Bonn. Es ist zu einem lukrativen Geschäft für Rechtsanwälte geworden, Flüchtlinge und Asylanten zu verteidigen und zu beraten, wenn es darum geht, eine fällige Abschiebung zu verzögern. Es dauert immer länger, bis abgelehnte Bewerber nach Hause geschickt werden, weil für Juristen die sogenannte „Abschiebe-Industrie“ zu einer Geldmaschine geworden ist. Abschiebungen werden regelrecht verhindert, statt diese zu beschleunigen, wie es mehr und mehr verlangt wird. Einer steht dabei im Mittelpunkt der Kritik: Thomas Oberhäuser, spezialisierter Advocat und Vorreiter der Abschiebe-Blockierung.
Da haben wir ihn: Thomas Oberhäuser, Anwalt für Migrationsrecht in Ulm, Vorsitzender der ARGE Ausländer- und Asylrecht beim Deutschen Anwaltverein, Mitglied bei Amnesty, bei Greenpeace, bei den Grünen. Einen wie Oberhäuser hat CSU Landesgruppenchef Alexander Dobrindt wohl gemeint, als er das Treiben einer „Anti-Abschiebe-lndustrie“ beklagte, die alle „Bemühungen des Rechtsstaats sabotiert“ und „eine weitere Gefährdung der Öffentlichkeit provoziert“. Herr Oberhäuser, wie laufen denn die Geschäfte? „So eine Äußerung kann ich nicht bloß als unsinnig abtun, das ist regelrecht gefährlich“, sagt er. Er und seine Kollegen fühlten sich diffamiert. „Das sind doch Plattitüden, und alle plappern sie nach.“ Seit vielen Jahren habe der Gesetzgeber permanent die Regeln verschärft, um Missbrauch auszuschließen. Einfach einen Folgeantrag stellen? Hat keine aufschiebende Wirkung mehr. Mal eben ein Attest vorlegen? Schützt nur noch bei Lebensgefahr vor Abschiebung. Kurzum: „Der Mann hat offensichtlich keine Ahnung.“ Aber dieser Mann versteht sein Politik-Handwerk. Dobrindt hat den Begriff der „Anti-Abschiebe-lndustrie“ geschickt gewählt, er hat nicht nur das Zeug zum Unwort des Jahres, sondern dürfte die Debatte auf Monate hinaus prägen. Er zielt auf ein Bauchgefühl besorgter Bürger, entlastet die Politik — und bereitet neuen Verschärfungen des Asylrechts den Weg.
Tatsächlich tut sich der Staat schwer, Flüchtlinge wieder heimzuschicken, die nicht bleiben dürfen. Gerade mal 24000 Menschen wurden im vergangenen Jahr abgeschoben. 29600 haben das Land im Rahmen von Rückkehrprogrammen freiwillig verlassen. Die Zahlen sind weit entfernt von den oft zitierten „230000 Ausreisepflichtigen“. Doch auch gewaltige Zahlen wie diese können in die Irre führen. Zum einen handelt es sich dabei nicht ausschließlich um abgelehnte Asylbewerber, vielmehr gilt ein Teil der Fälle als „overstays“, Touristen, Studenten oder Geschäftsreisende etwa, deren Visa abgelaufen sind. Zum anderen werden etwa 166000 Menschen trotz Ausreisepflicht von den Behörden „geduldet“(siehe Grafik nächste Seite) — was bedeutet, dass ihre Abschiebung aus unterschiedlichen Gründen vorübergehend ausgesetzt ist. Ein Zustand, den viele von ihnen auf dem Rechtsweg erkämpfen mussten. Jeder dritte Asylbescheid landet inzwischen vor Gericht. Vielfach aus guten Gründen, denn knapp ein Viertel der Kläger bekommt recht. Anwalt Oberhäuser sagt, die meisten Bescheide seien „gnadenlos schlecht“, zusammengebastelt aus Textbausteinen und, so vermutet er, erstellt auf politische Weisung: „Eine wirkliche Einzelfallprüfung beginnt oft erst vor Gericht.“ Und weil die Rechtsmittelfristen so kurz sind, bleibe ihm oft keine Wahl: „Im Zweifel erhebe ich lieber eine Klage zu viel, als eine Frist zu versäumen.“
Und so stapeln sich die Asylverfahren in den Verwaltungsgerichten zu einem Berg aus 372000 Akten. „Selbst wenn ab heute überhaupt keine neuen Verfahren mehr eingehen, könnten wir noch zwei bis drei Jahre unvermindert weiterarbeiten“, klagt Robert Seegmüller, der Vorsitzende des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter. Den Begriff der „Anti-Abschiebe-lndustrie“ hält Seegmüller für „nicht sachgerecht“. Viel mehr als Dobrindts Bösewichte stört den Richter die geringe Akzeptanz vor Gericht gefällter Entscheidungen. Es gebe Menschen, die „stören die Ingewahrsamnahme von Ausreisepflichtigen“. Andere würden ihnen helfen, sich zu verstecken.
