Köln. Im Bereich Herz-Kreislauf ist der Forschungsbedarf nach wie vor riesig groß, denn Herz-Kreislauferkrankungen als Todesursache rangieren in Deutschland unter den Top 3 der am häufigsten vorkommenden Todesfälle. Dafür wird eine Menge geforscht, um diese Zahlen einzudämmen. Das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung ist dabei Vorreiter und erzielt immer wieder bahnbrechende Ergebnisse. Im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt wurden jetzt Aufsehen erregende Erkenntnisse bei Experimenten in Höhenluft gewonnen, die Rückschlüsse auf Entwicklung von Herzmuskelzellen zulassen.
Die außergewöhnlichste Expedition des besten deutschen Höhenbergsteigers führt ihn auf 53 Meter Meereshöhe. Durch einen unterirdischen, grellgelb gestrichenen Tunnel geht es in ein zweigeschossiges Gebäude, weiß und fensterlos. Ein futuristischer Zweckbau, ein Hightechtempel, das DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin am Kölner Flughafen. Ralf Dujmovits ist soeben dem Kernspintomografen entstiegen, der sein Gehirn vermessen hat. Unter Beobachtung eines Wissenschaftlers hat er einen Wachheitstest absolviert, danach einen weiteren Kernspin seiner Muskulatur. Nun tritt der 56-jährige Athlet ein in das hermetisch geschlossene Atmosphärenmodul M2. Eine Warnleuchte an der Schleuse blinkt rot, „Experiment läuft“. Ein gelbes Schild warnt: „M2 nur mit Sauerstoffmasken und zu zweit betreten.“ Das Gebot gilt jedoch nicht für Ralf Dujmovits und seine Lebensgefährtin, die kanadische Profi-Bergsteigerin Nancy Hansen. Als bislang einziger Deutscher hat Dujmovits auf den Gipfeln aller 14 Achttausendergestanden, auf13 davon ohne künstlichen Sauerstoff aus der Flasche. Nun sollen er und seine Partnerin fünf Wochen auf gut100 Quadratmetern verbringen, die letzten beiden bei acht Prozent Sauerstoffgehalt in der Raumluft. Für ihr Atmungssystem entspricht das einer Höhe von 7112 Metern.
Einem durchschnittlichen Erwachsenen genügt so eine geringe Sauerstoffmenge nicht. Doch eine Untersuchung der Universität Texas an Mäusen hat Indizien dafür geliefert, dass der Mangel womöglich schwer geschädigte Herzmuskelzellen regenerieren kann. Für Infarktpatienten bringt das große Hoffnungen, für die Wissenschaftler um den Professor Jens Tank ist es ein faszinierender Forschungsgegenstand. Denn normalerweise teilen sich im menschlichen Organismus nach der Geburt Herzmuskelzellen nicht mehr. Ließe sich zeigen, dass man diese Weichenstellung rückgängig machen kann, wäre das ein überraschender Paradigmenwechsel. Darauf hofft man hier, an einem ganz besonderen Ort. Im Forschungsgebäude des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt wird Alexander Gerst, der deutsche Mann im All, der in Kürze das Kommando über die Raumstation ISS übernimmt, nach seiner Landung von Umwelteinflüssen abgeschirmt. Intensive Untersuchungen sind für ihn inklusive — und das ist auch beim Bergsteigerprojekt so. Immer zwei Spezialisten aus dem Team, das Jens Tank gemeinsam mit dem Anästhesisten Ulrich Limper leitet, blicken auf fünf Kontrollmonitore. Beobachten die Probanden, die jetzt das Modul abschreiten, das für 35 Tage ihre Heimstatt sein soll. Es gibt ein Schlafzimmer, ein Bad, ein Wohnzimmer — und auf Wunsch der beiden Extremsportler auch ein Ergometer, eine auf Knopfdruck rotierende Kletterwand und ein Laufband. Bilder vom Bergsteigen schmücken die Wände, die Eingeschlossenen sollen sich ja wohlfühlen; Digitalanzeigenverraten ihnen das aktuelle Sauerstoffangebot. „Früher verabreichten Ärzte dem Patienten bei Herzinfarkt zur Erstversorgung eine Sauerstoffdusche“, sagt Tank. Ist sein Experiment erfolgreich, ist das ein weiterer Schritt zur gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis, dass das Gegenteil angemessen sein dürfte: Sauerstoffentzug.
Der Mediziner will nicht zu viel versprechen: „Es ist eine Pilotstudie. Ob das therapeutisch verwertbar ist, muss sich noch erweisen.“ Ursprünglich wollten die Forscher einen Probanden, der bereits einen Infarkt erlitten hatte, doch der winkte ab. Mehrere Monate haben Dujmovits und seine Partnerin überlegt, ob sie das Experiment wagen wollen. Beide kennen Menschen, die einen Herzinfarkt erlitten haben, und am Ende sagten sie zu. Dujmovits, der vier Semester Humanmedizin studiert hat, sich dann aber entschloss, das Klettern zum Beruf zu machen, sagt: „Auf die Berge steigt ja jeder nur für sich selbst. Aber eigentlich ist es vollkommen sinnlos. Dass ich mit meiner Erfahrung im Höhenbergsteigen dazu beitragen kann, neue Therapieformen zu entwickeln, macht mich sehr zufrieden.“ Dujmovits war oft genug im Himalaya. Er weiß, wie sich die jeweilige Höhe anfühlt. Vor allem hat er oft gespürt, wie stark sich dort oben bereits 100 Meter Anstieg bemerkbar machen. In den Schweizer Bergen haben er und Nancy Hansen sich für das Experiment akklimatisiert. Zwei Nächte verbrachten sie auf rund 4500 Metern und genossen Tiefschneeabfahrten unter blauem Himmel im Sonnenschein. Jetzt, in ihrem Modul, werden sie unter Neonlicht leben, in einer Luft, die künstlich mit Stickstoffangereichert wird. Zu Beginn des Experiments entspricht der Sauerstoffanteil noch einer Höhe von knapp 3500 Metern. Jeden Tag sinkt er danach durch die Beimischung von Stick- Stoff. Ebenfalls täglich wird der 20 Meter hohe Gastank vor dem Modul frisch aufgefüllt. Von vereisten Kühlrippen steigt dort Dampfauf, die Ausdehnung des komprimierten Stickstoffs setzt enorme Kälte frei. Sie bleibt den Probanden, ebenso wie Schnee, Eis und Sturm, auf dieser Expedition erspart. Dafür häufen sich ihre Untersuchungen: EKG, Ultraschall, Urinproben.
