Bonn. Martin ist ein sehr pflichtbewusster Typ Anfang 50, der in einer großen Unternehmensgruppe zehn Jahre lang als Geschäftsführer eines der Teilunternehmen verantwortet hat. Als es dort vor zwei Jahren zu einem Investorenwechsel kam, wurde sein Alltag kompliziert. Vieles lag auf Investorenebene im Argen, aber die Probleme landeten auf Martins Tisch. Die Folge waren unangenehme Mails mit immer mehr Mitlesern im CC, politisch aufgeladene Meetings, gefühlter inhaltlicher Stillstand. Martin wurde immer angespannter. Und gleichzeitig immer leidensbereiter.
Irgendwann rief er mich an und vermeldete im Stil einer Pressemitteilung, man habe ihn gebeten, das Unternehmen zu verlassen. Ein faires Paket, ein geräuschloser, mit geübtem Skalpell vollzogener Schnitt, und Martin war Geschichte.
Die ersten Wochen, sagt er, habe er sich wie taub gefühlt. Er sei unfähig gewesen, über die Geschichte zu reden. Dann habe sich die Wut ihren Weg gebahnt – darüber, dass es keine Vorwarnung gab, dass er sich nicht einmal richtig verabschieden konnte. Später folgte die Frage, warum er nichts hatte kommen sehen. Es brauchte eine Aufarbeitung, bevor Martin nach vorn schauen konnte.
Im Kern ist seine Geschichte vergleichbar mit der des Froschs im Kochtopf, die Sie vielleicht kennen. Setzt man einen Frosch in siedendes Wasser, springt er heraus. Setzt man ihn dagegen in kaltes Wasser und erhöht langsam die Temperatur, bleibt der Frosch sitzen — und stirbt.
Martin hatte sich entschieden, den neuen Investoren unvoreingenommen gegenüberzutreten und sich auf das Fachliche zu konzentrieren. Das hält er nach wie vor für richtig, er würde es wieder so machen. Das Genick brach ihm, wie er heute weiß, etwas anderes. Er wollte gefallen, wollte den Anforderungen gerecht werden, selbst als es schon lange nicht mehr um Fachliches ging. Er versteckte sich hinter seinem Pflichtbewusstsein und seiner Loyalität, anstatt für sich Verantwortung zu übernehmen. Die Fehler suchte er bei sich, in seiner Arbeit wurde er immer operativer und kleinteiliger. Von da an ging es nur noch bergab.
So ungern Martin es anfangs benennen wollte, so klar ist ihm heute, dass der Rest die Folge seines eigenen Handelns war. Er kann inzwischen sogar den Moment benennen, in dem man das Vertrauen in ihn als Geschäftsführer verlor. Was er hätte anders machen können? Reden. Reflektieren. Und dann handeln. Klingt rückblickend so einfach. Am wichtigsten wäre gewesen, sich einzugestehen, dass etwas nicht stimmt — und sich jemandem anzuvertrauen.
Ganz schön schwere Kost, das finde ich auch. Aber die Geschichte hat ein versöhnliches Ende. Martin hat sich einen alten BMW gekauft. Und wiederholt, bevor er in ein paar Wochen einen neuen Job anfängt, mit seiner Frau nach fast 25 Jahren seine Hochzeitsreise.