Wolfsburg. Die Entscheidung kam überraschend, auch für Müller selbst. Vor wenigen Monaten noch konnte der Konzernchef bei der Bilanzvorlage einen Rekordgewinn präsentieren. Müller schien erst einmal sicher. Außerdem räumten viele Diess nicht die besten Aussichten auf dessen Nachfolge ein. Vor einem Jahr noch drohte dem früheren BMW-Manager selbst der Rauswurf, nachdem er sich einen erbitterten Machtkampf mit dem mächtigen Betriebsrat geliefert hatte.
Was also ist geschehen in dieser Zeit? Wie konnte Müller, der nach der Enthüllung des Dieselskandals im September 2015 die Konzernführung übernommen hatte, so tief stürzen? Und wie schaffte es Diess, der noch 2017 auf Betriebsversammlungen von vielen Tausend VW-Arbeitern ausgepfiffen worden war, nun mit Zustimmung der Arbeitnehmervertreter zum VW-Boss gewählt zu werden? Es ist die Geschichte eines Managers, der seinen Abgang selbst herbeigeführt, und eines anderen, der seinen Aufstieg generalstabsmäßig geplant hat.
Müller ist ein knorriger Typ, der gern sagt, was er denkt. Es kümmert ihn nicht, was andere davon halten. Das zeichnete ihn in seiner Zeit als Porsche-Chef aus im VW-Konzern, in dem Befehl und Gehorsam das oberste Führungsprinzip war. Auch deshalb wurde Müller zum Nachfolger Martin Winterkorns berufen.
Seit Müller selbst den Konzern lenkte, schaffte er sich mit Konzern seiner Art aber immer neue Probleme. Schon Ende vergangenen Jahres waren sich die beiden größten Machtblöcke im Konzern, die Familien Porsche und Piéch sowie Betriebsratschef Bernd Osterloh einig, dass Müller abgelöst werden müsse. Es war zu vieles zusammengekommen.
Zuerst hatte Müller die wichtigsten Vertreter der Familien, Wolfgang Porsche und Hans Michel Piéch, damit brüskiert, dass er einen Verkauf der Motorradmarke Ducati vorbereiten ließ, ohne sich dafür ihr Plazet einzuholen — ein Verstoß gegen die Grundregeln der Unternehmensführung. Ein angestellter Manager kann nicht einfach Teile des Konzernvermögens verscherbeln. Darüber entscheiden die Eigentümer. Porsche und Piéch stoppten Müllers Pläne.
Doch der hatte die Lektion offenbar nicht verstanden, oder er wollte sie nicht verstehen. In Gesprächen mit Journalisten sagte er, dass einige der zwölf Konzernmarken ausgegliedert werden könnten. Betriebsratschef Osterloh und Niedersachsens Ministerpräsident Weil waren sauer, dass der VW-Chef eine so grundlegende Veränderung des Konzerns zuvor nicht mit ihnen besprochen hatte. Und Wolfgang Porsche rief Müller erneut zur Ordnung: „Aktuell sehe ich keine Notwendigkeit, sich von Teilen des Konzerns zu trennen.“
Seine eigentliche Arbeit als KonzernChef, die Abstimmung der Marken Audi, Porsche, Bentley, Bugatti, Lamborghini, Volkswagen, Seat und Skoda, vernachlässigte Müller dagegen. So entwickelten Audi, Porsche und VW jeweils eigene Bauteile wie Kolben oder Batterien. Kostenvorteile in Milliardenhöhe blieben ungenutzt. Außerdem konkurrierten Volkswagen und Skoda munter miteinander, statt sich abzustimmen. Ein Aufsichtsrat klagte: Müller entscheidet nichts. Er wird von den Marken nicht ernst genommen. Dazu trug auch bei, dass Müller seit seiche ihn nicht, er könne sich auch ein anderes Leben vorstellen. Seine Work-Life-Balance sei nicht gerade gut. »Die schönsten fünf Jahre meines Lebens habe ich hinter mir.« Müller wollte seine persönliche Unabhängigkeit signalisieren. Vorstandskollegen verstanden es anders: Dem KonzernChef fehle der nötige Biss.
Es mangelte Müller auch an Gespür dafür, wie der VW-Konzern nach dem Dieselskandal wieder das Vertrauen seiner Kunden hätte zurückgewinnen können. Müller versuchte, den Betrug als das Werk einer kleinen Gruppe« im Unternehmen zu verharmlosen. Einige hätten Gesetze falsch interpretiert«. Müller versprach Aufklärung, erklärte später aber den Untersuchungsbericht der Anwaltskanzlei Jones Day zur Geheimsache. Und er zog keine Konsequenzen auf Vorstandsebene.
