London. Mister Copper hat sein Händchen für den Markt verloren. Sein einst untrügliches Gespür für die Kupferpreise hatte Michael Farmer den Spitznamen eingetragen. 2013 gelang dem Londoner Hedgefondsmanager noch ein Plus von 50 Prozent, er wurde reich und zum Lord geschlagen, auch dank seiner Großspenden an die Konservativen.
Doch Anfang 2018 teilte Farmer seinen Anlegern mit, dass er seine Red-Kite-Fonds restrukturieren müsse: Die Finanzwetten auf Kupfer und andere Metalle funktionierten nicht mehr. Schuld seien algorithmengetriebene Computerfonds.
Die Maschinen-Trader haben den Metallmarkt erobert und Stars wie Farmer binnen kurzer Zeit verdrängt. „Die meisten großen Namen von vor fünf Jahren sind nicht mehr im Geschäft“, sagt Christoph Eibl, Gründer und Chefvon Tiberius Asset Management in Zug. Die Deutungshoheit gehört nun Quan-tHedgefonds wie Citadel oder Millennium Management: Statt auf Bauchentscheidungen vertrauen sie auf Datenanalysen mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI). Der Metallmarkt sei inzwischen regelrecht „von den Quants getrieben“, sagt Simon van den Born vom Handelshaus Marex Spectron.
So wie beim Schach verlieren heute auch am Rohstoffmarkt die Menschen gegen die Computer. Selbst große Handelshäuser wie Cargill, Louis Dreyfus oder Trafigura, die jahrelang einen schier uneinholbaren Informationsvorsprung besaßen, können nicht mehr mithalten. Die Mitarbeiter des Öl- und Metallhändlers Trafigura (136 Milliarden Dollar Umsatz) schickten Tanker und Frachter um die Welt und wussten stets, wo ein Überangebot die Preise drückt. Der hauseigene Hedgefonds Galena Metals war an der Terminbörse kaum zu schlagen: Bis 2013 erzielte er traumhafte 9,4 Prozent Rendite pro Jahr. 2015 schloss Trafigura die Sparte dann, so wie andere Trader auch.
Die Investments werden nun von selbstlernenden Computerprogrammen gesteuert, die perfekt über alle Warenströme auf den Weltmeeren informiert sind, ohne je eine Ladung Platin aus Südafrika oder ein Barrel Öl aus Venezuele bewegt zu haben. Herr über eine: dieser Computernetze ist Tammet Kamel, Gründer und Chef des Researchanbieters Quandl aus Toronto. Der ehemalige Investmentbanker mit den zurückgegelten dunkelblonden Haaren ist ein geschickter Verkäufer. Als er 2012 das Startkapital für Quandl einwarb, erzählte er den Wagniskapitalgebern im Silicon Valley: „Ich werde mit Bloomberg machen, was Wikipedia mit der Encyclopedia Britannica gemacht hat.“ Solche Sprüche kommen an der Westküste gut an.
Was ein Informationsvorsprung an der Börse wert ist, lernte Kamel als junger Hedgefondsanalyst in Hongkong. Damals schickte ihn sein Boss aufs chinesische Festland. Er sollte Bauern dafür bezahlen, täglich die Lkw zu zählen, die aus den Fabriken kommend an ihren Feldern entlangfuhren. Heute kauft er Satellitenbilder von Rohstoffverladehäfen. Auf die Fotos lässt er dann Programme los, die selbstständig Muster erkennen und immer besser darin werden, Stückgutfrachter und Tanker auf den Aufnahmen zu identifizieren. So kann der Quandl-CEO seinen Kunden jederzeit sagen, wie viel Eisenerz gerade aus den Minen in Australien nach China unterwegs ist. Die meisten Kunden sind Quant-Fonds, die mit künstlicher Intelligenz auf Rohstoffpreise wetten.
