Seattle. Was jetzt an die Öffentlichkeit befördert wurde, ist mehr als ein Skandal – es zeigt wie achtlos der Onlinehändler Amazon mit zurück geschickter Ware umgeht und wie das Unternehmen jede Form von kaufmännischem Verständnis und Anstand mit Füßen tritt. Tagtäglich werden Produkte, die von den Kunden als Retoure ins Unternehmen zurückkommen, auch wenn sie unbenutzt und damit neu sind, vernichtet und geschreddert. Teilweise auch verbrannt oder eingestampft. Eine riesige Verschwendung, eine unnötige Umweltbelastung und eine Arroganz-Attitüde, für die das Unternehmen eigentlich abgestraft werden müsste. Greenpeace-Expertin Kirsten Brodde fordert sogar ein gesetzliches Verschwendungs- und Vernichtungsverbot für neuwertige und gebrauchsfähige Ware.
Der Berg aus Staubsaugern, Faxgeräten und Computern türmt sich meterhoch. Ein Bagger fährt heran, die Schaufel voll beladen mit noch mehr Elektromüll. Der Schrotthaufen ächzt und kracht, als die Baggerschaufel ihn berührt. Wasserkocher, Toaster und ein alter Spielautomat rutschen hinab. Zwischen alten Kabeln und verschmutzten Gehäusen blitzen ein Bügeleisen und ein Föhn auf. Sie wirken nagelneu, funktionstüchtig auch. In der Halle dahinter stehen Drucker und Lautsprecher noch in ihren Verkaufskartons. Und doch ist das alles nur noch Schrott. In den nächsten Stunden und Tagen werden Föhn und Toaster und selbst die Lautsprecher in ihren Verpackungen in den Recyclingmaschinen des Entsorgungskonzerns Remondis im westfälischen Lünen verschwinden. Die Geräte werden zerhäckselt und zertrümmert, um so am Ende aus den Resten zumindest die wertvollen Rohstoffe heraus zu sortieren. Warum diese einwandfreie Ware überhaupt in der Recyclinganlage landet, weiß hier vor Ort niemand genau. Allerdings komme das öfter vor, heißt es bei Remondis. Und auch den Grund dafür meinen hier viele zu kennen: das wachsende Geschäft von Onlinehändlern, allen voran von Marktführer Amazon. Für die lohnt sich der Verkauf einmal zurückgeschickter oder schon zu lange gelagerter Ware oft nicht mehr. Also wird sie zerstört. Der offensichtliche Überflussirrsinn ist Routine. Tag für Tag werden von Einzel- und Versandhändlern palettenweise neue und unbenutzte Produkte verklappt: Shorts und Shirts, Tablets und Turnschuhe, Modeschmuck, Möbel und Matratzen. Verbrannt. Gepresst. Gehäckselt. Geschreddert. Nur gespendet wird selten. Es ist eine riesige, bislang unentdeckte Wert- und Rohstoffvernichtung im Gange, getrieben von tiefpreissüchtigen Konsumenten, retournierfreudigen Internetbestellern, sich selbst überholenden Produktherstellern. Vor allem aber von Amazon. Dem größten, mächtigsten und wertvollsten Onlinehändler der westlichen Welt.
