Silicon V. Die Idee, jemanden abzulenken, wenn man ihn unangenehmen ärztlichen Prozeduren unterziehen will, ist nicht neu. Man kennt es als gängigen Trick, um z.B. Kindern den Zahnarztbesuch erträglich zu machen. Dann gibt man den Kleinen lustige Plüschtierchen oder ein Bilderbuch, um sie vom Eigentlichen abzulenken. Bei Erwachsenen funktioniert das ähnlich, allerdings setzt man neuerdings in Holländischen Kliniken den Patienten 3-D-Brillen auf, die ihn mittels Videofilme in virtuelle Welten versetzen, die dessen ganze Aufmerksamkeit von der Schmerz-Behandlung komplett ablenken.
Er bewegte sich durch eine surreale Landschaft, und sein Ziel war es, möglichst viele der gläsernen Körper, die sich ihm in den Weg stellen, zu zerschmettern: blau schimmernde Kristalle, Pyramiden, Quader und Prismen. Durch Kopfbewegungen visierte er die Ziele an und feuerte über eine Taste an der Spezialbrille, die er trug, Silberkugeln auf die Körper ab. Das Klirren des zerstörten Glases tönte aus dem Kopfhörer, dazu elektronische Musik. Die virtuelle Realität des Spiels „Smash Hit“ zog den Niederländer Raymond Van den Heuvel wochenlang in seinen Bann. Weder nahm er die Krankenschwester wahr, die den Verband an seinen Beinen öffnete, noch hörte er, wie die Ärzte über seine Wunden sprachen. Van den Heuvel war vergangenes Jahr längere Zeit Patient des Martini-Krankenhauses im niederländischen Groningen. Bei einem Unfall waren sieben Prozent seiner Haut verbrannt – an den Schienbeinen, am linken Arm und der linken Hand. Die Ärzte hofften anfangs, dass die Wunden ohne größere Intervention von selbst abheilen würden — nach drei Wochen jedoch verpflanzten sie schließlich Haut vom Oberschenkel auf die Schienbeine. Verbände mussten gewechselt, die Wunden gesäubert und Salben aufgetragen werden – jeden Tag. In der Zeit spielte Van den Heuvel in der virtuellen Realität, um diese schmerzhafte Prozedur zu überstehen.
Patienten mit schweren Verbrennungen leiden während der Behandlung ihrer Wunden häufig unter unerträglichen Schmerzen — selbst wenn sie starke Opioide wie etwa Morphin erhalten. Die Dosierung zu erhöhen ist meist nicht möglich: Zu stark sind die Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Abhängigkeit. Die Patienten benötigen zusätzliche nicht-medikamentöse Therapien – wie etwa Virtual Reality (VR). Vorangetrieben von der Spiele-Industrie findet VR seit einigen Jahren zunehmend Anwendung in der Medizin. Ärzte wissen inzwischen: Unser Schmerzempfinden hängt stark davon ab, wie viel Aufmerksamkeit der Schmerz erhält – aber: Unsere Aufmerksamkeitskapazität ist begrenzt. Da VR umfassende Reize bietet und ein Gefühl der Präsenz in der neuen Umgebung vermittelt, ist die Methode erfolgversprechender als andere Ablenkungsstrategien wie Musik hören oder fernsehen.
Der Unfall, bei dem Van den Heuvel, verunglückte, geschah im vergangenen August. Der Niederländer fuhr einen Sportwagen Probe, der Besitzer der Autos saß neben ihm. Als sie aus einem Kreisverkehr abbogen, ging auf einmal der Motor aus. Van den Heuvel drehte den Zündschlüssel, und plötzlich fing der Wagen Feuer. Der Sicherheitsgurt ließ sich schnell genug öffnen. „Ich brauchte20 oder 30 Sekunden, um aus dem Wagen herauszukommen“, sagt der 51-Jährige. „Ich bin dann in einen Wassergraben gesprungen, der in der Nähe war.“ Der Beifahrer blieb unverletzt.