Und das ist erst der Anfang. Die lernenden Algorithmen fressen sich längst auch durch andere Märkte. Viele Tage bevor Unternehmen ihre Quartalsberichte veröffentlichen, haben intelligente Programme aus Millionen von Bildern und Datenquellen bereits die Geschäftsentwicklung abgeleitet – und auf einen steigenden oder fallenden Aktienkurs gesetzt. Beim Sport- artikler Under Armour gingen Hedgefonds im Sommer 2017 Short, nachdem sie Rück- gänge bei der Zahl der Stellenanzeigen auf der Internetseite und den Verkaufspreisen der Artikel festgestellt hatten. Das machte sich bezahlt, als der Bericht zum zweiten Quartal den Aktienkurs um 9 Prozent einbrechen ließ. Auch bei Währungen oder Anleihen warten die besten Trader nicht mehr auf offizielle Daten von Statistikämtern oder Notenbanken: „Nowcasts“ messen die Wirtschaftsaktivität permanent und live.
Wer künftig Toprenditen einfahren möchte, kommt an den intelligenten Quant-Profis, die KI auf vielfältige Weise in ihre Investmentstrategien einbauen, kaum noch vorbei. Man muss nur die richtigen erwischen. Denn ahnungslos eingesetzt, kann sich die lernende Software zerstörerisch auf ein Portfolio auswirken.
KI liefert zunächst einmal nur die Sensoren, um wertvolle Signale in dem täglichen Datenwust aufzuspüren. Allerdings würden diese Signale von vielen Nebengeräuschen überlagert, erklärt Geoffrey Duncombe, der als Chefanlagestratege bei Two Sigma mehr als 35 Milliarden Dollar für die Kunden anlegt: „Die meisten neuen Daten haben keinen ökonomischen Wert. Das sind Teenagervideos,und Katzenfotos.“
Das digitale Gold aufzustöbern ist eine Aufgabe für quantitative Hedgefonds, die oft Hunderte von Wissenschaftlern zum Entwickeln und Testen von Investmenthypothesen beschäftigen. 2017 durchbrachen die Quants erstmals die Anlageschwelle von einer Billion Dollar. Die fünf weltgrößten Hedgefonds sind mittlerweile Quants: Bridgewater Associates, AQR, Man Group, Renaissance Technologies und Two Sigma.
Dieser Siegeszug gehe zulasten herkömmlicher Anbieter und werde sich fortsetzen, glaubt Hans-Olov Bornemann, der seit elf Jahren einen Quant-Fonds für die Bank SEB führt.
Die börsennotierte Londoner Man Group hat lernende Maschinen bereits mit Milliarden an Kapital ausgestattet und lässt sie laufen. 2014 begann Fondsmanager Nick Granger, einen kleinen Teil des Kapitals aus seinem AHL Dimension Fund in solche Strategien zu investieren. 2015 waren die Algorithmen schon für die Hälfte der 5 Prozent Rendite verantwortlich.
Es folgte ein Kundenansturm, der das Kapital des Fonds mehr als verfünffachte, auf zuletzt gut fünf Milliarden Dollar. Grangers Lohn: Im Juli 2017 stieg er zum Chefanlagestrategen von Man AHL auf. Immer mehr seiner Fonds setzten KI ein, verloren zwischenzeitlich aber auch Geld. Ihre Crashresistenz müssen die Maschinen erst noch beweisen. Denn das radikale Umsteuern von Boom auf Bust könnte ihnen schwerfallen, warnt Paul Skiba, oberster Risikomanager bei Berlin Portfolio Management. „Mit Veränderungen können KI-Modelle schlecht umgehen, weil das Gelernte so stark mit Daten unterfüttert ist.“ Viele KI-Verfahren basieren auf der Annahme, dass gleiche Eingaben immer zu den gleichen Ergebnissen führen. Ein selbstfahrendes Auto soll schließlich lernen, bei jedem Stoppschild zu halten. An der Börse seien die Zeichen aber uneindeutig, warnt Quant-Manager Bornemann: Meist steige der Dollar, wenn der Fed-Zins klettert. Falls nicht, wie derzeit, verwirrt das die Maschinen.