Aus dem Katalog bestellt wurde hierzulande auch schon in den Fünfzigern. Doch erst Amazon hat das Paketgeschäft auf alle Lebensbereiche und Warengruppen ausgedehnt — und die Kunden teils mit kostenlosen Lieferungen und Rücksendungen beglückt. Millionen Menschen machen davon Gebrauch. Mehr als 400 000 Spielwaren und über eine Million Modeartikel schlug Amazon in Deutschland allein bei der Prime Day getauften Rabattschlacht im vergangenen Jahr los, innerhalb weniger Stunden. Rund 15 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftete das US-Unternehmen 2017 hierzulande. Recherchen decken nun die dunkle Seite, dieses Versandimperiums auf: Interne Dokumente, Fotos und Berichte von Augenzeugen zeigen erstmals im Detail, in welchem Ausmaß Amazon und andere Handelsriesen Produkte ausrangieren und vernichten. Darunter eben nicht nur unbrauchbarer Plunder, sondern auch nagelneue Ware. Während die Europäische Union mit einem ganzen Maßnahmenpaket Plastikmüll bekämpfen will, während Aktivisten und Politiker seit Jahren die Verschwendung von Lebensmitteln anprangern, während Umweltschützer und Menschenrechtler gegen Ressourcenverschwendung, Raubbau und Rußpartikel anreden, läuft im Verborgenen seit Jahren eine systematische, gezielte und ungebremste Vernichtung aufwendig produzierter Produkte — mit verheerenden Folgen. „Unverantwortlich“ nennt Exbundesumweltminister Klaus Töpfer diese Praxis. „Ein solches Vorgehen passt einfach nicht in diese Zeit“, erklärt Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Bundesumweltministerium. Nur sieht es nach Besserung der Zustände momentan nicht aus. Im Gegenteil.
Im nordrhein-westfälischen Rheinberg steht Tim Schmidt am Rand einer Schnellstraße und deutet auf den lang gestreckten grauweißen Flachbau hinter sich. Auf dem Gebäude prangt der Schriftzug amazon.de. Jahrelang hat er hier gearbeitet. Schmidt war Betriebsrat, wechselte später zur Gewerkschaft Verdi, wo er sich bis heute um das Logistikzentrum des Versandriesen kümmert. Von hier aus verschickt Amazon an Spitzentagen bis zu 300 000 Pakete. Aber ein Teil der Ware, sagt Schmidt, verlasse das Lager nicht Richtung Kunden — sondern lande im Schrott. Handys, Tablets und andere Technikartikel seien darunter, „begehrte Ware, teure Ware“, die einfach keine Verwendung finde. Aktuelle Fotos aus dem Inneren des Logistikzentrums belegen seine Aussagen. Dutzende knallgelbe Kisten sind darauf zu erkennen, ordentlich gestapelt auf Holzpaletten und randvoll mit Spielzeug und Technik. Auf dem Boden ist der Bereich eigens mit einer roten Linie markiert. „Stellfläche Destroy Paletten“ steht auf Hinweisschildern. Ein anderes Bild zeigt mehrere wuchtige Industriepressen, die sich ebenfalls in der Lagerhalle befinden. Damit würden Produkte zerkleinert, für die Amazon keine Verwendung habe, sagt Schmidt. „Presse auf, Ware rein, Presse zu: Das ist ganz einfach.“
Ein Amazon-Sprecher will den Einsatz der Verschrottungsmaschinen nicht kommentieren. Das Unternehmen teilt lediglich mit, dass Amazon „jeden Tag an der Verbesserung von Prozessen“ arbeite, um „so wenig Produkte wie möglich entsorgen zu müssen“. Wenn Produkte „nicht verkauft, weiterverkauft oder gespendet werden können, arbeiten wir mit Aufkäufern von Restbeständen zusammen, die diese Waren weiterverwenden.“ Amazons Mitarbeiter sehen das ganz anders. „Vernichtet wird eigentlich alles, was nicht niet- und nagelfest ist“, sagt Norbert Faltin. Der Mann ist 58 Jahre alt und ehemaliger Betriebsratsvorsitzender bei Amazon in Koblenz. Er ist Mitglied der katholischen Arbeitnehmerbewegung und heute ebenfalls in Diensten von Verdi unterwegs. Faltin kennt die Gesetze der Branche. Und er weiß, dass in Koblenz gerne Saisonartikel entsorgt werden, aber auch Parfüms und Kosmetik. Der Mann mit den kurzen, mittelblonden Haaren ist einer der wenigen, die offen über die Wegwerfmaschinerie von Amazon sprechen. Auch, weil viele Angestellte wenig mitbekommen würden von den Entsorgungsmaßnahmen, sagt Faltin. Container und Pressen stünden in einem separaten Areal, „dort kommt der normale Mitarbeiter gar nicht hin“. Zudem seien spezielle Entsorgungsteams im Einsatz.