Am selben Tag kam Van den Heuvel in das Verbrennungszentrum des Martini Krankenhauses. Die ersten zwei Wochen lag er auf der Isolierstation: in keimarmer Luft, damit sich die Verbrennungswunden nicht infizierten. Susanne Blokzijl, medizinische Psychologin in der Klinik, konnte Van den Heuvel für ihre Studie gewinnen: Sie untersucht die Auswirkungen von virtueller Realität auf den Schmerz von Verbrennungspatienten bei den ersten vier Verbandswechseln. Rund 30 Patienten haben bislang an der wissenschaftlichen Untersuchung teilgenommen. Weitaus mehr Erkrankte in der Klinik nutzen inzwischen die VR-Brillen regelmäßig. Auch Van den Heuvel durfte nach vier Tagen die Brille weiterverwenden. Zehn Filme und Spiele standen ihm zur Auswahl – er blieb bei „Smash Hit“ und hatte am Ende seines Klinikaufenthalts alle elf Level geknackt. Wunder konnte die Ablenkung mit VR nicht vollbringen. Van den Heuvel wird ernst, wenn er heute von seinen Schmerzen erzählt: „Selbst mit Morphin war es heftig – besonders an den ersten Tagen nach dem Unfall. Manchmal mussten die Ärzte und Krankenschwestern während der Behandlung pausieren, wenn es mir zu viel wurde.“ Das Unerträgliche überstehen, die Angst vor der Behandlung nehmen — das leistete VR bei ihm.
Schon im Jahr 2000 beschrieben die Wissenschaftler Hunter G. Hoffman und seine Kollegen an der Universität von Washington in Seattle die positiven Effekte von VR bei der Wundbehandlung zweier Verbrennungspatienten. Jene Probanden tauchten in eine virtuelle Schneewelt ein, die eigens für diesen Zweck entworfen worden war. Seitdem zeugen zahlreiche Studien von der schmerzreduzierenden Wirkung: Zwischen 30 und 50 Prozent liegt die Linderung. Am Martini Krankenhaus wurde VR vor zehn Jahren erstmals getestet. Doch damals war das Zubehör noch kompliziert und teuer: Das Equipment des Amerikaners Hoffman kostete zu der Zeit mehrere Zehntausend Dollar, und die „Snow World“ war noch sehr unscharf. Heute bekommt man für nur wenige Hundert Dollar qualitativ hochwertige Ausrüstung. Was in den USA seit knapp 20 Jahren wissenschaftlich untersucht wird, etabliert sich in Deutschland nur langsam. An einem Freitag im Februar treffen sich neun Chirurgen und Physiotherapeuten in Osnabrück. Eingeladen haben Joachim Suß, Chefarzt der Kinderchirurgie am Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Hamburg, und Thomas Schüler, Softwareentwickler der Firma „Salt and Pepper“. Die beiden lernten sich auf einem Workshop kennen. „Auf keiner Konferenz und bei keiner Fortbildung hatte ich davor von virtueller Realität gehört. Die Idee ist absolut faszinierend“, sagt Chefarzt Suß. Nun sucht er nach Mitstreitern, um die VR-Therapien in deutschen Kliniken einzuführen. Nicht nur für die akute Wundbehandlung nach Verbrennungen, sondern auch während der anschließenden Reha. Denn oft schränkt das unelastische Narbengewebe Kinder im Wachstum immer wieder in ihren Bewegungen ein. Auch erwachsene Verbrennungspatienten leiden darunter, beispielsweise wenn die Haut an Gelenken betroffen ist. Physiotherapie ist in der Nachbehandlung unerlässlich – und damit sind erneute Schmerzen verbunden. „Es ist schwierig, einem sechsjährigen Patienten zu erklären, dass das sein muss“, sagt Suß. Der Arzt hofft, über VR einen spielerischen Zugang zu finden und so den Kindern die Panik nehmen zu können. „Denn die Angst vor dem Schmerz vervielfacht diesen“, sagt er.