Computer ohne Anleitung Trotzdem gibt es Vermögensverwalter, die die Kontrolle schon vollständig an die Computer übergeben haben. Darunter ist auch ein deutscher Fonds, der bei der Auswertung neuer Daten berücksichtigt, was zuvor geschehen ist. Das Verfahren nennt sich Long Short-Term Memory Netzwerk (LSTM), die Fondsgesellschaft heißt Acatis. Für das Projekt Quantenstein hat sich Acatis mit Jürgen Schmidhuber zusammengetan, einem Pionier der KI-Forschung. Das Ergebnis: der Acatis AI Global Equities. Er soll selbstständig aus 4000 Aktien die 50 Kursraketen heraussuchen, die jährlich 3 Prozentpunkte mehr Rendite bringen als der Weltaktienindex.
Die Tests liefen erfolgreich. Im wahren Leben indes kam der Computer seit Juni 2017 nicht vom Fleck, während der MSCI World in Euro gerechnet 3,9 Prozent zulegte. „Bisher hinken wir unseren ambitionierten Zielen hinterher“, sagt Kevin Endler, Co-Geschäftsführer von Quantenstein.
Der umtriebige und allem Neuen gegenüber stets aufgeschlossene Acatis-Gründer Hendrik Leber (er investierte 2016 zur rechten Zeit in Bitcoin) beschäftigt in seinen Frankfurter Geschäftsräumen gleich hinter den Doppeltürmen der Deutschen Bank neben dem Mathematiker Endler auch den Wirtschaftsinformatiker Oliver Rolle und den Teilchenphysiker Eric Endress. Noch hat das QuantensteinTrio mit der schlechten Qualität der Finanzdaten zu kämpfen, wofür auch häufige Bilanzregeländerungen verantwortlich sind. Endler hofft, dass der lernende Algorithmus bald Texte analysieren kann und dann die Briefe der CEOs an die Anleger durchforstet.
„Als einzige Aussagen zu den Geschäftsaussichten stehen dem System bisher nur die Analystenschätzungen zur Verfügung – und wir wissen nicht, ob es sich die ansieht“, sagt Endler. Der „neue Kollege“, wie sie die künstliche Intelligenz hier nennen, ist ein schwieriger Fall.
Vielleicht verlangt das AcatisTeam einfach zu viel von dem unerfahrenen Kerlchen. „Es herrschen Illusionen darüber vor, was Computer ohne Anleitung leisten können“, warnt Two-Sigma-Stratege Duncombe. Der 35-Milliarden-Dollar-Fonds stellt trotz KI „immer mehr Leute ein, „weil sie die Systeme stärker machen“, mit denen die Quants immer mehr verdienen.
Auch für Igor Tulchinsky sind die lernenden Maschinen der wichtigste Renditehebel. Der Softwareingenieur ist Gründer und CEO von WorldQuant. Das Spinoffdes Hedgefondsschwergewichts Millennium Management verwaltet mehr als fünfMilliarden Dollar, Tendenz stark steigend. Wenn Tulchinsky auf Finanzgipfeln wie dem des Milken Institute in London auftritt – meist ganz in Schwarz, mit Stiefeletten, auf die Lou Reed stolz gewesen wäre, und Augenringen, die den Heroin-Chic abrunden —, schwärmt er von den Dutzenden neuen Angestellten, die mit KI-Hilfe innovative Strategien aushecken: „Früher erarbeiteten wir 100 Investmentsignale pro Jahr, heute sind es Millionen“, sagt Tulchinsky.
Ohne künstliche Intelligenz würden viele Strategien bei WorldQuant gar nicht mehr funktionieren, sagt Tulchinskys COO Michael DeAddio. „Aber es geht immer um Mensch plus Maschine.“ Der joviale Italoamerikaner, der wie sein Chef-Stiefeletten trägt, allerdings gern weinrote, ist so etwas wie das menschliche Übersetzungsprogramm von Tulchinsky. Das Projekt „Robotopia“, erzählt DeAddio, soll Prozesse automatisieren, die Menschen nicht besonders gut erledigen können. Damit will er seine 300 Researcher „zehnmal so effizient und wertvoll“ machen. Sollte das Experiment gelingen, würde es auch die Macht der Quants verzehnfachen.