Linda Kerkhoff hat lange in einem solchen Team gearbeitet. Ihren wahren Namen mag sie nicht in der Zeitung lesen, sie hat Angst um ihren Job. Aber sie berichtet detailliert über ihre Arbeit, über die Fernseher, Beamer, Rasenmäher, Kühlschränke und Waschmaschinen, die sie täglich beseitigen musste. „Das waren neuwertige Sachen“, sagt sie. Teils mit kleinen Macken oder Schönheitsfehlern, in der Regel aber völlig funktionstüchtig. Über ein Softwaretool seien ihr die jeweiligen Produkte angezeigt worden. Intern wurde dann zwischen „Liquidation“ und „Crash“ unterschieden. Bei Liquidation sei der Müll abtransportiert worden. Bei Crash wurden die Waren auf dem Hof zerstört und landeten im Container. „Das scheppert dann richtig.“
Und es schepperte oft. Rund 13 Großgeräte wie Wasch- und Spülmaschinen habe sie pro Schicht geschrottet, Sagt Kerkhoff. Autoreifen, Tische, ganze Möbelpakete seien dabei gewesen, an manchen Tagen „bestimmt 15 Matratzen“. Sie schüttelt den Kopf: „Was für ein Irrsinn.“ Kerkhoff hat überschlagen, welche Werte in den Containern landeten: „Jeden Tag habe ich Waren im Wert von ungefähr 23 000 Euro vernichtet.“ Und fügt hinzu: „Wir waren mehrere Arbeiter“. Amazon will sich zu Zahlen- und Produktangaben nicht äußern. Elf Logistikzentren betreibt der Internetversandmarktführer hierzulande. Das Bestellvolumen steigt, wie im gesamten deutschen Onlinehandel. 53,4 Milliarden Euro wird die Branche 2018 umsetzen, erwartet der Handelsverband Deutschland (HDE), mehr als vier Mal so viel wie 2008.
Retoure als Lebenseinstellung
Doch die Deutschen ordern nicht nur nach Kräften, sie schicken auch all jene Dinge beherzt retour, die nicht passen, nicht gefallen, zu spät ankommen oder defekt sind. Wohl keine andere Nation bestellt so eifrig Produkte, die sie dann nicht behält. Logistikexperten schätzen, dass jedes Jahr mehr als 250 Millionen Pakete zurück an den Absender gehen — und der heißt oft Amazon. „Viele zurückgegebene Produkte können als neuwertig weiterverkauft werden“, teilt das Unternehmen mit und verweist auf das Amazon-Warehouse-Angebot, wo „zurückgesendete, geöffnete und kaum benutzte Produkte“ mit Preisabschlägen verkauft würden. Auch externe Anbieter könnten zurückgegebene Artikel über Amazon weiterverkaufen, so die Pressestelle.
Laut einer aktuellen Studie des EHI Retail Institute in Köln ist der Weiterverkauf allerdings keine Selbstverständlichkeit. Nur rund 70 Prozent der retournierten Artikel im Onlinehandel werden demnach direkt wieder zum Verkauf angeboten. Die Experten haben dafür 105 Onlinehändler in Deutschland, Österreich und der Schweiz befragt. Demnach verzichtet mehr als die Hälfte aller Händler, die mit Retouren kämpfen, „bei gewissen Artikeln auf die Aufbereitung, Reinigung und Reparatur“, heißt es in der Untersuchung. Bei den jeweiligen Artikeln sei dies „nicht möglich, zu aufwendig oder teilweise wirtschaftlich nicht sinnvoll“. 55 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, sie würden Retouren, die sie nicht mehr als sogenannte A-Ware aufbereiten oder anders vermarkten können, in die Entsorgung geben.