IN DEUTSCHLAND WIRD VIRTUAL REALITY WENIG EINGESETZT
Die niederländische Psychologin Blokzijl berichtet, dass an ihrer Klinik einige Krankenschwestern anfangs skeptisch gewesen seien. „Die VR-Brille unterbricht den direkten Kontakt zu dem Patienten“, sagt sie, „das widersprach erst einmal den Werten und Normen des Pflegepersonals.“ Aber inzwischen leihen sich im Martini-Krankenhaus auch andere Abteilungen die Brillen des Verbrennungszentrums aus, etwa die Abteilung für Blutwäsche, die Kinder- und die Intensivstation. Klinikaufenthalte dauern bisweilen Wochen, manche Erkrankten fühlen sich wie Gefangene. Mithilfe weiterer VR-Technik sollen die Patienten des Martini-Krankenhauses die Möglichkeit bekommen, in entfernte, real existierende Welten zu gelangen: So können sie etwa an Familienfeiern teilnehmen oder ihre Freunde besuchen ohne die Station zu verlassen. Ein kleiner Plastikroboter namens „VRiendje“, was auf Niederländisch so viel wie „kleiner Freund“ bedeutet, ermöglicht das. In dem Spielzeug verbirgt sich eine 360-Grad-Kamera. Der „kleine Freund“ wurde von der Martini Klinik im Klassenzimmer eines jungen Verbrennungspatienten auf dessen Pult gestellt. Über die gekoppelte 360-Grad-Kamera tauchte das Kind ein in die vertraute Umgebung und konnte sich von seinem Platz aus im Klassenzimmer umschauen.
Auch in Deutschland wird die Technik bereits in unterschiedlichen medizinischen Bereichen genutzt. So ist die VR-Expositionstherapie bei manchen Phobien seit 2014 Teil der Behandlungsleitlinien: Patienten etwa, die Angst vor Spinnen haben, werden virtuell mit den Tieren konfrontiert; Schlaganfallpatienten testen VR-Applikationen für ihre neurologische Reha. Patienten mit künstlichen Gelenken sollen mit virtueller Anleitung schneller mobilisiert werden. Und auch bei der Behandlung chronischer Rückenschmerzen kommen virtuelle Trainingswelten zum Einsatz. Allerdings: Langzeitstudien zu VR gibt es bislang keine. Darum beschrieben die Philosophen und Wissenschaftler Michael Madary und Thomas Metzinger 2016 auch damit verbundene Risiken. „Es handelt sich hier nicht um einen neuen Wirkstoff oder eine Chirurgietechnik – sondern um eine völlig neue Technologie“, so Madary. Er kritisiert, dass VR-Applikationen nicht als Medizinprodukt klassifiziert sind: „Jeder kann bei der Vermarktung einer VR-Applikation behaupten, dass sie medizinische Vorteile mit sich bringt. Ohne dass die entsprechenden Studien durchgeführt wurden — das ist nicht reguliert.“ Gefahren sieht er vor allem für Patienten mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen, bipolaren Störungen oder Schizophrenien, deren Symptome sich durch VR möglicherweise verschlechtern könnten. Die niederländische Psychologin Blokzijl nimmt keine Patienten mit psychischen Vorerkrankungen in ihre Studie auf. Sie misst nicht nur die Schmerzlinderung, sondern auch die generelle Patientenzufriedenheit und psychologische Faktoren, die mit dem Erfolg der Behandlung einhergehen. Sind Patienten ängstlich oder traurig, so vermutet sie, wirkt auch die Ablenkung mit der VR-Brille weniger gut. Kann der Patient Van den Heuvel diese These bestätigen? Er überlegt kurz, dann lacht er. Schlechte Laune habe er eigentlich nie. Ihm habe das Spiel „Smash Hit“ jeden Tag geholfen.