Wie oft Abschiebungen scheitern, zeigt das Beispiel Hamburg. Von Juni bis November2017 hat die Polizei der Hansestadt 268 Asylbewerber abgeschoben, 386 Mal ist das Vorhaben misslungen. 34 leisteten Widerstand, 18 waren krank, in 24 Fällen fiel ein Flug aus — und 175 Mal traf die Polizei schlicht niemanden an. Aus ähnlichen Gründen schlugen im Vorjahr in Baden Württemberg sogar 4180 von7630 Abschiebeversuchen fehl.
„Deutschland ist heute das einzige Land, in das man leichter reinkommt als wieder raus“ — auch so ein Satz von Alexander Dobrindt. Ein Satz, der vor allem für jene knapp 65000 Menschen gilt, die nicht abgeschoben werden können, weil sie keine Pässe haben. Die Zahl dieser unfreiwillig Geduldeten ist innerhalb eines Jahres um 71 Prozent gestiegen. Die Beschaffung der Papiere ist oft schwierig. Nicht nur, weil Flüchtlinge Vorladungen zur „Identitätsfeststellung“ ignorieren — was inzwischen zu Leistungskürzungen führt. Oft verhalten sich die Behörden der Herkunftsstaaten wenig kooperativ. Über Indien — allein 5743 Fälle — heißt es in einem internen Lagebericht des Bundesinnenministeriums: „Streckenweise sehr langsame bis keine Bearbeitung der Passersatzanträge.“ Und zum Libanon: „Antworten auf Anträge äußerst rar. Kontakt zur Botschaft ist schlecht.“ Auch die Zusammenarbeit mit der Türkei funktioniere „schlecht bis sehr schlecht“.
Innerhalb Europas läuft inzwischen das Dublin-Verfahren zumindest leidlich — wer vor seiner Ankunft in Deutschland bereits in einem anderen EU-Land registriert wurde, muss demnach wieder dorthin zurück. Allein im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind 310 Mitarbeiter dafür abgestellt. Sie haben 2017 etwa 64 000 Anträge auf Rücküberführung gestellt, von denen aber nur 7102 vollzogen wurden. Und noch einen Haken hat dieses Verfahren: Es funktioniert in beide Richtungen. Auch Deutschland ist verpflichtet, Bewerber zurückzunehmen. Und so stehen den 7102 Menschen, die aus der Bundesrepublik überstellt worden sind, 8754 gegenüber, die nach Deutschland überstellt wurden. Unter dem Strich also 1652 Flüchtlinge zusätzlich. Der Saldo könnte deutlich besser aussehen. Könnte. Tatsächlich sperren sich viele Erst-Länder gegen zu viele Rückführungen. Und tatsächlich untersagen Gerichte bisweilen nicht nur Abschiebungen in Länder wie Afghanistan, sondern auch nach Griechenland oder Italien — aufgrund unmenschlicher Zustände im dortigen Asylsystem. Mitten in Europa. In vielen Ländern des Kontinents gilt inzwischen die Parole: Härte. Nicht mehr nur in Ungarn. Oder den Niederlanden, deren Asylrecht als eines der strengsten in Europa gilt, wo regelmäßig zwei von drei Anträgen auf Flüchtlingsschutz abgelehnt werden und Betroffene binnen 28Tagen das Land verlassen müssen. Für eine kurze Zeit erhalten sie noch eine „Bett, Bad und Brot“ genannte Minimalversorgung, danach gelten sie als „Illegale“. Diese neue Härte ist nicht allein den Flüchtlingszahlen geschuldet — es ist die gesellschaftliche Stimmung, die sie befördert und Rechtspopulisten Auftrieb verschafft. Sie treiben Regierungen vor sich her, wenn sie nicht selbst an der Machtbeteiligt sind, wie Österreichs FPÖ.
