Bogotá. Er zeigt auf eine Bergkette, die im milchigen Mittagslicht am Horizont schimmert. Drei Tagesmärsche ist sie entfernt, durch schwer passierbaren Dschungel, doch nie, sagt Aristides, sei das Gold so nah gewesen wie heute. „Es ist ja Frieden. Die Suche nach den Schätzen kannjetzt richtig losgehen.“
Aristides, 45, war 29 Jahre lang Kämpfer der kolumbianischen Guerilla Farc (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) und dort zuständig für Logistik. Jetzt unternimmt er eine Expedition zu einem verwaisten Lager seiner Front. Er soll dort nach dem Rechten schauen, lautet der Auftrag seines Kommandanten, denn fremde Schatzjäger wurden gesichtet in der Region des Goldes.
„Wir müssen die Ordnung in unserem Gebiet aufrechterhalten“, sagt Aristides mit Nachdruck. „Wir müssen die Räuber raushalten.“ Es klingt seltsam aus dem Mund eines Rebellen, dessen Ziel es stets war, die Ordnung im Land zu zerstören.
Mehr als 50 Jahre lang stand die rohstoffreiche Region 200 Kilometer westlich von Kolumbiens zweitgrößter Stadt Medellin de facto unter Verwaltung der 34. Front der Farc. Der Staat hatte keinen Zutritt.
Jetzt, nach dem Friedensschluss mit der Regierung, wollen alle möglichen Gruppen eindringen in das lukrative, aber schwer zugängliche Gebiet, in dem es keine Autos, keine Straßen, nicht einmal Sandwege gibt. Drogenbanden sind darunter, Paramilitärs, Schatzsucher, auch Bergbauunternehmen. „Viele Illegale“, sagt verächtlich Aristides, der selbst 20 Jahre lang auf der Fahndungsliste des Staates stand.
Es ist drückend heiß auf dem Weg vom Tiefland in die Berge, an der Grenze zwischen den Departamentos Choco und Antioquia. Aristides, ein langer, sehniger Mann mit markanten Narben aus drei Jahrzehnten Krieg, trägt ein blaues Polohemd und eine beige Freizeithose – Kleidung, an die er sich noch gewöhnen muss. 29 Jahre lang hat er nur Uniformen und Waffen getragen, 29 Jahre lang ist er fast täglich durch diesen Dschungel marschiert, der ihm Typhus, Malaria, Diphtherie eingebracht hat — aber auch einen Daseinssinn.
„Ich hatte mich an das Leben des Kriegers gewöhnt. Jetzt, im Frieden, muss ich etwas Neues finden.“
Aristides steht mit seinen 45 Jahren wie viele seiner Guerilleros vor einer Umschulung. Vom Waldkrieger zu etwas anderem was es sein wird, weiß er noch nicht. Aristides hat nie Geld besessen und nie welches gebraucht, die Farc versorgten ihre Kämpfer mit drei Mahlzeiten am Tag, mit Uniformen, Waffen, Feldbetten. Er hat vier Kinder von zwei Frauen und muss zusehen, wie er sie jetzt ernähren wird.
„Gold ist eine Option, und nicht die schlechteste“, sagt er. „Ich weiß, wo es liegt. Ich könnte die Investoren hinführen.“ Was er nicht sagt: Die Farc haben jahrzehntelang selber illegal Gold geschürft. Jetzt will der Staat endlich die Kontrolle übernehmen. Es geht hier nicht nur um Aristides‘ wirtschaftlichen Neu anfang, sondern um den einer Armee, einer Region, eines Landes.
Geschmeidig, fast lautlos bewegt sich Aristides durch den Dschungel. Wie ein Park-Ranger nimmt er jedes Geräusch wahr, kennt jede Tierart, Giftspinnen, Schlangen, Skorpione. „Sehen Sie das?“, fragt er, als er die Abdrücke von Gummistiefeln im Waldboden entdeckt. „Das könnten fremde Goldplünderer sein.“ Etwa drei Tage alt seien die Spuren. „Hören Sie das?“, fragt er eine halbe Stunde später, als er ein Brummen vernimmt. „Das sind örtliche Goldschürfer.“
Am reißenden Fluss Arquia steht in einer Bucht ein gelber Bagger im Wasser, darin ein junger Mann mit Baseballkappe, der das Flussbett umgräbt. Aristides nähert sich ihm.
„Gold gefunden?“, ruft er.
