus Kostengründen oft vermieden haben. Aber das soll jetzt mit den sogenannten Legal-Tech-Anbietern, den kostenlosen Rechtsdienstleistungen, anders werden. Denn wo kein Anwaltshonorar aufgerufen wird, da gibt voraussichtlich eine Menge Flugreisende, die gegen massive Flugverspätungen vorgehen und dieses neue digitale Angebot nutzen werden.
Hat ein Flug Verspätung, können betroffene Passagiere auf verbraucherfreundliche Gerichtsurteile vertrauen. Kürzlich hat der Europäische Gerichtshof erneut die Rechte von Fluggästen gestärkt. Dabei ging es um Flugverspätungen, die bei Umsteigeflügen innerhalb der EU mit verschiedenen Airlines auftraten. Kunden können Ausgleichszahlungen wegen Flugverspätung wahlweise an ihrem Abflugs- oder Ankunftsort geltend machen, wenn die Fluggesellschaft, die diese Verspätung verursachte, ihren Sitz in der EU hat, urteilten die Richter (Az. C-274/16). In der Vergangenheit hatten solche Einzelfallentscheidungen Airlines finanziell kaum belastet. Die meisten betroffenen Passagiere setzten ihre Entschädigungsansprüche nicht durch, weil sie entweder ihre Ansprüche gar nicht kennen oder den Zeitaufwand und die vorzuschießenden Gerichtskosten scheuen.
Auf dieser Bequemlichkeit und der Angst vor rechtlichen Unwägbarkeiten baut das Geschäftsmodell sogenannter Legal-Tech-Unternehmen auf: Sie reichen Beschwerdeschreiben und Klagen im Namen der betroffenen Kunden ein, die dafür kein Kostenrisiko tragen müssen. Nur wenn die Verfahren zu deren Gunsten ausgehen, was in der Regel mehrere Monate dauert, kassieren die Anbieter eine Provision — meist 25 Prozent der später durchgesetzten Entschädigungssumme.
Mit ein paar Klicks können Kunden ihre Ansprüche kostenlos prüfen lassen. Danach werden Klageschrift oder Beschwerdeschreiben digital erstellt und automatisch an den jeweiligen Sachverhalt angepasst. Damit sich das für Legal Techs rechnet, konzentrierten sie sich in der Vergangenheit auf Streitfälle, die in der Rechtsprechung überschaubar und gefestigt sind. Hat ein Flugzeug beispielsweise innerhalb der EU ohne „höhere Gewalt“ bis zu drei Stunden Verspätung, stehen jedem Passagier bei Flugstrecken bis zu 1500 Kilometern nach der EU-Fluggastverordnung 250 Euro Entschädigung zu. Ab drei Stunden Flugverspätung stehen ihnen sogar bis zu 600 Euro als Ersatzleistung zu.
Pionier bei der Durchsetzung der EU-weit einheitlichen Fluggastrechte war Flightright. Der Anbieter verfügt über eine Datenbank, die nahezu jede Flugverspätung erfasst — unabhängig davon, ob Tücken der Technik, schlechtes Flugwetter oder verspätete Catering-Lieferanten für diese verantwortlich sind. Die automatisierten Abläufe ermöglichen es Legal Techs, mit wenig Personal eine Vielzahl von Fällen zu bearbeiten. Flightright führt im Namen von Passagieren aktuell europaweit rund 10000 Verfahren wegen Flugverspätungen. Dabei droht der Marktführer Opfer des eigenen Erfolgs zu werden. Im Bereich Fluggastrechte haben sich inzwischen viele weitere Legal Techs gegründet, die sich gegenseitig bei den Provisionen unterbieten. Firmen wie EU-claim, Fairplane, Refund.me oder Airhelp stehen bei der Rechtewahrnehmung für betroffene Fluggäste mit Flightright in einem harten Wettbewerb.
Sofort Geld für betroffene Kunden
Alternativ wird den Verbrauchern auch eine Sofortentschädigung geboten: Ist die Rechtslage eindeutig, bekommen die Nutzer sofort ihr Geld. Für das „schnelle Geld“ müssen Passagiere jedoch 40 bis 45 Prozent der Entschädigungssumme als Provision akzeptieren. Die Aufträge, die ohne Richter zum Abschluss gebracht werden, bearbeiten bei Flightright rund 100 juristische Mitarbeiter. Die Masse an Verfahren scheint die Fluggesellschaften zunehmend zu beeindrucken. „Früher musste fast jeder Fall vor Gericht“, sagt Flightright-Geschäftsführer Sebastian Legler. „Die Airlines wollten die Legal Techs offensichtlich mit dieser Taktik zermürben.“ Mittlerweile zahlten die Fluggesellschaften die Entschädigung oft ohne Klageeinreichung aus. So sparen sie sich die Zivilprozesskosten, die in Deutschland die unterlegene Streitpartei vollumfänglich zu tragen hat. Geht ein Fall vor Gericht, kooperieren die Rechtsportale mit Anwälten.
Zu beachten ist: Damit Legal Techs im Auftrag ihrer Kunden rechtliche Schritte einlegen dürfen, muss ein zugelassener Rechtsanwalt die Firma betreiben. Alternativ können Portale mit einer Genehmigung nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz betrieben werden. Marktführer Flightright agiert zum Beispiel gewerbsmäßig als „Inkasso-Unternehmen“.
Rosige Zukunft für Digitaldienste?
„Legal Techs werden 80 Prozent der Anwaltsarbeit überflüssig machen — alles, was standardisierbar ist“, meint Jan-Eike Andresen, Inhaber des Dienstleisters myRight. „Viele Dienstleistungen, die sich Rechtsanwälte derzeit noch teuer bezahlen lassen, wird es künftig deutlich billiger geben — oder sogar umsonst.“ Künftig könnten Legal Techs für Klienten auch Kündigungsschutzklagen oder einvernehmliche Scheidungen abwickeln. Voraussetzung dafür ist immer, dass man die auftretenden Rechtsfragen mittels Software auch in Algorithmen abbilden kann. Klassische Rechtsanwälte werden sich in Zukunft auf Fälle, die von der Norm abweichen, und komplexe Sachverhalte konzentrieren müssen. Auch für individuelle Prozessführungsstrategien bleiben sie unentbehrlich. Für die Mandanten muss diese Entwicklung kein Nachteil sein. Künftig dürfte es für viele Verbraucher einfacher und günstiger werden, Rechtsansprüche aller Art ohne großen Zeitaufwand und hohes Prozesskostenrisiko durchzusetzen.