München. Im Sommer vor zehn Jahren ging ein Aufschrei durchs Land: Die Abgeltungsteuer kommt! Der Bundesrat hatte im Zuge der Unternehmenssteuerreform dafür gestimmt, künftig alle privaten Kapitalerträge — Zinsen, Dividenden, Kursgewinne — pauschal mit 25 Prozent zu besteuern, zuzüglich Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer. Regierungspolitiker priesen diesen Schritt als sinnvoll und fair. „Für viele Anleger wird die Abgeltungsteuer zu einer günstigeren Besteuerung führen“ erklärte Jörg-Otto Spiller, damals finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, direkt in der ersten procontraAusgabe 2007. Vermögensprofis gingen indes vom Gegenteil aus. Sie warnten vor Steuernachteilen und rieten, vor Inkrafttreten der Pauschalabgabe zum 1. Januar 2009 das Depot noch schnell mit langfristig attraktiven Wertpapieren zu füllen.
Der Streit rund um die Einführung der Abgeltungsteuer erwies sich als Menetekel. Sollte die Bundesregierung gehofft haben, dass sich die Gemüter beruhigen, irrte sie: Seit fast einer Dekade wird in Deutschland über die Vor- und Nachteile der Pauschalsteuer gegenüber der Besteuerung von Kapitalerträgen mit individuellem Steuersatz debattiert. Das Knifflige: Beide Seiten haben teilweise recht. Während die Abgeltungsteuer vielen Sparern zugutekommt, ist sie für Aktionäre eher ungünstig.
Man kann es als Ironie der Geschichte betrachten, dass Kritiker und Befürworter inzwischen die Seiten getauscht haben. Viele Investoren-Organisationen und Vermögensexperten betonen inzwischen die Vorzüge der Pauschalabgabe. Politiker denken dagegen darüber nach, sie wieder abzuschaffen. „25 Prozent von x sind besser als 42 Prozent von nix“, hatte der damalige SPD-Finanzminister Peer Steinbrück vor zehn Jahren getönt und damit die Abgeltungsteuer als Instrument gegen Steuerflucht bewerben wollen. Bei seinem Nachfolger Wolfgang Schäuble (CDU) klang das deutlich anders. Er sei nie ein Freund der Pauschalabgabe gewesen, erklärte er in den vergangenen Jahren ein ums andere Mal.
Anleger und Berater fragten sich zuletzt immer wieder: Will er oder will er nicht? Mal gab Schäuble an, die Abgeltungsteuer lieber heute als morgen abschaffen und durch die alte Regelung ersetzen zu wollen. Das Argument des Steuerflucht-Schutzes fällt inzwischen jedenfalls weg: Steuerbehörden tauschen seit Herbst 2017 auf internationaler Ebene Informationen aus, Steuersünder haben es seitdem deutlich schwerer. Gleichwohl hatte Schäuble zwischenzeitlich durchblicken lassen, er wolle die Steuer zumindest in Teilen dann doch beibehalten. Zuletzt hieß es aus dem Bundesfinanzministerium gar, sie solle komplett in Kraft bleiben — jedenfalls vorerst.
Durch die Bundestagswahl im September ist nun abermals Bewegung in den alten Streit gekommen, nicht nur weil es einen neuen Bundesfinanzminister geben wird. Union und Grüne wollen die Abgeltungsteuer am liebsten so schnell wie möglich loswerden. Die FDP ist dagegen: Sie befürchtet eine höhere Steuerbelastung für Sparer, wenn der Fiskus Kapitalanleger wieder nach persönlichem Steuersatz zur Kasse bittet. Man könne allerdings darüber reden, die Steuer unter Auflagen abzuschaffen, erklärte der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner kurz vor der Wahl. Er schlug unter anderem vor, den Sparerfreibetrag deutlich zu erhöhen.
Es sieht ganz danach aus, als könnte das Thema Abgeltungsteuer Anleger und Berater noch eine weitere Dekade lang beschäftigen.