Den wegen des Dieselskandals beurlaubten Porsche-Manager Wolfgang Hatz wollte Müller sogar wieder zurück in den Porsche-Vorstand holen. Porsche-Betriebsrat Uwe Hück konnte dies gerade noch verhindern. Mittlerweile sitzt Hatz, der alle Vorwürfe bestreitet, in Untersuchungshaft. Glaubwürdige Aufklärung sieht anders aus.
Dass Müller der falsche Mann an der Spitze des größten Autokonzerns der Welt ist, wurde den Familien Porsche und Piéch endgültig klar, als der VW-Chef im vergangenen Herbst die Abschaffung der Dieselsubventionen forderte. Mit einem Schlag hatte Müller alle gegen sich aufgebracht.
VW-Händler, die Dieselmodelle ohnehin nur mit hohen Rabatten verkaufen können, klagten, dass der Konzernchef ihr Geschäft weiter erschwert habe. Politiker, die jahrelang Dieselsubventionen verteidigt hatten, fühlten sich nun ausgerechnet von einem Autoboss vorgeführt. Die Chefs von Daimler und BMW waren sauer, weil die deutschen Hersteller sich bis dahin stets einig waren, den Diesel zu verteidigen. Alle rätselten: Was ist bloß in Müller gefahren?
Wolfgang Porsche und Hans Michel Piech bestellten den VW-Chef zum Rapport nach Salzburg ein. Anwesend war auch Pötsch, der Aufsichtsratsvorsitzende des Konzerns. Die drei forderten Erklärungen von Müller. Doch der Vorstandsvorsitzende konnte seine Kurswende nicht befriedigend erläutern. Müller wurde ernsthaft ermahnt. So ein Fehler dürfe nicht noch einmal passieren.
Nach diesem Treffen ging es für Müller nur noch begab. Zuletzt provozierte er im SPIEGEL-Gespräch mit Aussagen zu seinem Gehalt. Obergrenzen lehne er ab: »Wir hatten so was bereits einmal in Form der DDR«, erklärte er, »da ist auch alles geregelt worden.« Ministerpräsident und Aufsichtsrat Weil rüffelten ihn dafür öffentlich: Der Vergleich sei »komplett abwegig«. Müllers Standing sank immer weiter.
Als der VW-Boss sich einmal beklagte, dass der Konzern mit seinen zwölf Marken zu komplex und schwer zu führen sei, antwortete ein Aufsichtsrat: »Herr Müller, dann müssen wir uns jemanden suchen, der diese Komplexität beherrscht.«
Infrage kamen dafür nur zwei Kandidaten: Lkw-Chef Andreas Renschler, dem es gelungen war, die Lastwagenmarken MAN und Scania geräuschlos zusammenzuführen, und Herbert Diess. Ferdinand Piech hatte, als er noch Aufsichtsratschef in Wolfsburg war, die beiden angeworben und ihnen gesagt, bei entsprechender Leistung könnten sie den Chefposten übernehmen.
Diess verstand es besonders geschickt, seine Kritiker sagen: hinterlistig, die Familien Porsche und Piéch auf die Schwächen Müllers hinzuweisen. So bereitete der VW-Markenchef eine enge Abstimmung mit Skoda vor, damit die beiden Konzernschwestern sich nicht gegenseitig Konkurrenz machten. Diese Arbeitsteilung zu regeln wäre Aufgabe des Konzernchefs gewesen. Der Diess-Vorstoß richtete einen Scheinwerfer auf Müllers Versäumnis.
Wolfgang Porsche und Hans Michel Piéch imponierten an Diess vor allem zwei Dinge: Er senkte schnell die Kosten, und er legte sich mit Betriebsrat Osterloh an, der nach Überzeugung der Familien über viel zu viel Macht im Konzern verfügt. Das hatte Diess dem Kandidaten Renschler voraus, der die enge Abstimmung mit den Betriebsräten suchte.