Das Blut, das ihnen abgenommen wird, ist von Tag zu Tag dickflüssiger. Aus ihm ziehen Spezialisten DNA-Proben. Die Kontrollen sollen beispielsweise zeigen, ob der Körper sein Erbgut noch reparieren kann. Konzentrations- und Reaktionstests prüfen die geistige Fitness; Ärzte fragen die Probanden immer wieder stur nach ihren Namen, lassen sie auf einer Linie laufen wie beim Trinkertest, um zu schauen, ob sie noch geradeaus gehen können. Radiologische Aufnahmen der Alpinisten-Hirne werden zu Spezialisten der Luftwaffe nach Fürstenfeldbruck geschickt, Kernspinaufnahmen des Herzens mit Medizinern in den USA und an der Charité in Berlin ausgewertet. Wer sich zum Hausbesuch bei Ralf Dujmovits und Nancy Hansen im Modul anmeldet, muss einen ausgiebigen Gesundheitstest bestehen und eine Unterweisung im Gebrauch der Atemmasken absolvieren. „Herzlich willkommen, hereinspaziert“, sagt Nancy Hansen und bittet ins Wohnzimmer. Es ist der20.Tag des Experiments, der Sauerstoffgehalt der Luft entspricht einer Höhe von rund 7000 Metern. Die beiden tragen leichte Daunenjacken, obwohl es 25 Grad warm ist. Seit Tagen liegen ihre Sportschuhe unbenutzt neben der Kletterwand, beiden geht jetzt rasch die Puste aus, doch Dujmovits hat wesentlich weniger Probleme als Hansen, die erst einmal zuvor auf 7000 Meter Höhe war.
Die Athleten führen Tagebuch, „schlechte Nacht“, steht dort etwa, von Nancy notiert. Die schlimmste war vor vier Tagen, Atemnot riss sie aus dem Schlaf. Kopfschmerzen quälten sie. Die Kohlendioxidwerte in ihrem Blutwaren erhöht, der Urin erwies sich als zu sauer, sie entwickelte einen zu hohen Druck in der Arterie vom Herzen zur Lunge. Es war zeitweilig nicht sicher, ob sie durchhalten würde. „Nancy ist ein Glücksfall für die Forscher“, sagte Ralf Dujmovits „viel spannender als ich.“ An diesem Tag verlässt er zum ersten Mal seitknapp drei Wochen das Modul für einen Kernspin. Über eine Maske atmet er weiter dünne Luft, trotz Maske und Mangelversorgung schafft es Dujmovits 20-mal, für jeweils 20 Sekunden die Luft anzuhalten, damit die Aufnahmen nicht verwackeln. Die Herzwand ist dicker geworden, aber sie hat sich nicht verformt. Das Herz des Bergsteigers wird nicht größer, es hat sich sogar leicht zusammengezogen: Es quetscht sich mehr aus, wirft mehr Blut pro Schlag aus als normal. Die Forscher sind beeindruckt. Sie halten es nach erstem Augenschein für sehr wahrscheinlich, dass sich Herzmuskelzellen tatsächlich vergrößert haben. Der Muskel insgesamt erscheint dadurch gestärkt. Fabian Hoffmann, als Chief Medical Officer so etwas wie der Hausarzt des Moduls, tut alles, um die Moral hochzuhalten. Immer wieder besucht er die Probanden, schwärmt von seinen Lieblingsbüchern, zeigt Bilder von „Rock am Ring“, er bringt auch mal ein Steak oder selbstgefangene Forellen mit. Einmal hat das Kontrollzentrum ein 15-minütiges privates Telefonat mit Alexander Gerst aus dem All durchgestellt. „Von jetzt an wird es jeden Tag spannender“, sagt Forschungsleiter Limper, kurz bevor das letzte Drittel des Experiments anbricht. Von nun an gibt es keine Referenzwerte mehr, niemals wurden in solchen Extremsituationen entsprechende Messungen durchgeführt. In diesem letzten Abschnitt des Versuchs bricht Dujmovits seine eigenen Rekorde. Bislang war er nur für zwei Nächte auf rund 7000 Metern in Lager drei am K2, für zwei weitere in Lager vier gar auf 7900. Als er und Nancy Hansen Mitte Juni das Atmosphärenmodul wie geplant verlassen, haben sie fünf Wochen dünne Luft geatmet. Und die Wissenschaft möglicherweise einen großen Schritt vorangebracht. Frühestens Weihnachten liegen die Auswertungen der Messergebnisse auf dem Tisch. Dann wird Alexander Gerst nach seiner Weltraummission in das Forschungszentrum eingezogen sein. Ralf Dujmovits und Nancy Hansen sind auf ihrer nächsten Expedition, die sie noch tiefer hinunter als hier bei Köln führen wird. Sie wählen ein Basislager auf Meereshöhe — von einem Segelschiff aus wollen sie Erstbesteigungen auf der Antarktischen Halbinsel machen.