„Das ist eine enorme Ressourcenverschwendung“, konstatiert die Hamburger Greenpeace-Expertin Kirsten Brodde — und sieht vor allem Marktführer Amazon in der Pflicht, etwas zu ändern. Schließlich kommt kein anderer Versandhändler auf solche Retourenmengen wie das US-Unternehmen. Schuld daran ist ein genialer Kniff, der Amazon erst so richtig groß und mächtig werden ließ. Schon früh entschied sich das Unternehmen, seine Plattform auch für externe Händler zu öffnen, um Kunden ein breiteres Angebot offerieren zu können. So verkauft Amazon Bücher, Bügeleisen oder Bürobedarf nicht nur auf eigene Rechnung, sondern gibt externen Händlern die Möglichkeit, ihre Produkte auf dem Amazon-Marktplatz anzubieten. Oft überlassen die Händler dem Konzern über ein Programm namens „Versand durch Amazon“ die komplette Logistik. Sie senden ihre Produkte an Amazon. Der Konzern kümmert sich um alles andere, verschickt die Bestellungen an die Kunden und übernimmt auch das Verpacken und Etikettieren — gegen Gebühr. Die Entsorgung von zurückgeschickten oder nicht verkauften Produkten ist ebenfalls Teil des Service: „Sie können Ihren Lagerbestand auf Wunsch von uns entsorgen lassen“, heißt es in einer Gebührenübersicht.
Wie viele Händler davon Gebrauch machen, lässt das Unternehmen unbeantwortet. Es dürften Tausende sein. Das vermuten mehrere Insider. Denn Ware, die sich nicht rasch verkaufen lässt, wird für die externen Anbieter zum Kostenproblem. Pro Kubikmeter und Monat kassiert Amazon von ihnen Lagergebühren von 26 Euro, im Weihnachtsgeschäft zwischen Oktober und Dezember 36 Euro. Zwei Mal im Jahr überprüft der Konzern zudem, welche Artikel sich länger als ein halbes Jahr im Lager befinden, und erhebt für diese zusätzliche Langzeitlagergebühren. Ab sechs Monaten sind 500 Euro pro Kubikmeter fällig, nach einem Jahr 1000 Euro.
Kurz vor den Stichtagen am 15. Februar und 15. August setzt daher das Großreinemachen ein: Um die Langzeitgebühren zu sparen, können Händler ihre Problemprodukte per Knopfdruck entsorgen. „Pro Einheit“ berechnet Amazon dafür im Standardfall zehn Cent. Die Rücksendung an den Händler kostet dagegen 25 Cent. „Deswegen tendieren viele Verkäufer und auch Lieferanten dazu, Ware zu vernichten“, sagt eine Amazon-Mitarbeiterin aus Süddeutschland.
Aus der Mode, in den Ofen
Vor allem Modeanbieter im Internet leiden unter hohen Retourenraten. Dank niedrigen Produktionskosten ist die Aufbereitung zurückgeschickter Sweatshirts und Pullover mitunter teurer als ihre Herstellung. Hinzu kommt, dass Trends immer schneller wechsein. Billiglabels werfen in der Innenstadt und im Internet alle paar Wochen neue Kollektionen auf den Markt. Floppt eine, müssen die Regale mit Rabatten geleert werden. Oder die alte Ware wird gleich an Betreiber von Outlet-Centern und Restpostenhändler abgeschleust. Wenn die Bestände allerdings zu groß sind, oder die Angst wächst, sich mit Rotstiftaktionen das Preis- und Markenimage zu ruinieren, fackelt die Fashionzunft nicht lange und setzt auf „thermische Verwertung“ — wie das Verbrennen auf Abfall-Deutsch heißt. Klamotten werden selten recycelt, bestätigt Herwart Wilms, Geschäftsführer des Entsorgers Remondis. Der Prozess sei aufwendig, weil jeder Knopf, jeder Reißverschluss und auch verschiedene Faserarten voneinander getrennt werden müssten. Aus einer Jeans entstehe selten ein neues Kleidungsstück. Sie ende als Faser in Dämmmaterialien oder Putzlappen. „Ein Teil der Textilien wird auch thermisch verwertet“, so Wilms.