Diess klagte, wie sehr ihn die zentralistischen Machtstrukture im Betriebsrat störten. Er wolle Osterloh nicht ständig um Erlaubnis bitten. Volkswagen hat nur eine Zukunft, sagte Diess, wenn sich die Betriebsratsseite stark reformiert Die Auseinandersetzung um ein Sparprogramm, das Diess einführen wollte, endete in einem Showdown zwischen dem Betriebsrat und dem Manager. Der Rauswurf von Diess schien nur noch eine Frage von Tagen. Doch die Familien Porsche und Piéch stärkten Diess den Rücken. Gegen deren Willen konnte Diess nicht entlassen werden. Doch gegen den Widerstand der Arbeitnehmer konnte er auch nicht zum Konzernchef aufsteigen.
Für Diess war es eine Pattsituation, aus der er sich durch eine erstaunliche Wendigkeit befreite. Er suchte die Nähe des Betriebsrats. Plötzlich lobte er Osterloh auf Managementkonferenzen für dessen Know-how in Technikfragen und seine Bereitschaft zu Kompromissen beim Personalabbau.
Irgendwann schlossen Osterloh und Diess einen Waffenstillstand. Betriebsrat und Manager verband ein Interesse: die Marke Volkswagen zu stärken — und damit ihre jeweilige Hausmacht. Einig waren sie sich auch darüber, dass im Konzern viel schneller entschieden werden müsse. Ende vergangenen Jahres wurde Diess von einflussreichen Arbeitnehmervertretern bereits halb spöttisch, halb liebevoll »Onkel Herbert« genannt.
Diess ist kein Visionär, er vertritt aber alles, was ihn weiterbringt. Seine Wandlungsfähigkeit hat ihm bei seinen Kollegen einen weiteren Spitznamen eingebracht:
Diess & das«. Galt Diess bei BMW nicht gerade als Vorreiter der E-Mobilität, hat er sich bei VW als Fürsprecher des technischen Wandels profiliert.
Während Müller sich ständig mit dem Dieselbetrug und der Vergangenheitsbewältigung beschäftigen musste, präsentierte sich Diess bei wohlinszenierten Auftritten als Mann der Zukunft. Auf der Technologiemesse CES in Las Vegas referierte er über künstliche Intelligenz. Diess engagierte ehemalige Manager des E-Auto-Pioniers Tesla, die VW beim Wandel zur Elektromobilität voranbringen sollen.
Und er nutzte die Talkshows von Maybritt Illner und Anne Will geschickt als Bühne. Diess vertrat zwar die gleichen unversöhnlichen Positionen wie Müller. Dieselkunden in Europa sollten keine Entschädigung erhalten. Doch er ließ immer so etwas wie Reue durchblicken: Mal gab er Manipulationen zu, mal räumte er eine Mitverantwortung für die schlechte Luft in den Städten ein.
Auch damit hatte Diess sich bei den Familien Porsche und Piéch, den Arbeitnehmervertretern und Niedersachsens Ministerpräsident Weil für die Position an der Konzernspitze qualifiziert. Mit dem Wechsel an der Spitze wollen sie auch die Konzernstruktur ändern.
Das Lastwagengeschäft mit MAN, Scania und den Volkswagen-Nutzfahrzeugen soll als eigenes Unternehmen an die Börse gebracht werden. Der VW-Konzern wird die Mehrheit der Aktien behalten und allenfalls 25 Prozent verkaufen. Das würde sechs bis sieben Milliarden Euro in die Kassen spülen. Zudem wird das Pkw-Geschäft in die Markengruppen Volumen (Volkswagen, Skoda, Seat), Premium (Audi) und Super-Premium (Porsche, Bentley, Lamborghini, Bugatti) aufgeteilt.
Über dieses Gesamtpaket herrscht Einigkeit im Aufsichtsrat. Auch die Arbeitnehmer befürworten es. Osterloh weiß jedoch, dass es mit Diess schon bald wieder Zoff geben kann. Er sieht aber lieber einen harten Hund an der Konzernspitze, der etwas bewegt, als einen Nichtentscheider, der sich um seine Work-Life-Balance sorgt.
Die wird für Müller künftig unschlagbar gut ausfallen. Er muss nicht mehr arbeiten, erhält aber bis zum Vertragsende im Februar 2020 sein Vorstandsgehalt. Danach stehen ihm Pensionsansprüche im Wert von 30 Millionen Euro zu.
Sein Nachfolger will sofort loslegen. Diess hat bereits angekündigt, dass sein freundlicher Umgang mit den Betriebsräten kein Dauerzustand sei. Er werde sicher auch mal wieder sein kämpferisches Gesicht zeigen, scherzte Diess am Rande von Presseterminen. Er könne das an- und ausknipsen — je nach Bedarf.