Berlin. Es geht nicht mehr um Menschen, es geht um eine Zahl. Es geht um die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, nicht um die Flüchtlinge. Die jüngste Zahl heißt 223 000. Das sind die Asylanträge, die im vergangenen Jahr gestellt wurden. 2016 waren es 746 000. Der Bundeskanzlerin passt die neue Zahl. Sie liegt nahe bei 220 000, also der Obergrenze, die es in das Sondierungspapier von Union und SPD geschafft hat.
Diese Zahl ist Ausdruck einer Politik, die nie deutlich angekündigt, nie erklärt wurde. Sie ist Ausdruck einer scharfen Kurve in der Flüchtlingspolitik, von den offenen Grenzen zur harschen Abwehr. Im Spätsommer 2015 verkündete Angela Merkel, wenn Deutschland in einer Notsituation nicht „ein freundliches Gesicht“ zeigen könne, „dann ist das nicht mein Land“. Sie hielt die Grenzen offen für Flüchtlinge, und der liberale Teil der Welt war begeistert von diesem humanitären Politikansatz.
Nun zeigt Deutschland ein grimmiges Gesicht, und die Bundeskanzlerin hat kein Land mehr. Das stört sie jedoch nicht. Sie sieht das alles inzwischen ohnehin ganz anders.
Merkel hat 2016 für die EU einen Deal mit der Türkei eingefädelt, der die Fluchtroute über die Ägäis weitgehend schließt. Sie hat sich von der CSU eine Obergrenze abhandeln lassen, die aber nicht so genannt werden darf. Künftig soll es auch für den Familiennachzug eines großen Teils der Schutzberechtigten eine Obergrenze geben, 1000 pro Monat. Das ist zu wenig.
Ausgerechnet der Familiennachzug wird begrenzt, von den Oberfamilienparteien CDU und CSU, obwohl allen klar sein muss, dass Männer die besten Chancen auf eine Integration haben, wenn sie hier mit ihren Familien zusammenleben. Aber das ist jetzt egal. Hauptsache, die Zahl liegt niedrig. Und die Spitze der SPD macht klaglos mit, auch das ist eine Enttäuschung.
Natürlich kann Deutschland nicht Jahr für Jahr 750 000 Asylsuchende aufnehmen, ohne die Gesellschaft zu überfordern. Aber warum legt die CSU die Obergrenze fest? Warum hat sich die Bundeskanzlerin auch in dieser Frage für eine Politik der Stille entschieden? Sie war schon Klimakanzlerin und hat sich dann klammheimlich von einer entschiedenen Klimapolitik verabschiedet, weil das nicht mehr in ihr Machtkalkül passte.
Das ist ihr Stil, und er ist schon lange eine Zumutung, da sich die liberale Demokratie vor allem dadurch auszeichnet, dass miteinander geredet wird. Diesmal ist es nicht nur eine Zumutung, sondern eine schwere Missachtung vieler Bürger.
Nicht nur Politiker haben die Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 getragen. Das waren auch viele, viele Bürger. Sie haben dem Staat, der nicht gut vorbereitet war, geholfen, haben Flüchtlinge willkommen geheißen, unterstützt, bei sich zu Hause aufgenommen. Sie waren Akteure der Politik, und viele sind es immer noch, weil sie dabei helfen, Flüchtlinge in diese Gesellschaft zu integrieren. Sie sind die Deutschen mit dem freundlichen Gesicht. Diese Bürger müssen nun sehen, dass Merkel aus Angst um ihre Macht Politik für die anderen macht, für die Grimmigen, für potenzielle Wäh1er der AfD, für die Freunde der ganz kleinen Zahl.
An deren Land baut Merkel gerade mit, für deren Sicht auf die Lage macht sie Politik. Natürlich gab und gibt es enorme Probleme mit Flüchtlingen. Aber es gibt auch eine hysterische Sicht darauf, die wenig mit der Realität zu tun hat. Silvester 2015/16 in Köln war fürchterlich, doch die Jahre danach haben bewiesen, dass man solche Probleme in den Griff bekommen kann. Jede Vergewaltigung ist eine zu viel, aber Recherchen des Transatlantic Journal haben gezeigt, dass interessierte Kreise dazu falsch informieren, um Flüchtlinge zu diffamieren.
Gerade der liberale Teil der Gesellschaft erwartet ein offenes Gespräch. Merkel hätte längst eine Rede halten müssen, zwei, drei Stunden lang, in der sie ihren Schwenk erklärt. Vielleicht hätte mancher Bürger ihre Argumente verstanden und wäre ihr gefolgt. Andere hätten immerhin sagen können: Die Kanzlerin nimmt uns ernst. Und vielleicht hätte die Debatte nach der Rede eine andere Zahl ergeben. Jetzt fühlt man sich geradezu beleidigt von diesem albernen Tanz um das Wort Obergrenze. Kindergarten.
Ein wichtiges Gespräch zu verweigern — das ist nicht liberale Demokratie, das ist Königtum. Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern — in dieser Floskel steckt eine herrische Attitüde, steckt die Arroganz der Macht. Das kommt fast zwangsläufig, wenn Leute zu lange im Amt sind.