Amazon, wo inzwischen auch ganze Kleiderkollektionen zu haben sind, dokumentiert die Aussortierung akribisch. In schier endlosen Datenkolonnen, die der WirtschaftsWoche und „Frontal 21″ vorliegen, werden die Produkte fein säuberlich mit Artikelnummern und Namen aufgeführt. Als Versandmethode steht in den Tabellen „Destroy“, also der Befehl zum Zerstören. Hunderte Artikel tauchen in solchen Vernichtungslisten auf — für einen einzigen Tag, in einem einzigen Lager. Kinderturnschuhe mit bunt blinkenden LED -Lichtern sind darunter, ebenso Dutzende Paare Herrenpantoffeln und Damen Boots. Schraubendrehersets, elektrische Kaffeemühlen, Salzlampen und Bluetooth-Kopfhörer. Sie stammen meist von chinesischen Anbietern, die ihre in Asien zu Billigstpreisen produzierten Waren in Deutschland über Amazon verkaufen und versenden. Rein rechtlich ist die Vernichtung nicht zu beanstanden. Doch passt das Vorgehen in eine Zeit, in der der Überdruss am Überfluss die Debatten dominiert? Fest steht: Während die Deutschen sich seit Jahren daheim in Mülltrennung und Abfallvermeidung üben, verursacht ihre Bestellwut bei Amazon einen regelrechten Entsorgungsrausch — obschon man sich dort gerne rühmt, an einer „nachhaltigen Zukunft“ zu arbeiten.
Kein Barcode, keine Zukunft
Mitarbeiter halten von derlei Beteuerungen wenig. Häufig reiche eine schmutzige Verpackung oder ein Kratzer im Lack, damit aus Amazon-Neuware Amazon-Abfall wird, berichten sie. Immer wieder wären sie fassungslos, wenn etwa ein chromblitzender Kaffeevollautomat entsorgt werden soll. Christian Krähling kennt das Gefühl. Er arbeitet bei Amazon in Bad Hersfeld. Der Konzern verschickt von dem hessischen Städtchen aus einen Großteil seines Modesortiments. Gleich zwei Lager mit den Namen „FRA 1″ und „FRA 3″ betreibt der Onlinehändler hier, benannt nach dem nahegelegenen Frankfurter Flughafen und zusammen mehr als 24 Fußballfelder groß. FRA 3, das größere und neuere der beiden Logistikzentren, ist aufgebaut wie eine Festung. Ein mächtiger Klotz, eingezäunt und von einem Graben geschützt. Wer ihn betreten will, muss zunächst eine Brücke überqueren. Krähling steht am Rand des Grabens und deutet auf zwei große, dunkelgraue Trichter an den hellen Außenwänden des Lagers. „Da sind die Pressen“, sagt er. „Von innen werden die zu vernichtenden Artikel hineingeschüttet, dann werden sie gepresst, landen im Container und werden von der Entsorgungsfirma abgeholt.“ Der Mann arbeitet in der Qualitätskontrolle von Amazon in Bad Hersfeld, hat als Betriebsrat aber Einblick in alle Unternehmensbereiche. Wie viel genau vernichtet wird, weiß auch Krähling nicht.
Doch er kommt in Bad Hersfeld oft an einem Areal vorbei, das intern nur „Damage Land“ heißt. So liest er es auf den Schildern, die dort über Kisten mit jenen Produkten hängen, welche Amazon nicht mehr verkaufen kann oder will. „Da sind Schuhe und Klamotten drin, meistens Gürtel, Parfüm, alles, was es so an Accessoires und Kleidung gibt“, sagt Krähling. Nicht nur vermeintlich wertlose
Retourenreste oder Ausschuss von Drittanbietern, sondern auch Kleidung, mit der die IT des Versandkonzerns schlicht nichts anfangen kann. Wenn bei dem Dirndl die Schürze fehlt, würden auch Rock und Bluse vernichtet, sagt Krähling. „Oder Artikel, bei denen der Aufkleber mit den Barcodes verloren gegangen ist und die deshalb nicht mehr zugeordnet werden können.“ Für das interne Computersystem existieren Artikel ohne solche Etiketten nicht. Könnten die Mitarbeiter die Artikel nicht mehr zuordnen, würden sie entsorgt. „Verschwendung“, schimpft Krähling. Dabei gilt Amazon als der wohl fortschrittlichste Onlinehändler der Welt. Ein Technologieriese, dessen Algorithmen das Kundenverhalten rastern, um zu erahnen, was die Nutzer bestellen wollen, bevor diese überhaupt nur auf ihren Warenkorb geklickt haben. „Amazon arbeitet kontinuierlich an der Verbesserung von Nachfrageprognosen und der effektiven Verwaltung von Warenbeständen“, sagt denn auch ein Unternehmenssprecher. Externen Verkäufern würden Informationen und Prognosetools zur Verfügung gestellt.