Jeden Tag.
„Fremde Eindringlinge gesehen? Goldplünderer?“
„Nichts.“
„Verkleidet als Bauern vielleicht, mit Sensen?“
„Nichts.“
Der Junge sei aus dem Dorf, erklärt Aristides. „Die wollen ihren Anteil am Goldrausch. Sie machen Kleinstbergbau.“
Haben die eine Lizenz?
„Wir waren als Farc immer die Beschützer des kleinen Mannes“, antwortet Aristides ausweichend.
Bald wird klar, dass die Farc in der Region noch immer das Sagen haben. Der Staat wird hier so schnell nicht die Kontrolle übernehmen.
Die Goldschürfer am Rio Arquia sind die Vorboten des zu erwartenden Rohstoffbooms nach 53 Jahren Krieg, dem längsten Südamerikas. Die Öffnung der bisherigen Konfliktgebiete war ein Hauptmotiv für den mühsam ausgehandelten Friedensvertrag. Der Krieg hat nicht nur mehr als 200 000 Menschenleben gekostet, sondern auch Hunderte Milliarden Dollar an Wirtschaftsschäden. Nun könnte das bessere Investitionsklima dem Land ein zusätzliches Wachstum von jährlich 1,5 Prozent bescheren, so hat es Präsident Juan Manuel Santos verkündet.
Schon in den vergangenen Jahren war Kolumbien eine Erfolgsgeschichte. Das Wachstum lag bei durchschnittlich vier Prozent, während Venezuela und Brasilien, die anderen Großen der Region, in eine tiefe Krise gerieten. Das lag vor allem an Kolumbiens Freihandelsabkommen und der Diversifizierung der Wirtschaft. Nun setzen sie auf einen weiteren Faktor: den Frieden. Alberto Ramos, Goldman Sachs‘ Chefanalyst für Lateinamerika, sieht gleich drei große Chancen: die Entwicklung des fruchtbaren Agrarlands, die Verbesserung der Transportwege in bisher unpassierbaren Kriegsgebieten sowie die Umverteilung von Militärausgaben in Jobprogramme. „Die Implementierung des Friedensvertrags wird teuer, aber es gibt einen nicht quantifizierbaren Vorteil: ein friedliChes Land. Der wirtschaftliche Nutzen kommt dann mit der Zeit.“
Die Provinzen Choco und Antioquia gehören zu den attraktivsten. Sie liegen zwischen Pazifik und Anden in einer der regenreichsten Gegenden der Welt und verfügen über große Rohstoffreserven.
„Gold Country“, sagt Aristides‘ Vorgesetzter Benkos Bioho in der Sprache des alten Feindes USA. Bioho ist Kommandant der Farc. Genauer: ehemaliger Kommandant. Noch immer heißen die Farc zwar Farc, aber seit September sind sie eine politische Partei, die „Alternative Revolutionäre Kraft des Volkes“. Bioho empfängt im Übergangscamp der Rebellen vor einer Reihe weißer Wohncontainer, die die Vereinten Nationen hier installiert haben, mit fließendem Wasser und Strom.
Noch leben die 300 ehemaligen Kämpfer der Frente 34 zusammen in diesem Containerdorf am Rio Arquia. Aber Bioho ist nicht mehr ihr marxistischer Chefagitator, sondern auf einmal ihr Wirtschaftsexperte. Er hat einen Schnellkurs in Ökonomie absolviert und solljetzt die laut Friedensvertrag zugesicherte Umschulung der 7 000 Rebellen regeln, von denen viele Analphabeten sind. Bioho schickt Leute wie Aristides auf Kontrollgänge ins Goldgebiet.
„Das Atrato-Tal ist voller Bodenschätze“, sagt er und zeigt Richtung Westen über eine Region, die bis zum Horizont nur aus Dschungel besteht. „Das Gebiet mit dem größten Potenzial Amerikas“, schwärmt er. „Uran, Kupfer, Nickel und natürlich Gold. Und 200 Kilometer dahin ter: der Pazifik. China, China, China. Hungrig nach Bodenschätzen.“
Er reibt Daumen und Zeigefinger aneinander, als könne er die Millionen schon zählen.
Wollen Sie die Schätze selber abbauen?