In der zweiten Jahreshälfte übernimmt das Land den EU-Ratsvorsitz. Wenn Innenminister Herbert Kickl von der FPÖ sagt: „Wir brauchen mutige Ansätze“, dürfen sich Flüchtlinge wohl auf einiges gefasst machen. Kanzler Sebastian Kurz etwa würde gar keine Menschen mehr aufnehmen, die im Mittelmeer gerettet werden ,und sie stattdessen in sichere Regionen, auf lnseln oder in ihre Herkunftsländer zurückschicken. Verbündete würden die Österreicher nicht nur in Italien finden, wo die meisten Flüchtlinge anlanden, auch Spanien wäre dafür zu gewinnen. Zwar wurde die Praxis, Flüchtlinge schon an den Zäunen der nordafrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla zurückzuweisen, bevor sie „Asyl“ sagen können, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Aber noch immer kommen die meisten Flüchtlinge nach einer kurzen Anhörung in Abschiebe-Camps. Doch Entschlossenheit bringt nicht immer die erwünschten Resultate, wie sich gerade in Großbritannien gezeigt hat.
Dort wurden 2017 zwar 12000 Menschen abgeschoben — darunter aber nur3000 abgelehnte Asylbewerber. Um die vereinbarte Quote zu erfüllen, wurden Tausende Menschen mit Ausweisung bedroht, die zum Teil vor Jahrzehnten eingewandert waren. Sie hatten nur nie einen Pass beantragt — und galten plötzlich als Illegale. Auch auf der anderen Seite des Ärmelkanals soll wieder schneller abgeschoben werden. Der französische Innenminister fürchtet nicht nur die Rechten, ihn treibe, sagt er, auch die Sorge, schärfere Regeln in Deutschland könnten vermehrt Flüchtlinge nach Frankreich locken. Längst hat dieser europäische Wettbewerb auch Länder erfasst, die einst für Liberalität standen. Sogar die schwedischen Sozialdemokraten fordern inzwischen, abgelehnte Asylbewerber von der Sozialhilfe auszuschließen, ihren Kindern den Schulbesuch zu verweigern. Und Dänemarks rechtsliberale Regierung rühmt sich, in nur vier Jahren 73 Gesetzesverschärfungen durchgesetzt zu haben. Seit 2013 unterhält das Land in ehemaligen Gefängnissen und Militäreinrichtungen sogenannte Ausweisungszentren — mit dem erklärten Ziel, das Leben für Flüchtlinge „so unerträglich wie möglich“ zu machen, wie Ministerin Inger Støjberg sagt, um eine „freiwillige“ Rückkehr zu erzwingen. Das Problem: Es funktioniert nicht. Aus einem dieser Lager, heißt es in einem Regierungsbericht, seien im November2017 höchstens fünf Insassen in ihr Heimatland zurückgekehrt. Deutschland ist mit seinen Schwierigkeiten also in bester Gesellschaft. So schnell dürfte Anwalt Oberhäuser die Arbeit nicht ausgehen. Den nächsten freien Termin hat er im September.