Amazon-Allmacht und Amazon-Abfall
Doch jeder Artikel, der in die Pressen des Konzerns wandert, zeigt die Grenzen der hochgelobten Amazon-Algorithmen — und legt nahe, dass Amazon seine Kunden doch nicht so gut kennt, wie immer behauptet. Das verstehen inzwischen auch Politiker auf der ganzen Welt — und wollen Amazon und all die anderen zwingen, unverkäufliche Ware sinnvoll zu verwenden. In Frankreich etwa wird die Einführung einer Spendenpflicht für unverkaufte Kleidung diskutiert. Anbieter wie der Onlinehändler Zalando stehen dem französischen Vorstoß „positiv gegenüber“. Ein Amazon-Sprecher verweist darauf, unter anderem bereits Spielzeug, Schuhe, Kleidung und Drogerieartikel gespendet zu haben.
Tatsächlich geben auch andere Händler an, gerne mehr spenden zu wollen. Insbesondere in Deutschland fühlen sie sich aber vom Steuerrecht ausgebremst, das „eine unkomplizierte Weitergabe an gemeinnützige Zwecke erschwert“, wie es beim Discounter Aldi heißt. Auch bei Kaufhof sieht man sich „mit komplizierten Verwaltungstätigkeiten und Regeln des Umsatzsteuerrechts konfrontiert“. Es sei ein „echtes Dilemma“, sagt Harald Elster, Präsident des Deutschen und des Kölner Steuerberater-Verbands, und fast schon qua Amt ein Mann, den eigentlich nichts aus der Ruhe bringt. Aber beim Thema Sachspenden gerät Elster in Wallung. Die Finanzbehörden, erklärt er, bewerteten Sachspenden wie Umsatz, auf den das Unternehmen eben Umsatzsteuer zahlen muss.
Denn die Ware, so das Argument, wurde auch mit Vorsteuerabzug eingekauft. Wird ein Produkt dagegen vernichtet, gilt es als wertlos, es fällt keine zusätzliche Steuer an. Für Unternehmer läuft das auf eine einfache Rechnung hinaus. „Ist die Entsorgung billiger als der Steueraufwand, werden die Produkte weggeworfen“, sagt Elster. Für Menschen, die von den Spenden profitieren würden, sei das „kaum nachvollziehbar“ und aus Umweltsicht „im Grunde eine Sauerei“. Doch Aufgabe des Steuerrechts, so Elster, sei es eben auch, zu verhindern, dass Spenden den Wettbewerb verzerren, weil zu viele Produkte unversteuert weitergereicht werden.
Berühmt wurde vor einigen Jahren ein sächsischer Bäcker, der mehr als 5000 Euro Steuern nachzahlen sollte, nachdem er Brot vom Vortag an die Tafeln gespendet hatte. Die Behörden lenkten ein und legten fest, dass Lebensmittel kurz vor Ablauf der Mindesthaltbarkeit keinen Wert mehr haben, weshalb beim Spenden keine Umsatzsteuer anfällt.
Nach und nach wird das Prinzip zwar ausgedehnt, gilt inzwischen nicht mehr nur für Lebensmittel. Doch noch immer bleibt ein großer Teil des Warenbestands aus Steuergründen nahezu unspendbar. So gelten die Ausnahmen der Oberfinanzdirektionen wohl nicht für all die blinkenden Kinderschuhe, Kaffeemühlen und Schraubendrehersets aus dem Amazon-Fundus. Für viele der Amazon Ladenhüter gilt deshalb weiter. Presse auf, Ware rein, Presse zu — und ab in den Container.