Essen. Normalerweise schreibt Martin Thesing keine Sitzungsprotokolle – dafür hat er seine Leute. Aber bei dem Meeting am 23. November 2017 in Mülheim handelte es sich um ein so explosives Thema, dass der Hauptgeschäftsführer für den internationalen Einkauf von Aldi Süd selbst zum Stift griff.
Auf sieben eng beschriebenen Seiten dokumentierte Thesing, was 16 hochrangige Manager von Aldi Süd und Nord bei ihrem fünfeinhalbstündigen Treffen in der Süd-Zentrale besprochen hatten: Die beiden Gesellschaften prüfen eine Zusammenlegung des Einkaufs und diverser anderer Abteilungen wie Logistik, Werbung, Qualitätswesen oder Corporate Responsibility.
„Perspektivisch sollte auch über weitere organisatorische Schritte der Kooperation nachgedacht werden“, notierte Thesing. Will heißen: Die beiden bislang rechtlich getrennten Discounter könnten zu einem Konzern verschmelzen.
Mit der Vereinigung entstünde der fünftgrößte Lebensmittelhänd1er der Welt. Gemeinsam erzielten die Aldis 2016 einen Umsatz von etwa 81 Milliarden Euro, die beiden Unternehmen beschäftigen rund 200 000 Mitarbeiter in den USA, Australien und Europa.
Ein Schreckensszenario für die Industrie: Die geballte Macht würde die Einkaufspreise weiter drücken. Und ein Alarmsignal für Rivalen wie Walmart oder Lidl: Wenn der Gigant die Kosten reduziert, kann er seine Waren noch billiger anbieten. Es drohen neue Preisschlachten.
Das Projekt „Kooperation Aldi Nord — Aldi Süd“ ist schon ziemlich weit gediehen: Im ersten Schritt werden alle Sortimente und Abläufe harmonisiert und synchronisiert. Die Anzahl der Eigenmarken soll verringert werden. Bereits 2018 so der Plan — wird für bestimmte Warengruppen festgelegt, ob sie der Süden oder der Norden beschafft. Phase zwei sieht dann „eine noch intensivere Zusammenarbeit“ im Einkaufvor, „bis hin zu einer gesellschaftsrechtlichen Verflechtung“.
Das Ziel der streng geheimen Operation liegt auf der Hand: Man baut Doppelstrukturen ab, reduziert den Abstimmungsaufwand und erfüllt damit das erste Gebot jedes Discountmanagers: Du sollst effizienter werden.
Mit der kartellrechtlichen Prüfung auf den internationalen Märkten sind die Kanzleien Gleiss Lutz sowie Schmidt, von der Osten, Huber beauftragt. Experten gehen davon aus, dass zumindest das deutsche Kartellamt keine Einwände erhebt, denn die Behörde betrachtet Aldi ohnehin schon als mehr oder minder eins: als sogenannten Gleichordnungskonzern, weil beide Gruppen derselben Sippe gehören.
Die Gründer Theo und Karl Albrecht hatten ihr Imperium 1961 aufgeteilt. Karl übernahm den Süden der Republik. Nördlich des Aldi-Äquators, der quer durch Nordrhein-Westfalen und Hessen verläuft, breitete sich Theo aus. Privat wie geschäftlich blieben die Brüder und ihre Familien aber stets verbunden.
Über strategische Themen verständigen sich die Spitzen von Süd (Norbert Podschlapp; 57) und Nord (Marc Heußinger; 51) im „Aldi Unternehmensausschuss“, der rund ein halbes Dutzend Mal pro Jahr tagt. Dort entscheiden sie etwa über die Expansionsziele im Ausland.
Im Alltagsgeschäft kommunizieren die Manager auf dem kleinen Dienstweg. Die Einkäufer tauschen sich regelmäßig über Lieferantenkonditionen aus, gleichen ihre Sortimente ab und legen identische Preise fest. Umsätze, Margen, Flächenproduktivitäten – hüben wie drüben kennt man die Stärken und Schwächen des anderen.
In den vergangenen Jahren sind die Schwestern immer näher zusammengerückt. Ob die Einführung von Backstationen oder die Einlistung von Markenartikeln — stets preschte der Süden vor und der Norden zog nach. Seit Aldi Nord das gesamte Filialnetz modernisiert, unterscheiden sich auch die Läden kaum noch voneinander.
Erstmals seit der Gründung startete der Doppelkonzern im Herbst 2016 sogar eine gemeinsame Imagekampagne. Mit dem Slogan „Aldi — einfach ist mehr“ versuchen die Handelsstrategen über TV-Kanäle, im Radio und in Kinos vornehmlich jüngere Leute für den Discounter » einzunehmen. Im Lichte der großen Kooperationspläne wirkt die Kampagne wie ein Probelauf. Demnächst soll das gesamte Marketing eng zusammenarbeiten. Beim Mediaeinkauf oder der Marktforschung sehen die Aldi-Manager erhebliche Möglichkeiten, besser und billiger zu werden.
Die Discountbosse machen ihrem Ruf, gründliche Planer zu sein, alle Ehre. Sie haben sich sogar schon für den Fall Gedanken gemacht, dass etwas über das gemeinsame Projekt nach außen dringt. Vorgesehen ist dann eine – natürlich einheitliche „Leakage-Strategie“.
Zudem wird ein internes Kommunikationskonzept erstellt. „Da es sich um elementare Veränderungen handelt“, so Aldi-Manager Thesing in seiner Niederschrift, „wird ein konkreter Integrationsfahrplan empfohlen.“
Die wenigen Beschäftigten, die bislang von dem Vorhaben wissen, sind alarmiert. Sie rechnen damit, dass Hunderte Arbeitsplätze verloren gehen – vornehmlich in den Zentralen.
Bevor die beiden Handelsketten allerdings auch gesellschaftsrechtlich in einem Konzern aufgehen können, sind hohe Hürden zu überwinden. Denn die Firmenreiche der Albrechts gehören diversen unterschiedlichen Stiftungen.
Tonangebend im Süden ist die Familie von Beate Heister, Tochter des verstorbenen Karl. In dieser Hemisphäre herrscht Einigkeit. Beates ältester Sohn Peter Max Heister führt den Stiftungsbeirat mit ruhiger Hand.
Theo Albrecht und seine Mutter Cilly dominieren die Stiftungen, die Aldi Nord besitzen. Der öffentlichkeitswirksame Streit mit Babette Albrecht und deren fünf Kindern ging bisher zugunsten Theos aus. Damit sind auch die Chancen für eine Fusion gestiegen. Wenn 80 Prozent der mindestens 25 Jahre alten Gründernachkommen einer Liquidierung zustimmen, könnten sie sich mit ihren Verwandten im Süden zusammenschließen.
Wie es tatsächlich weitergeht, wird sich am 8. März zeigen, wenn die Aldi-Granden wieder tagen — diesmal in der Essener Zentrale des Nord-Reichs. Thesing wird dann wohl ein letztes Mal dabei sein. Er wechselt im Mai in den Ruhestand.
Obwohl der Manager erst 55 Jahre alt ist, kommt die Personalie für Insider nicht überraschend. Da es künftig nur noch eine Einkaufsabteilung gibt, braucht Aldi keine zwei Chefeinkäufer mehr.