Wie viel Rendite „der Rising Star unter den Quant-Fonds“ (Bloomberg) dank KI schafft, ist unbekannt. Der Rivale Aspect Capital aus London notierte 2017 mit 5 Prozent im Plus. Ein mittelmäßiges Jahr, seit 1998 schaffte Aspect im Schnitt 7,8 Prozent. Mitgründer Martin Lueck gilt als Pionier der Trendfolger, einer besonders erfolgreichen Quant-Strategie. Mit dem Spekulieren auf Trends an den Märkten fing Aspect an. Doch die Grundidee ist das Einzige, was seit dem Start vor 19 Jahren geblieben ist: „Alles andere haben wir weiterentwickelt“, sagt Aspect-CEO Anthony Todd, „sonst wären wir schon Iange nicht mehr im Geschäft.“ Der Physiker (Oxford) setzt auflernende Maschinen, um das Risiko einzudämmen, wenn verschiedene Anlageklassen in die gleiche Richtung laufen. Und um endlich auch auf kurzfristige Trends zu wetten.
An den schwer erklärbaren Mustern, die binnen eines Börsenhandelstags auftreten, sind viele Quant-Manager bislang gescheitert. Berühmte Ausnahme: der Medallion Fund von Renaissance Technologies (RenTec), der seit rund 30 Jahren 40 Prozent Rendite per annum mit Wetten auf Intra day-Muster einfährt. Dank Machine-Learning könnte das Geheimnis dieser Schatzkammer bald gelüftet werden.
Vorerst will Todd die Maschinen nur als Research-Assistenten einsetzen, selbst entscheiden sollen sie nicht. Das wäre ihm zu gefährlich: „Dann sitzt man auf einem Haufen Investments, ohne zu wissen, warum.“
Die größten Sorgen machen dem QuantVeteranen daher die Heerscharen von Investmentbankern, die ihren Kunden mitunter einfach eine Liste mit 1500 QuantStrategien vorlegen. Und im schlimmsten Fall ein KI-Modell dazu, das zu jeder Zeit die gerade passenden heraussuchen soll. „Das wird nicht funktionieren“, warnt Todd. Er befürchtet in den kommenden Jahren „sehr viele enttäuschte Anleger“. So wie nach dem Quant-Crash vom August 2007, als die Nerd-Abteilungen von Goldman Sachs und anderen Banken gigantische Summen verbrannten. Es stellte sich heraus, dass die Geldinstitute mit den Daten deutlich schlechter zurechtkamen als die Quant-Hedgefonds.
Intelligenzbausätze für Ahnungslose Während die Fonds KI vor allem im Research nutzen, bauen die Banker damit vermeintlich intelligente Anlageautomaten – bis heute. J. P. Morgan hat im Mai ein 280-Seiten-Handbuch „Big Data and AI Strategies“ herausgebracht. Die Lektüre weckt Sorgen, dass die „vierte industrielle Revolution“ Opfer fordern könnte. Denn viele KI-Anwender wissen offenbar nicht, was sie tun. Er habe Investmentmanager getroffen, die glaubten, sie hätten bereits eine effektive Handelsstrategie, nur weil sie über KI redeten, warnt J. P. Morgans Quant-Chef Marko Kolanovic.
„Man muss die Statistik verstehen“, mahnt David Hand, emeritierter Professor für Mathematik am Imperial College. Zu ihm kämen oft Menschen, die glaubten, eine überlegene Trading-Strategie entdeckt zu haben – aber nur einen statistischen Fehler begangen hatten.
„Machine Learning birgt auch ein großes Risiko: Es ist leicht, zu viel in die Daten hineinzuinterpretieren“, sagt TwoSigma-Chefanleger Duncombe. Algorithmen fielen oft auf trügerische Muster herein, „die nur entstehen, weil eine Zeit lang alle darauf wetten“. Diese Datenchimären würden immer stabiler, je mehr Trader aufspringen – um schließlich zu kollabieren und einen verheerenden Crash auszulösen.
Ein Gutes hätte ein solcher Meltdown: Er würde offenlegen, wer in der KI-Ära die überforderten Zauberlehrlinge sind. Und wer die Hexenmeister.