„Möglich. Aber natürlich mit Lizenz. Oder die Bergbauunternehmen könnten unsere Expertise nutzen. Und unsere Arbeiter, die große Strapazen gewohnt sind. Und unsere Scharfschützen, die wissen, wie man Wache schiebt.“
Sie meinen die Unternehmen, die die Farc bisher bekämpft haben?
Biohos Blick wird argwöhnisch. Zur Thermohose trägt er ein langärmeliges T-Shirt, sein Kopf ist frisch geschoren, seine Stimme laut, bellend. „Es ist genug Gold für alle da. Wir Revolutionäre wollen nur sicherstellen, dass auch die kleinen Leute profitieren. Nicht nur multinationale Konzerne.“
Er hält einen langen Vortrag über die Schattenseiten des Kapitalismus und die Vorzüge des Marxismus. Je länger er spricht, desto klarer wird, dass die Konzerne es hier weiterhin schwer haben werden.
Schon auf dem Weg in das Camp, der über diverse Flüsse führt, sind überall Anzeichen für den einsetzenden Rohstoffboom erkennbar. Auf dem Rio Atrato verkehren Schaufelbagger, die den Boden unter Einsatz von Quecksilber umgraben und den Fluss verseuchen. Man sieht Familien, die mit Händen und Sieben Gold schürfen, vor allem in den bislang kaum erkundeten Seitenflüssen Rio Berberå und Rio Arquia.
Die Gegend ist noch aus einem anderen Grund beliebt: Sie gilt als Schmuggelparadies. Über den Atrato wird vielerlei Richtung Panama und weiter nach Nordamerika transportiert: Drogen, Flüchtlinge, Gold. Die nächste Asphaltstraße ist 60 Kilometer entfernt. Die Kontrolle in dieser Gegend haben Paramilitärs, Drogenkartelle und die immer noch kämpfende Guerilla ELN. Auch mit ihr will die Regierung nun einen Friedensvertrag schließen.
Das bisherige Geschäftsmodell der Farc schildert Bioho freimütig: „Es gab in unseren Territorien immer schon Leute, die Bergbau betrieben. Denen haben wir Wegzoll und Schutzgelder abgeknöpft. Das Gleiche machten wir mit Drogenkartellen. Mit den Einnahmen haben wir Waffen gekauft und den Revolutionskampf finanziert.“
Wie hoch die Einnahmen seiner Front waren, verrät Bioho nicht, aber mehrere Millionen Euro pro Jahr müssen es gewesen sein. Was er nicht sagt: Die Guerilla war längst selbst in den illegalen Bergbau eingestiegen, weil er noch attraktiver war als der Drogenhandel. „Auch Sie wären für uns interessant geweSen“, sagt Bioho grinsend. „Ein Gringo lässt sich als Entführungsopfer verkaufen.“ Jahrzehntelang verfolgten die Farc ihre marxistischen Ziele mit kriminellen Methoden. Dass sie nun lammfromm werden, erwartet niemand.
Wie sieht jetzt das Geschäftsmodell für seine 300 Leute aus?
„Die können alles“, sagt Bioho. „Wir wollen sie von Schutzgelderpressung und illegalem Bergbau abhalten, aber dafür brauchen sie eine Perspektive. Die Regierung beliefert uns kaum noch mit Essen und hat keine Schule errichtet, wie es vereinbart war. Sie lässt uns im Stich. Bald haben wir keine Wahl mehr.“
Kolumbien verkauft sich gern als Land der Bodenschätze, doch die Konflikte der vergangenen Jahrzehnte haben viele Investoren abgeschreckt. Nun, im ersten Halbjahr 2017, ist der Export von Gold um 90 Prozent gestiegen, ähnlich wie bei Nickel, Kupfer, Kohle, Coltan, Wolfram. „Die Steigerungen sind viel höher als in den Vorjahren“, sagt Santiago Angel Urdinola, Präsident des Bergbauverbands. „Das liegt an den gestiegenen Rohstoffpreisen, aber auch der angekurbelten Produktion.“ Urdinola erwähnt nicht, dass 90 Prozent des Goldes – etwa 57 Tonnen – illegal gefördert werden. Und dass der Staat bisher wenig gegen die kriminellen Organisationen unternommen hat, die das Gold abbauen und verkaufen. In acht der 32 Provinzen Kolumbiens, darunter Choco und Antioquia, ist illegaler Goldhandel heute die Haupteinnahmequelle der Verbrechersyndikate — und hat damit den Kokainhandel abgelöst. Im Friedensvertrag wurde das Themajedoch außen vor gelassen.
