London. Über eine Stunde redete Oliver Samwer Ende November in London auf seine Investoren ein. Er wollte erklären, wie es mit Rocket Internet weitergehen soll. Denn die Strategie der industriellen Start-up-Zucht, mit der Rocket beim Börsengang vor drei Jahren 1,4 Milliarden Euro einsammelte, ist gescheitert – und eine neue Richtung für den Kapitalmarkt nicht erkennbar. Samwer hinterließ den Eindruck, als habe er keinen Plan. Der Kurs brach in der Folge um 4 Prozent ein.
Ein echtes Misstrauensvotum. Schon vorher waren allein Rockets Cashreserven und die börsengehandelten Anteile am Lieferdienstkonglomerat Delivery Hero und dem Kochboxversender HelloFresh mehr wert als die Holding selbst. Das Restportfolio und der Rocket-Apparat wird vom Markt demnach als wertmindernd betrachtet. Eine Zerschlagung wäre normalerweise das probate Mittel.
In London versuchte Samwer die Strategiekrise kleinzureden. Die Holding wolle weiterhin Unternehmen ausbrüten, erklärte er – bloß etwas unregelmäßiger. In manchem Jahr könne das auch bedeuten: gar kein neues Start-up. Ansonsten verlor er sich in vagen Andeutungen.
Tatsächlich aber hat Samwer bereits eine recht konkrete Idee, wie es mit Rocket weitergehen soll. Nur widerspricht die seinem ursprünglichen Geschäftsmodell. Er will künftig mit reiferen Digitalfirmen Geld verdienen, als Finanzinvestor. Rocket mutiert also von der Bruthenne zur Heuschrecke.
Ein entsprechendes Team wird gerade aufgebaut, der Meister greift selbst zum Hörer, um die Branchengrößen abzutelefonieren. Noch fehlt ihm ein klangvoller Name für den Chefposten. Er soll etwa versucht haben, den Deutschland-Chefvon General Atlantic, Jörn Nikolay, und Johannes Grefe, Vice President von Summit Partners, zu gewinnen, vergeblich.
Auch potenzielle Dealgenossen werden schon umworben. Samwer dient Rocket etablierten Fonds als Juniorpartner an. Mit der schwedischen Branchengröße EQT sprechen die Berliner bereits über gemeinsame Investments. Interessieren soll sich Rocket zum Beispiel für den Minderheitsanteil an der Digitalsparte von ProSiebenSat.1 (Verivox, Parship), der gerade zum Verkauf steht. Dem Vernehmen nach soll ProSieben aber nicht an einem Einstieg von Rocket interessiert sein.
Samwers Hauptargument scheint nicht zu stechen. Er glaubt, dass sich mit der Digitalexpertise seiner Truppe höhere Werte heben lassen, als reine Finanzinvestoren es könnten.
Man benötige Rockets Kompetenz nicht beim Umbau der Digitalspafte, verlautet schroff aus München. Da könne von besonderen Fähigkeiten nun wirklich keine Rede mehr sein.
Die Zeiten, in denen bei Rocket die besten Digitalexperten der Republik unter Vertrag waren, sind tatsächlich passé. Die Wissensträger haben das Unternehmen längst verlassen. Der langjährige Technikchef Christian Hardenberg ging 2016, die wichtigsten Marketingexperten hatten sich vorher bereits abgesetzt.
Heute wirke Rocket seltsam aus der Zeit gefallen, sagt eine frühere Führungskraft. Während Deutschlands führende Internetunternehmen — von Zalando bis Delivery Hero – gerade alles tun, um ihre Techkompetenzen auszubauen, macht Samwer genau das Gegenteil: Er rasiert die Entwicklerstellen, um Kosten zu sparen.
Programmiereinheiten wie Sparks42 (rund 25 Leute) oder die Rocket Labs, den Kern der früheren IT-Abteilung, hat Rocket Anfang 2017 leise veräußert. „Oli hat nie verstanden, dass man ohne tiefe Techexpertise heute nichts mehr erreichen kann“, analysiert ein ehemaliger Manager. „Für ihn war das immer nur ein Kostenfaktor.“
Was Samwer dagegen sehr interessiert, sind neue Finanzkonstrukte wie seine Private-Equity-Abteilung und, ganz inkognito, eine Firma namens „Global Growth Capital“. Die Londoner Gründung soll mit Start-up-Schulden Geld verdienen. Auf der Website wird jeder Hinweis auf Rocket vermieden. Angeführt wird die Rocket-Tochter von Olya Klüppel, vormals Partnerin des Finanzinvestors ESO Capital. Einer Präsentation zufolge sollen Klüppel 500 Millionen Euro für das Geschäft mit Start-up-Schulden zur Verfügung stehen.
Modell für das Business steht Eran Davidson. Der Gründungsgeschäftsführer von Hasso Plattner Ventures hat das Geschäft, das bis dato vor allem US-Hedgefonds betrieben, vor zwei Jahren nach Berlin gebracht. Im Gegensatz zu klassischen Equity-Deals besteht der Reiz darin, dass reifere Unternehmen zur Liquiditätsbeschaffung keine Anteile mehr abgeben müssen, sondern einen hoch verzinsten Kredit aufnehmen. Oftmals die preisgünstigere Finanzierung. Davidsons Fonds soll damit nicht schlecht verdienen.
Samwers heimliche Kreditabteilung arbeitet mit Vertragstexten, die stark von Davidsons Fonds inspiriert sein sollen. Bei allen Strategieschwenks bleibt zumindest Copy-and-paste eine Rocket-Kernkompetenz — wie auch das Einwerben von Kapitalgebern.
Dafür macht Oliver Samwer notfalls sogar einen Kniefall. Zuletzt musste der Rocket-Boss in München zu einem Versöhnungstreffen bei den Strüngmann-Zwillingen antreten. Beide Seiten legten einen über zehn Jahre alten Konflikt bei: Die Strüngmanns, die mit dem Verkauf von Hexal zu Milliardären wurden, hatten den Samwers zehn Millionen Euro für ein Investment in den Facebook-Klon StudiVZ überwiesen. Eine Vorauszahlung, die Teil eines gemeinsamen Fonds werden sollte.
Doch die Verhandlungen darüber zogen sich. Samwer machte die StudiVZ-Anteile in der Zwischenzeit zu Geld und strich eine fette Rendite ein.
Den Pharmabrüdern gab er die Millionen einfach zurück. Sie schworen sich, nie mehr ein Geschäft mit ihm zu machen.
Nun haben sie sich mit dem geläuterten Samwer doch wieder arrangiert. Ende Oktober haben die Strüngmanns das Umzugs-Start-up Movinga mit 13 frischen Euro-Millionen vor dem Austrocknen bewahrt.
Mag dem Mann auch eine schlüssige Strategie fehlen — zu Geld kommt er irgendwie immer.