Kolumbiens größter Goldproduzent, das Unternehmen Mineros S.A., hat seinen Sitz in einem Büroturm in der Wirtschaftsmetropole Medellin, die Anfang der 90er-Jahre die gefährlichste Stadt der Welt war. Sie befand sich in den Händen des Kokainkönigs Pablo Escobar und war gleichzeitig Schauplatz der Kriege zwischen Sicherheitskräften und Rebellengruppen. Heute gilt Medellin als Erfolgsgeschichte, dank eines neuen urbanen Konzepts und einer starken, innovativen Industrie.
„In den Gebieten unserer Minen geht die Angst schon spürbar zurück“, sagt Jaime Jaramillo, einer der Direktoren des Unternehmens. „Wir operieren in einer sehr gefährlichen Region in Antioquia. Früher verübten die Farc einmal im Monat Anschläge auf unsere Anlagen. Das ist vorbei. Aber kriminelle Banden und Drogenkartelle sind immer noch aktiv, und die Guerilla ELN geht vor allem gegen multinationale Unternehmen vor.“
Jaramillo zeigt auf einer Karte die Lage der schier unendlichen Rohstoffvorkommen. „Die Zukunft könnte rosig sein“, sagt er. „Die Goldvorkommen sind enorm, wir haben seit der Kolonialisierung vor 500 Jahren noch nicht einmal die Hälfte abgebaut. Aber die kolumbianische Bürokratie erstickt vieles im Keim, und viele Rechtsfragen sind nicht geklärt. Ein Bergwerkunternehmen will einen Deal machen — und plötzlich tauchen fünf angebliche Landbesitzer auf, keiner im Grundbuch eingetragen. Anders als in Peru, Chile oder Nicaragua hat Kolumbien die Landfrage noch immer nicht gelöst.“
Mineros S.A. gilt als vorbildliches Unternehmen, es setzt auf umweltfreundlichen und sozial nachhaltigen Bergbau. Es hat alle internationalen Gütesiegel, baut Schulen, ein Energienetz. „Anders kann man heute auch nicht wirtschaften, weil Europäer alles genau wissen wollen: Wo kommt das Gold her? Wie wurde es abgebaut? Gibt es Umweltschäden? Werden Arbeiter aus-
gebeutet? Man braucht alle Siegel, und wir machen das im Gegensatz zu einigen anderen gern.“ Es ist Jaramillos subtiler Rat an die Multinationalen aus Australien, Brasilien, Kanada, die sich jetzt auf das Land stürzen.
Dennoch hat Mineros S.A. in den ersten Monaten des Friedens festgestellt, dass die Arbeit nicht leichter wird. „Die Atmosphäre ist polarisiert, und die marxistischen Rebellen sind nicht hilfreich. In den Dorfversammlungen stacheln sie die Bürger auf: Wollt ihr Gold – oder sauberes Wasser? Wollt ihr Gold — oder Leben? In einem solchen Klima haben wir keine Chance.“
Aristides könnte sich eine Rolle als Moderator in diesem Konflikt vorstellen. Er will in die Provinz ziehen und als politischer Vertreter der Farc zwischen der Industrie und den kleinen Leuten vermitteln.
Nach drei Tagen auf der Suche nach den Plünderern kehrt er ohne Erfolg zurück ins Übergangscamp. Noch ein paar Tage, dann wird er das Lager nach 29 Jahren hinter sich lassen, es wird der erste Schritt in die neue Freiheit sein. Was kann er nach all diesen Kriegerjahren in der Guerilla? Schießen. Erpressen. Rauben. Aber auch Kochen. Bäume fällen. Hütten bauen. Schlangen fangen. Nähen. Heilen. Aristides ist — beruflich gesprochen — ein Alleskönner. Und er hat Disziplin. „Ja, Compafiero“, sagt er. „Nein, Kommandant. Wird erledigt, Genosse.“ Manchmal klingt er wie ein Roboter.
Er weiß, dass eine Entscheidung vor ihm liegt.
Entweder das Goldbusiness. Schürfen, Expertise im Dschungel, Geleitschutz, Abenteuer, Reichtum — und Gefahr.
Oder Landwirtschaft. Eine kleine Parzelle, ein paar Hühner, Yukka, Bananen, Kokospalmen, nebenbei ein bisschen politische Arbeit.
„Ich glaube, ich werde Bauer“, sagt Aristides.